Am 13. Februar findet in Dresden
alljährlich ein Ritual statt. Deutsche aller Couleur versammeln
sich, um ihren ehemaligen Kameraden und Kameradinnen, ihren
Vätern und Müttern bzw. ihren Großvätern und Großmüttern zu
gedenken, die bei den Luftangriffen am 13.02.1945 ums Leben
kamen. Würde es sich lediglich um individuelle Trauer für
verstorbene Angehörige bzw. Freunde handeln und würde der
Kontext der notwendigen Luftangriffe mitgedacht und mitgenannt
werden, wäre dagegen wohl nicht allzu viel einzuwenden. Doch mit
individueller Trauer geben sich die DresdnerInnen nicht ab und
mit dem Kontext der alliierten Luftangriffe wollen sie sich
gleich gar nicht beschäftigen. Wenn die DresdnerInnen an den
13.Februar 1945 denken, kommt das arische Blut in Wallung und
ihnen Begriffe wie „alliierter Bombenterror“ oder „Luftgangster
Arthur T. Harris“ in den Sinn. Jährlich wird zum Jahrestag der
Bombardierungen ein Stück weiter am nationalen Mythos gestrickt,
nachdem die alliierten Streitkräfte angeblich „unnötige
Verbrechen“ begangen hätten. Am 13. Februar geht es den
DresdnerInnen – und mit ihnen den meisten Deutschen – nicht um
individuelle Trauer, sondern einzig und allein um eine
kollektive Opferidentität. Sie verwenden die Bombardierung
Dresdens als Symbol für alliierte „Schuld“ und setzen damit die
Befreier in Bezug zu den singulären Verbrechen der deutschen
NationalsozialistInnen, die bis dato nicht nur einen
Vernichtungskrieg angezettelt hatten, an dessen Ende über 50
Millionen Tote standen, sondern auch das gesamte europäische
Judentum vernichten wollten. Über 6 Millionen Jüdinnen und Juden
fielen dem antisemitischen Wahn der Deutschen binnen kürzester
Zeit zum Opfer.
Doch die DresdnerInnen denken am 13. Februar weder an die Opfer
der Shoa noch an den Segen der Befreiung vom deutschen
Faschismus, sondern sie empfinden – und hier gelang vielen
Städten über das Buch von Jörg Friedrich der Anschluss an den
Dresdner und Hamburger Mythos – die alliierten Bombardierungen
während des 2. Weltkrieges als „größte Katastrophe der
Stadtgeschichte“ (so u.a. in dem Buch „Leipzig brennt“, welches
sich mit den Bombardierungen Leipzigs beschäftigt).
Um die singuläre deutschen Schuld zu relativieren, werden zum
einen die Opferzahlen der Bombardierungen deutscher Städte
überhöht (teilweise tauchen in Bezug auf Dresden Opferzahlen
auf, wonach sich fast mehr Tote nach der Bombardierung als
Einwohner vorher halluziniert werden) und zum anderen darf kein
Wort über die Gründe der Luftangriffe auf deutsche Städte durch
die alliierte Streitkräfte verloren werden. Damit wären die
Deutschen nämlich unweigerlich vor die Frage gestellt, ob sie
ernsthaft geglaubt hatten, dass sie 6 Millionen Juden und
Jüdinnen ermorden und im Osten einen barbarischen
Vernichtungskrieg führen können, ohne dass sie mit Konsequenzen
zu rechnen haben. Die alliierten Bomber haben den DresdnerInnen
am 13. Februar 1945 die banale Konsequenz vor Augen geführt,
dass der „totale Krieg“ (Goebbels) der Deutschen eine Antwort
der Angegriffenen zur Folge hat. Warum hat das heute so
verdammte „moral bombing“ nur bei den Deutschen keine Wirkung
gezeigt? Warum haben die Deutschen „bis zum letzten
Blutstropfen“ gekämpft, obwohl der Ausgang des Krieges schon
lange vor dem 13.02.1945 besiegelt war?
Weil sie fanatische Träger der nationalsozialistischen Ideologie
waren und in dem Vernichtungs- und Rassenkrieg „rationale
Argumente“ hinter dem ideologischen Eifer zurückstehen mussten,
schließlich ging es den Deutschen um nicht weniger als die
„Befreiung der Welt vom Judentum und vom Bolschewismus“. Dass
dem Mord an den Juden, „Zigeunern“, Kommunisten und den anderen
Opfern des Rassenkrieges unter anderem durch die Bomberangriffe
auf deutsche Städte ein Ende gemacht wurde, ist für uns ein
Segen. Auch, weil es einigen wenigen Opfern des antisemitischen
Vernichtungswahns das Leben gerettet hat (gerade in Dresden
sollte bekannt sein, dass z.B. Victor Klemperer durch das
Zusammenbrechen der nationalsozialistischen Infrastruktur
infolge der Angriffe vom 13.02.1945 überleben konnte).
Aber vor allem, weil dadurch die schnellstmögliche Beendigung
des Krieges erreicht werden konnte. Wir finden es zynisch, wenn
den alliierten Streitkräften vorgeworfen wird, dass sie sich
nicht auf den Schlachtfeldern aufgerieben haben, sondern
stattdessen mit Mitteln reagiert haben, die die Deutschen schon
vor dem 2. Weltkrieg angewendet haben (Guernica). Kein Pilot
wäre das persönliche (und nicht geringe) Risiko eingegangen,
über Feindesland abgeschossen zu werden, wenn die Deutschen
nicht unbedingt bis zum letzten Mann hätten kämpfen wollen. |
Für die Deutschen dagegen ist die
Bombardierung deutscher Städte das so ziemlich schlimmste, was
in einem Krieg, in dem immerhin über 50 Millionen Menschen
starben, passieren konnte. Wo ist dann allerdings die
alljährliche Empörung über die Bombardierung von Guernica,
Warschau, Rotterdam und Coventry? Oder über die Bombardierung
Serbiens vor nicht einmal fünf Jahren, als die deutsche
Luftwaffe ihren ersten Kampfeinsatz nach dem 2. Weltkrieg
ausgerechnet gegen ein Land flog, dass bereits im 2. Weltkrieg
von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde?
Es ist also keine Unterstellung, hier andere Interessen als die
reale Anteilnahme an dem Schicksal der betroffenen Opfer dieser
Bombennacht zu vermuten. Vielmehr steht die Diskussion um den
Bombenkrieg in einem Kontext deutscher Identitätsbildung, die
der nicht mehr zu leugnenden deutschen Schuld eine Erfahrung
deutschen Leids zur Seite stellen will und damit die
Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Erinnerungen der
TäterInnen und der Opfer des deutschen Faschismus negiert.
Übrig bleiben soll eine – am besten deutsch-europäische –
Geschichtserfahrung, die von einem Jahrhundert der Grausamkeiten
ausgeht und damit die Singularität der deutschen Verbrechen
relativiert. So ist es kein Zufall, dass die Debatte um den
alliierten Bombenkrieg zusammenfällt mit den revanchistischen
Forderungen der Vertriebenenverbände, die ein Zentrum gegen
Vertreibung in Berlin errichten wollen und die das politische
und wirtschaftliche Gewicht Deutschlands innerhalb der EU zur
Erpressung der Opfer des deutschen Überfalls auf Polen und der
Annexion der Tschechoslowakei einsetzen wollen, um eine
Verurteilung der Benes- und Beirut-Dekrete zu erreichen, als
wären nicht die Henlein-Nazis durch ihren Terror selbst für ihre
Ausweisung verantwortlich.
Die Bombardierung Dresdens (und Hamburgs) war für den deutschen
Opfermythos schon immer von besonderer Bedeutung. Während die
anderen Städte erst jetzt – nachdem die Sieger, denen man als
sie noch vor der Tür standen 40 Jahre Läuterung geheuchelt hat,
aus den Städten abgezogen sind – in größerem Stil ihre eigenen
Bombardierungen auswälzen und anprangern, gab es die
Gedenkveranstaltungen für Dresden schon ab 1946. Zu Zeiten des
Kalten Krieges wurden diese vornehmlich gegen die Westalliierten
instrumentalisiert. Seit der Wiederbelebung der Veranstaltungen
durch die DDR-Opposition 1982 und vor allem seit der
Wiedervereinigung 1989 erlebten diese jedoch eine neue Qualität.
Galt die Teilung Deutschland auch als sichtbares Symbol der
deutschen Schuld, wurde das deutsche Selbstbewusstsein durch den
Fall der Berliner Mauer beflügelt. Die „Berliner Republik“ hat
zwischenzeitlich mit ihrer Vergangenheit aufgeräumt. Nach der
kathartischen Wirkung der Wehrmachtsausstellung – welche zuerst
die Verbrechen der „normalen“ deutschen Wehrmachtsangehörigen
thematisierte, um sie danach in allgemeine Grausamkeiten, die
der Krieg so mit sich bringt, einzuebnen – wurden den ehemaligen
Zwangsarbeitern bzw. deren Nachkommen ein Handgeld in selbige
gedrückt. Nebenbei absolvierte die Bundeswehr ihren ersten
Kampfeinsatz nach der deutschen Niederlage 1945, wobei aus dem
„Nie mehr Krieg“ ein „Nie mehr Krieg ohne unsere Interessen“
wurde.
Der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee schreibt im
Geleit zum Buch „Leipzig brennt“, dass „wer die Haltung der
Deutschen zum Irakkrieg verstehen will, … auch um ihre
Erfahrungen im Bombenkrieg und mehr noch in den zerstörten
Städten der Nachkriegszeit wissen [muss]“, ohne dabei die
Bombardierung Serbiens 1999 durch deutsche Kampfflieger auch nur
zu erwähnen. Galt es damals angebliche, in Wirklichkeit jedoch
nie vorhandene „KZs im Kosovo“ zu verhindern, sollte nun im Irak
– nur weil die USA entgegen deutscher Wirtschaftsinteressen im
nahen Osten einen grausamen Despoten entmachten wollten – die
deutsch-europäische Leiderfahrung lehren, dass Krieg generell
nur die äußerste Ultima Ratio sein dürfe, nur um ein paar Monate
später selbst wieder Kampftruppen in den nächsten Einsatz nach
Kongo zu schicken.
Hinter dieser selektiven Wahrnehmung wird der kollektive Wunsch
nach „Normalisierung“ nur allzu deutlich. Die Deutschen wollen
sich als Opfergemeinschaft und als geläuterte deutsche Nation
fühlen können, ohne dabei noch von der eigenen singulären Schuld
sprechen zu müssen. |