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Der erste September, Jahrestag des Überfalls auf Polen
und der Beginn des zweiten von Deutschland ausgegangenen
Weltkrieges, markiert den Ausgangspunkt der aggressivsten
Phase deutscher Großmachtpolitik. Während des
beispiellosen Zivilisationsbruches durch die deutschen
Projekte der Judenvernichtung und des Rassenkrieges
verloren etwa sechzig Millionen Menschen ihr Leben. Diese
von den Deutschen begangenen Verbrechen hätten das
nationale Projekt Deutschland für immer delegitimieren
müssen. Doch ganz im Gegenteil hat die deutsche Nation
seit der Wiedervereinigung, die dem Nationalgefühl neuen
Aufwind gab, zu ihren Großmachtambitionen
zurückgefunden. Seit 1989 ist die militärische Option
auf Grundlage eines eigenen politischen Projektes und dies
in jüngster Vergangenheit sogar in Abgrenzung zu den USA
wieder denkbar geworden. Den Gedanken sind heute längst
Taten gefolgt.
Die nationale Selbstfindung ging einher mit rassistischen
Pogromen und einer rassistischen Ausgrenzungspolitik, die
in der Abschaffung des Asylrechts gipfelte. Der
modernisierte Rassismus der Sozialdemokraten an der Macht,
an denen der Geist von `68 durchaus Spuren hinterlassen
hat, unterscheidet sich vom alten völkischen Rassismus
vor allem in seinen Ausprägungen. Ein Bruch mit der
rassistischen Abschiebepraxis und Ausgrenzungspolitik oder
dem deutschen Nationalismus hat jedoch niemals
stattgefunden. Vielmehr markierten die Lichterketten der
Zivilgesellschaft „für das bessere Deutschland“ den
Beginn einer neuen Epoche des nationalen Projektes zur
Wiedererlangung politischer Geltung auf Weltniveau. Dieses
anzugreifen sollte wichtiges und dringliches Projekt der
radikalen Linken sein und damit unseres.
Die Revision der Erinnerung
Das deutsche Verbrechen der Vernichtung der europäischen
Jüdinnen und Juden wird für deutsche Interessen
instrumentalisiert. Wie diese Verbrechen indirekt als
Legitimation für den ersten Krieg Deutschlands nach 1945
gegen Jugoslawien dienten, so streben heute intellektuelle
Vorreiter der deutschen Zivilgesellschaft wie Habermas
nach einer Transformation von Auschwitz in eine gemeinsame
„europäische Erfahrung“ – ganz im Sinne deutscher
Europastrategien. Die Shoa selbst muss dafür herhalten,
den Amerikanern vorzuwerfen, die Lehre aus der Geschichte
nicht verstanden und die Niederschlagung des
Nationalsozialismus nur unbewusst vollzogen zu haben. Die
Deutschen hingegen halten sich nach Reeducation und
Geschichtsaufarbeitung heute geradezu dafür
prädestiniert, ähnliche Verbrechen überall zu erkennen
und zu verhindern. Eine Lehre, die - gerade wegen der
eigenen Geschichte - Deutschland heute zu einem größeren
geopolitischen Gewicht verpflichten soll. Also genau das
Land, dessen Bevölkerung ihrem Führer geradezu entrissen
werden musste, weil diese bis zum letzten Blutstropfen“
zu kämpfen entschlossen war. Diese skandalöse
Uminterpretation historischer Fakten stellt die
ideologische Basis für die fortschreitende deutsche
Großmachtpolitik dar.
Bei der Revision der Erinnerungen wirken wesentlich die
aktuellen Opferdebatten mit. Die alliierten Bombenangriffe
auf deutsche Städte während des zweiten Weltkrieges
werden entkontextualisiert als Verbrechen denunziert. Sie
werden nicht verstanden als die unbedingt notwendige
Zerschlagung des faschistischen Deutschlands, die für
Millionen Menschen die Befreiung von einem Schrecken
bisher ungekannten Ausmaßes bedeutete. In den
Publikationen von Friedrichs „Der Brand“ über Grass’
„Im Krebsgang“ bis hin zu den Spiegel-Sonderausgaben
zum Thema „Bombenkrieg“ verschwimmen vorsätzlich die
Grenzen zwischen Opfern und Tätern. Als wäre diese
Verdrehung historischer Erfahrungen nicht genug, dienen
diese Debatten über das „europäische Unglück“ zur
Konstruktion eigener moralischer Verantwortung in
Abgrenzung zur Politik Amerikas. Generell kommt es in
diesen, von der deutschen Bevölkerung begierig
aufgenommenen Entlastungsdiskursen, zu einem zunehmend
inflationären Gebrauch von Kategorien des Dritten
Reiches. Neben heute titulierten „Serben-KZs“
(Fischer) und „Vernichtungskrieg“ (Friedrich)
verlieren die Originale von ihrem Schrecken. Und so
erdreistet sich auch der Spiegel auf einer Titelseite,
wohlwissend um die Vernichtungsfeldzüge der Deutschen,
den Vereinigten Staaten vorzuwerfen, einen „Blitzkrieg“
im Irak geführt zu haben.
Export deutscher Ideologie
Die wirtschaftliche Stärke Deutschlands und dessen
selbstbewusste Außenpolitik führten und führen zu
ausgedehnten Einflussmöglichkeiten vor allem in
Osteuropa. Dabei gehen „normalkapitalistische“
Expansion und Interessenvertretung in Verzahnung mit dem
Export von Deutschtum und der Unterstützung deutscher
Europastrategien einher. Über die vom Außenministerium
und verschiedenen Stiftungen geförderte Einrichtung von
deutschen Schulen und Universitäten sollen
deutschfreundliche Eliten geschaffen und gestützt werden.
Parallel dazu werden durch die Unterstützung von „deutschen
Minderheiten“ die letzten Reste des Deutschtums im
Ausland gestärkt.
Die Unterstützung deutsche Interessen vertretender,
gesellschaftlicher Strömungen geht Hand in Hand mit
wirtschaftlicher Expansion, die teilweise ebenso
ideologietransportierende Komponenten enthält. Die von
deutschen Unternehmen erlangte Dominanz der
Presselandschaften beispielsweise in Polen, Tschechien,
Bulgarien und Kroatien (jeweils 70 bis 90%) eröffnet
diesbezüglich Möglichkeiten für einen Export deutscher
Wertvorstellungen und Ideologie. Während der Offensiven
der Vertriebenenverbände gegen die tschechischen
Benes-Dekrete spielte die in deutscher Hand befindliche
tschechische Presse eine maßgebliche Rolle bei deren
Unterstützung. Nach der Ablehnung der deutschen
Forderungen durch das tschechische Parlament begegnete das
deutsch-dominierte Zeitungswesen der „Prager Anmaßung“
mit heftiger Kritik: die „tschechische Urangst vor einer
Wiedereröffnung der ‚deutschen Frage’“ sei „blanker
Unsinn“. Kapital- und Ideologieexport stellen somit
einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt deutscher
Großmachtpolitik dar
Die Forderung Deutschlands nach der Abschaffung der
Benes-Dekrete, welche die Enteignung und Aussiedlung der
fünften Kolonne der Deutschen in Folge des zweiten
Weltkrieges rechtlich legitimieren, stellt einen weiteren
Schritt in Richtung des Endes der Potsdamer
Nachkriegsordnung in Europa dar. Diese Dekrete sind
Hemmnisse für die Großmachtambitionen Deutschlands auf
Europaebene, da sie an die deutschen Verbrechen aus denen
sie hervorgingen erinnern. Die Forderung nach deren
Aufhebung unterstützt die historische Revision der
Erinnerung an das unermessliche Leid, das im Verlauf
zweier Weltkriege von Deutschland ausging. Auf dieser
ideologischen Basis finden die Interessen revanchistischer
Vertriebenenverbände und der deutschen Regierung
zusammen. Die Forderung des deutschen Bundesrates nach
Aufhebung der Benes-Dekrete, die Gastrede des deutschen
Innenministers Schily auf dem „Sudetendeutschen Tag“
und die seit je her existierenden personellen
Überschneidungen verdeutlichen die Verflechtung der
deutschen Strategien von Europäisierung und
Geschichtsrevisionismus.
Old Europe - Die „zivile“ Gegenmacht
Die anlaufende Einbettung nationalstaatlicher
Souveränität in eine überstaatliche Souveränität
Europas geht einher mit einer Transformation der in
deutschen Gefilden schon immer beliebten
nationalstaatlichen Identifikation hin zu einer neuen
europäischen Identität, wie sie erst kürzlich von
Habermas und Derrida in trauter kerneuropäischer
Zusammenarbeit eingefordert worden ist. Den Kitt für
diese europäische Identität bildet dabei die Formung
einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, für die von den
antiken Griechen bis hin zu Napoleon alle herhalten
müssen. Ob und wie sich nationale Identitäten im
europäischem Rahmen auflösen oder die
nationalstaatlichen Identitäten dominant bleiben werden,
darüber kann aus heutiger Perspektive nur spekuliert
werden.
Eine identitätsstiftende Funktion übernimmt dabei
zunehmend die Betonung des deutsch-europäischen Konzeptes
angeblich ziviler Konfliktlösungen. Diese bezüglich der
Abgrenzung zur USA ideologische Konstruktion existiert
fernab der Realität deutsch-europäischer
Kriegseinsätze, gesellschaftlicher Militarisierung, der
forcierten Etablierung einer europäischen
Rüstungsindustrie und dem Aufbau einer europäischen
Interventionsarmee. Die von Verteidigungsminister Struck
und in den neuen Verteidigungsrichtlinien der Bundeswehr
propagierte „Verteidigung“ Deutschlands am Hindukusch
ist bereits erschreckende Realität. Und so ist
Deutschland heute nach den USA das Land mit den meisten im
Ausland stationierten Truppen. Die Wiederherstellung
deutscher Kriegsfähigkeit und damit Souveränität spielt
sich heute maßgeblich in europäischem Rahmen ab. Die
bisweilen offene Konfrontation von Old Europe mit den USA
verdeutlicht, wie viel geopolitische Souveränität
Deutschland nach Abzug der Siegermächte bereits
wiedererlangt hat – was durchaus weltpolitisches
Konfliktpotential birgt.
Während bei eigener Kriegsbeteiligung wie z.B. in
Jugoslawien, das „Völkerecht“ mitausgehebelt wurde,
konnte im Falle der Nichtbeteiligung wie beim Krieg der
USA gegen den Irak das Geschrei auf deutscher Seite über
dessen Völkerrechtswidrigkeit kaum lauter sein. Derlei
Instrumentalisierung erfahren auch der internationale
Strafgerichthof und ökologische Projekte, wie das
Kyoto-Protokoll. Die erzwungene 50jährige militärische
Enthaltsamkeit Deutschlands wird als Lernprozess verkauft,
der eine gesteigerte moralische Verantwortung begründen
soll. Der militärische Mangel wird dabei zu einer
moralischen Tugend umgedeutet. Trotz der
Selbststilisierung zum Friedensengel wird die
grundsätzliche Akzeptanz militärischer Konfliktlösung
nie in Frage gestellt. Diese geradezu absurde Konstruktion
einer deutsch-europäischen Moralität und Zivilität in
Abgrenzung zu den USA ist ein Unterfangen, dessen
heuchlerischer Charakter an vielen Stellen offen zu Tage
tritt und den es offensiv zu denunzieren gilt.
Zivilgesellschaft für Deutschland
Die zivilgesellschaftliche Mobilisierung in Form der
deutschen Friedensbewegung gegen Krieg und vor allem gegen
Amerika ist dabei Teil des deutsch-europäischen
Projektes. An dieser Stelle kann erfolgreich an die in der
Bevölkerung latent vorhandenen antiamerikanischen
Ressentiments angeknüpft werden, die in Deutschland schon
immer antisemitisch aufgeladen waren. Die
FriedensdemonstrantInnen werden dabei nicht nur „von
oben“ durch deren ProtagonistInnen angestoßen und
gesteuert, sondern sie erfüllen sich und ihren
Landsleuten ein spezifisch deutsches Bedürfnis - das
Verlangen nach dem ab- und ausgrenzenden homogenen
Kollektiv. In dieser deutschen Gemeinschaft reproduziert
sich deutsche Ideologie, Nationalismus und Antisemitismus.
Wie sehr dabei die Wahnvorstellung einfließt, zeigen
beispielhaft die offen antisemitische „Friedenstour“
von ATTAC, die vorgab über den Irakkrieg reden zu wollen,
aber in ihrer Logik folgerichtig wieder und wieder auf
Israel zu sprechen kam. Ähnlich beispielhaft sind unsere
eigenen Erfahrungen mit den TeilnehmerInnen der
friedensbewegten Aufmärsche in Leipzig, die in uns
sogleich Agenten des Mossad zu erkennen glaubten.
Diejenigen Deutschen an der Friedensfront, welche Dresden
nach Bagdad halluzinierten, waren so nicht nur für das
deutsche Projekt der angeblich zivileren Gegenmacht Europa
auf der Straße, sondern auch zur Entlastung ihrer Eltern
und Großeltern.
Die deutsch-europäische Ideologie und die deutsche
Großmachtpolitik sind der Kitt der Zivilgesellschaft,
welche anlässlich des Irakkrieges der USA und
Großbritanniens die weltpolitische Stärkung der UN und
damit der EU forderte. Eine Friedensbewegung, deren Liebe
zum Frieden während der europäischen Kriegsbeteiligungen
in Jugoslawien, Afghanistan und im Kongo partout nicht
für größere Demonstrationen reichen wollte und deren
ganze Mobilisierungsfähigkeit im Hass auf Amerika
kulmuliert, wird dabei zur Legitimation für die „Zivilmacht“
Europa. War die Zivilgesellschaft nach den Pogromen gegen
Flüchtlinge Anfang der 90er ein nationales Projekt zur
Propagierung eines „modernen Deutschland“ Anfang der
90er, so ist sie heute zusätzlich Apologetin der
Gegenmacht Europa – einer Macht deren ideologische
Zivilität keinerlei progressive Alternative darstellt.
Eine Linke, die daran positiv anschließt, muss sich im
klaren sein, dass sie an einem Projekt für Deutschland
und dessen Großmachtambitionen teilnimmt. Die Beteiligung
an den Aufmärschen der Zivilgesellschaft für Deutschland
und für Deutsch-Europa wäre nicht nur falsch, sondern
vielmehr halten wir es für geboten sich diesen
entgegenzustellen.
Das Ende der Nation als Bedingung für das Ende des
Elends
Die Denunziation deutscher Großmachtambitionen ist dabei
keineswegs Endpunkt unserer Kritik. Der Staat und im
besonderen der deutsche Staat macht als ideeller
Gesamtkapitalist die Zumutung der kapitalistischen
Konkurrenz aller gegen alle durch deren Absicherung durch
Gesetz und Gewaltmonopol erst möglich. Die Folgen dieser
Konkurrenz sind katastrophal. Die Befriedigung der
Bedürfnisse der Menschen fällt dabei nur für eine
Minderheit nebenbei mit ab. Die Mehrzahl der Menschen muss
zum Erwerb von Gebrauchsgütern ihre Arbeitkraft
verkaufen, was bei systemimmanenter und unumkehrbarer
Reduktion des Kostenfaktors Arbeit zunehmend schwieriger
wird. Dementsprechend groß sind die gesellschaftlichen
Bemühungen, diese erbärmlichen Verhältnisse den
teilnehmenden Subjekten erfolgreich als Leben zu
verkaufen. Ohne das Elend der Arbeit auch nur einem
einzigen Menschen zu wünschen, ist dessen Verknappung
doch der sichere Weg zur Verschärfung der sozialen
Umstände.
Und doch geht es den sozial Abgesicherten der westlichen
Welt noch unvergleichlich viel besser als den Millionen
Menschen im Trikont, die im Produktivitätsvergleich des
Weltmarktes unterlegen sind und denen innerhalb der
globalen kapitalistischen Logik oft nur der Hungertod
bleibt. Jeder Positivbezug auf die kapitalistische
Gesellschaft, sowie jede Partizipation an deren
Verbesserung oder Umgestaltung, also im besonderen das
Streben nach einem „besseren Deutschland“, bedeutet
damit in letzter Konsequenz nur die Verewigung dieses
Elends. Der bürgerliche Nationalstaat ist Bedingung
dieser unmenschlichen Verhältnisse und muss mit ihnen
abgeschafft werden. Wer dabei an erster Stelle an Israel
denkt, ist Teil des Problems.
Letztendlich ist Europa ideell ein dem alten Nationalismus
äquivalentes Zwangsprojekt, welches rassistische
Ausgrenzung und Ausschlüsse produziert und als „Festung
Europa“ tagtäglich ihre Opfer fordert. Eine Linke muss
das Projekt Europa ebenso als Teil einer deutschen
außenpolitischen Strategie verstehen. Konnte die Tendenz
der Europäisierung zu ihrem Beginn vielleicht noch den
linken Traum vom Ende der deutschen Nation beinhalten, so
muss sich dieser Traum heute an der Wirklichkeit
blamieren. Der Weg über Europa ist heute der
effizienteste deutsche (Sonder)weg zur Weltmacht
Deutschland. Die deutschen Konzepte
Geschichtsrelativierung und Europäisierung gehen damit
Hand in Hand.
Der Protest dagegen bleibt bisher weitestgehend aus und
eine gesellschaftliche Normalisierung
geschichtsrelativierender Diskurse und der Zustände
deutscher Großmachtpolitik ist bereits Realität. Diese
Realität und diesen deutschen Frieden anzugreifen ist ein
dringliches Projekt für die radikale Linke. Deshalb ist
es uns wichtig am Jahrestag des letzten Versuchs deutscher
Weltmachtwerdung unseren Protest gegen die aktuellen
Bemühungen Deutschlands diesbezüglich und gegen dessen
Existenz als Nation im Allgemeinen auf die Straße zu
tragen.
Für eine antinationale linksradikale Bewegung.
Deutsch-Europa den Krieg erklären!
BgR Leipzig, 4.August 2003
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