Deutschland greift nach
den Sternen. Nicht einmal ein Jahrzehnt nach der
Niederschlagung der deutschen Barbarei wurde am 24. Juli
1952 einer der Grundsteine für den Wiederaufstieg
Deutschlands gelegt. An diesem Tag wurde die Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl, oft auch Montanunion
genannt, Realität. Aus dieser vorerst wirtschaftlichen
Vereinigung im Rahmen der Westanbindung ging ein halbes
Jahrhundert später die Europäische Union hervor. Die
fortschreitende europäische Integration ist heute weit
mehr als eine bloße Wirtschaftsunion und entfaltet im
wiedervereinigten Deutschland eine erstaunliche Dynamik
auch geschichtspolitischer Dimension. Nach dem Vertrag
von Maastricht 1992 steht mit der bevorstehenden
Einigung auf eine gemeinsame europäische Verfassung eine
weitere Stufe in diesem Prozess bevor. In lebhaften
Diskussionen um eine europäische Identität in Abgrenzung
zum „amerikanischen Modell“ wird die Herstellung einer
solchen Identität als eine der „großen Herausforderungen
der Zukunft“ verstanden, der sich die „europäische
Schicksalsgemeinschaft“ zu stellen habe. (Zitate:
Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik) Zu erläutern, warum Europa für eine
radikale Linke genauso wenig ein positiver Bezugspunkt
sein kann wie Deutschland, soll Aufgabe dieses Aufrufes
sein.
Deutsche Geschichte auf dem Weg nach Europa
Neben der Gründung des Vorläufers der Europäischen Union
jährte sich der Tag der Landung der Alliierten in der
Normandie, der so genannte D-Day, im Juni zum
sechzigsten Mal. Bei den Feierlichkeiten gab es in
diesem Jahr ein Novum: erstmals war ein deutsches
Regierungsoberhaupt zu den zentralen Feierlichkeiten in
die Normandie geladen. Der Festakt war mit dieser neuen
Zusammensetzung der TeilnehmerInnen in erster Linie
Bestandteil einer politischen und symbolischen
Strategie, eine europäische Großmacht nicht nur mit
ökonomischen und machtpolitischen Argumenten zu
begründen.
Wenn Schröder in der Normandie an dem Ort, wo einst
entscheidend zur Niederlage des deutschen
Nationalsozialismus mit seinem Vernichtungswahn
beigetragen wurde, auch einen Kranz für die gefallenen
deutschen Wehrmachtssoldaten niederlegt, wird eine
Befreiung von der Geschichte geradezu zelebriert. Das
heutige Deutschland wird dabei zu einem normalen,
rechtmäßigen Teilnehmer an den Feierlichkeiten. Die
Einladung ist ein Erfolg für die rot-grüne
Geschichtspolitik - das moderne Deutschland kann sich
gerade wegen seiner Geschichte als Antrieb für ein
starkes und durch die deutsche Barbarei zusätzlich
historisch-moralisch legitimiertes Europa präsentieren.
Der Zweite Weltkrieg wird nicht als "deutsches
Verbrechen mit universellem Ausmaß" (Salomon Korn)
gesehen, sondern zur europäischen Katastrophe
umgedeutet, aus der die Notwendigkeit für ein geeintes
Europa ableitet wird. So fungiert der Zweite Weltkrieg -
und damit auch der Holocaust - als Gründungsmythos der
Europäischen Union.
Deutschland nutzt diese Gelegenheit, um die Geschichte
der deutschen Verbrechen während des
Nationalsozialismus, ja die deutsche Nationalgeschichte
im Allgemeinen, in einem europäischen Zusammenhang zu
entwirklichen. Eine verallgemeinerte Leidenserfahrung
ist der Kitt für diese Art der Geschichtsinterpretation,
und bewusst wird hierzulande auf Differenzierungen
zwischen nationalsozialistischer Wehrmacht und
alliierten Truppen verzichtet. Deutsche TäterInnen
können so unter die Opfer subsumiert werden, und der
gesamte historische Kontext, die Fragen nach den
Ursachen, bleiben außen vor.
Befördert wird dies auch durch das Interesse an einer
gemeinsamen europäischen Geschichtsschreibung, die eine
Schuldabwehr für Deutschland erleichtert. Gerade
offizielle Verlautbarungen der EU unterstreichen die
gemeinsame Vergangenheit immer wieder, um eine nationale
Identität als EuropäerIn konstruieren zu können. Diese
Vergangenheitspolitik, an der gerade Deutschland ein
großes Interesse hat, ist Teil eines europäischen
Prozesses, der als Nationalisierung bezeichnet werden
kann. Konstruktionen und Ideologien, die bereits zu
Zeiten der Nationalstaatenbildung wirkten, werden nun in
Bezug auf einen "Staat Europa" erneut herangezogen. Der
wirtschaftlichen und politischen Integration Europas
wird unter anderen über die Konstruktion einer
gemeinsamen europäischen Geschichte ein modernisiertes
Identifikationsmodell zur Seite gestellt. Sowohl dem Tod
deutscher als auch alliierter Soldaten wird ein
historischer Sinn zugeschrieben und dient im Nachhinein
etwas Höherem.
Die Auschwitz-Rhetorik im Vorfeld des Jugoslawienkrieges
hatte die Richtung bereits vorgegeben: Geschichte wird
nicht vergessen, wie es u.a. Walser verlangte, sondern
nutzbar gemacht. Ein Ende dieser perfiden Argumentation,
der Legitimierung von außenpolitischen Entscheidungen
mit dem Nationalsozialismus und einer aus ihm
entstandenen vermeintlichen besonderen Verantwortung
Deutschlands, ist nicht abzusehen. Die Teilnahme am
D-Day-Gedenken in der Normandie ist somit lediglich ein
Beispiel für diese Normalisierung. Deutschland wird
seine Interessen überall verteidigen oder durchsetzen -
in Europa, gegen oder mit den USA und sogar in Israel.
Der Einsatz deutscher SoldatInnen in Israel ist eine
Option, die bekanntlich bereits diskutiert wird. Und
immer wird die in einen europäischen Kontext gesetzte
deutsche Geschichte herangezogen. Neben einer
moralischen Absicherung weltweiter
Interventionsbefugnisse dient diese Geschichtspolitik
der besonderen Selbstvergewisserung der Deutschen. Als
späte SiegerInnen und europäisch geläuterte Opfer der
Geschichte ist ein positiver, identitärer Bezug, sei es
auf die Heimat, die eigene Region, Nation oder Europa
leichter als jemals nach 1945.
Europa einig Vaterland
Die Entwicklung zu einem Nationalstaatsmodell Europa
wird auf mehreren Ebenen vorangetrieben. Sowohl in der
Wirtschafts-, Sicherheits- und der Außenpolitik läuft
eine Europäisierung auf Hochtouren, ideologisch
unterfüttert durch Nationalismus und
Heimatkonstruktionen. Trotz unterschiedlicher
Positionen, Widerstände und Widersprüche zwischen den
einzelnen Staaten ist der Integrationsprozess
gemeinsamer Konsens.
Nach den Anschlägen von Madrid richteten sich die
Aufrufe mancher Regierungschefs und EU-FunktionärInnen
an das "europäische Volk". Dies scheint mehr als pures
Lippenbekenntnis zu sein: die Folgen der terroristischen
Anschläge treiben die europäische Integration weiter
voran. Insbesondere Überlegungen aus Spanien und Polen,
die EU-Verfassung - das zentrale Dokument für eine
"Nation Europa" - unter neuen Gesichtspunkten zu
verhandeln, aber auch die Erwägung, die Truppen ohne
UN-Mandat aus dem Irak abzuziehen, zeigen, dass die
Europäisierung auch auf eben noch stockenden
Teilbereichen weiter voranschreitet.
Spätestens seit dem Schengener Abkommen und dem Vertrag
von Maastricht Anfang der 90er Jahre wird die
sicherheits- und außenpolitische Integration
intensiviert, z.B. über europäische Polizei,
Geheimdienstkoordination, Grenzregime und EU-Militär.
Die EU-Osterweiterung wird zum Anlass genommen, Ängste
zu schüren, welche als Begründung für einen stärkeren
Ausbau der Grenzkontrollen dienen.
Auf keinem Gebiet wurde in den letzten Jahren so viel,
so schnell und so unbürokratisch vergemeinschaftet wie
in der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik. Sie
führt die rassistische AusländerInnenpolitik der
Einzelstaaten auf EU-Ebene fort und reproduziert damit
auf einer höheren Ebene nationalstaatliche Ein- und
Ausschlüsse. EU-Abschottungspolitik wird jedoch
zunehmend durch Migrationsmanagement und -kontrolle
ergänzt. Ökonomisch verwertbaren MigrantInnen wird -
meist nur temporär - eine Tür zum europäischen
Arbeitsmarkt geöffnet, wenn es auf diesem wahlweise an
Fachkräften oder an BilliglohnarbeiterInnen mangelt. Für
die Unerwünschten, die den Nützlichkeitskriterien nicht
entsprechen, bleibt Europa jedoch eine Festung. Aktuell
werden verstärkt Sicherheitserwägungen als Begründungen
für die Verschärfungen des Asylrechts herangezogen - mit
der Angst vor Terroranschlägen lässt sich rassistische
Politik unkompliziert durchsetzen.
Die reale Politik Europas hat nichts mit
emanzipatorischer oder auch nur sozialer Politik zu tun.
Das mag wie ein Allgemeinplatz klingen, bleibt aber
wichtig zu erwähnen, weil es auch in Teilen der Linken
Stimmen gibt, die sich positiv auf Europa beziehen.
Während Teilbereiche an Europa durchaus kritisiert
werden, z.B. Asylpolitik und Sozialabbau, wird Europa
trotzdem als Projektionsfläche benutzt, um eine neue
Heimat - außerhalb von Deutschland - zu finden. Dabei
wird genau das Identifikationsangebot der bürgerlichen
Politik angenommen. Eine besondere Bedeutung hat dabei
die Präsentation Europas als Alternative zu den USA.
Der Alptraum einer europäischen Weltordnung
Die politischen Differenzen innerhalb Europas, wie sie
angesichts des Irakkrieges deutlich geworden sind,
bezeugen, dass Europa in vielen Bereichen noch nicht mit
einer Stimme sprechen kann. Aber auch wenn der
Entwicklungsstand sowie der realpolitische Einfluss
einer "Nation Europa" dem Wunschbild einer den USA auf
allen Ebenen ebenbürtigen Weltmacht noch weit
hinterherhinkt, sind die darauf ausgerichteten
Bestrebungen doch bereits realitätsbildend. Die Politik
ist darauf ausgerichtet, im ökonomischen Bereich mit den
USA gleichzuziehen bzw. diese zu überholen und auf
militärischem Gebiet zumindest unabhängig und
eigenständig agieren zu können. Auch wenn gegenwärtig
eine direkte Konfrontation nicht denkbar ist, zeigt die
gewollte Konkurrenzsituation bereits Auswirkungen. Im
Nahen und Mittleren Osten können Regime und
Terrorgruppen auf europäische Duldung und teilweise
Unterstützung zählen, die einer Neuordnung der Region
nach amerikanischer Vorstellung entgegenstehen. Das
zerstörerische Potential dieser alternativen
Weltordnungspolitik wird dabei nicht zuletzt durch die
Duldung und Unterstützung von AkteurInnen deutlich, die
Selbstmordanschläge in Israel unterstützen.
Innerhalb und außerhalb Europas basiert die Vorstellung
einer alternativen Weltordnung auf der hasserfüllten
Abgrenzung vom amerikanischen "Weltpolizisten" und vom
"Raubtierkapitalismus". Diese Abgrenzung fungiert als
kollektives Bindemittel, welches über die einzelnen
europäischen Nationen hinaus Zusammenhalt stiftet. Dabei
werden in Europa Traditionen mobilisiert, die den
Unterschied zu den USA hervorheben und sich als
geeignetes Instrument gegen das zurzeit herrschende
Machtungleichgewicht zwischen der EU und den USA
erweisen. Die Verteidigung des Völkerrechts und die
deutsche Betonung der Rechte von Volksgruppen, die
Mobilisierung sozialer Unterschiede und das Schüren
religiöser Konflikte haben sich schon im 20. Jahrhundert
als ebenso wirkungsvoll wie verheerend erwiesen.
Angesichts der militärischen Unterlegenheit gegenüber
den USA zeigt sich heute, dass diese Traditionen nie
abgebrochen sind. Wobei sich die EuropäerInnen trotz der
mörderischen Geschichte einer solchen
Weltordnungsalternative mit ihren Strategien auch noch
kulturell und moralisch erhaben fühlen.
Gerade was die einzelnen Instrumente der Außenpolitik
betrifft, kann zwar noch nicht von einer einheitlichen
europäischen Außenpolitik gesprochen werden, deutlich
ist jedoch, dass bei der Herstellung einer gemeinsamen
Außenpolitik der EU vor allem Deutschland und Frankreich
die treibenden Kräfte sind. Dabei können auch
ideologische Gegensätze, wie das deutsche, traditionell
völkische Denken, überbrückt werden. Daraus
resultierendes Handeln, wie die deutsche
Volksgruppenpolitik, wird gegenwärtig auch von
Deutschland nicht als bloßer Selbstzweck verfolgt. Zwar
sind völkische Vorstellungen innerhalb von
Konfliktbewertungen und strategischen Überlegungen immer
präsent, ihre aktive Verfolgung bettet sich jedoch in
eine kalkulierte Interessenpolitik ein. So kann auch die
Hofierung des Dalai Lama in Deutschland nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die explizite Unterstützung der
Unabhängigkeitsbestrebungen Tibets, die eine völkische
Politik nahe legen würde, zugunsten wirtschaftlicher
Interessen in China ausblieb. Ganz ähnlich wird der
Interessengegensatz zwischen völkischer und
zweckrationaler Politik zugunsten letzterer im Umgang
mit der russischen Tschetschenienpolitik aufgelöst.
Zwar steuern weder die Entwicklung einer europäischen
Ökonomie noch die Aufrüstungsziele der EU gerade auf
einen innerimperialistischen Showdown zu, ideologisch
aber wird die Kampfansage bereits formuliert. Das
sichert den Rückhalt in der Bevölkerung, denn die
positive Identifikation mit Europa basiert auf dieser
Feindbildkonstruktion, und die USA sowie Israel gehören
zu den zentralen Feindbildern in der europäischen
Bevölkerung. Anti-Amerikanismus bildet die emotionale
Grundlage für die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise
und ebenso von Teilen der Linken in Deutschland und
anderswo zum Projekt Europa. Ganz offensichtlich wurde
dies während des Irakkriegs in der "neuen
Friedensbewegung": Antiamerikanismus war augenblicklich
abrufbar und machte das Gefühl, auf einer besseren Seite
zu stehen, erst möglich. Der positive Bezug auf ein
"soziales Europa" und die Solidaritätsadressen an die
palästinensische Intifada sind als deutliche Kampfansage
der europäischen Bevölkerung an die USA und Israel zu
verstehen. Das heißt allerdings nicht, dass sich die
europäische Identität in der Abgrenzung zu den USA
erschöpft. So knüpft sie, beispielsweise den Rassismus
betreffend, vielfach an die in den nationalen
Identitäten enthaltenen Ausgrenzungen an.
Die Linke als Teil des Problems
In Europa schreiten die Großmachtbestrebungen weiter
voran. Und in der Zwischenzeit werden Allianzen mit
autoritären Regimes geschlossen, separatistische
Volksbewegungen unterstützt oder es wird auch schon mal
offensiv die Hilfe beim Kampf gegen den islamistischen
Terror im Irak verweigert. Während also die europäische
Außenpolitik jeden Anlass bietet, ihr entgegenzutreten,
entdeckt die europäische Linke die Interpretationsmuster
des Kalten Krieges wieder: die USA als Hauptfeind, der
Protest gegen die Amerikanisierung als kulturelles
Amalgam und Israel als Speerspitze des Imperialismus und
mithin größte Bedrohung für den Frieden auf der Welt.
Unter solchen Bedingungen erscheint Al Qaida, wenn nicht
als grundsätzlich durch die amerikanisch diktierte
Weltordnung legitimiert, so doch als gerechte Geißel,
die den Krieg gegen die Unterdrückten ins Herzen der
Bestie zurückträgt. Und der inzwischen jeglicher
fortschrittlichen Fassade entkleidete palästinensische
Kampf für die Vernichtung Israels und die Errichtung
eines islamistischen Staates Palästina wird weiter zum
sozialen Widerstand gegen eine völkerrechtswidrige
Besetzung verklärt. Auf linker Seite werden so die
negativen Seiten der alternativen europäischen
Weltordnungsphantasien noch gesteigert. Europa erscheint
dieser Linken folgerichtig als kleineres Übel und als
Chance, dem amerikanischen Hauptfeind entgegentreten zu
können.
Wenn Antiamerikanismus und Antisemitismus als wichtige
Elemente einer europäischen Identität angesprochen
werden, dann weil es sich bei ihnen nicht zuletzt um
linke Welterklärungsansätze handelt, die ihren Weg
zurück in jenes Massenbewusstsein gefunden haben, aus
dem sie ursprünglich stammten. Doch auch weitere
Wesensmerkmale in der Legitimation Europas stimmen mit
in der Linken gepflegten Vorstellungen überein. So
wandelt sich europafreundlicher Antimilitarismus unter
den Bedingungen der militärischen Unterlegenheit in das
Lob ziviler Konfliktlösungsmodelle. Abgesehen davon,
dass sich die Militarisierung der EU-Außenpolitik nichts
desto trotz weiter vollzieht, weil die Mehrheit der
BefürworterInnen einer europäischen Gegenmacht die
Notwendigkeit unabhängiger militärischer Ressourcen
einleuchtend finden muss, werden vom
antimilitaristischen Lager die Instrumente der
europäischen Interessenverfolgung als fortschrittlich
verklärt. Dabei sind es nicht zuletzt die Interventionen
unterhalb des militärischen Eingreifens, die zur
Ausweitung des eigenen Machtbereichs, der
Destabilisierung anderer Staaten und für die
Durchsetzung der Volksgruppenpolitik genutzt werden.
Warum solche Mittel im Gegensatz zu militärischen
Interventionen stehen oder auch nur ein kleineres Übel
darstellen sollen, bleibt nach der Erfahrung der
Zerschlagung Jugoslawiens und den bis heute andauernden
Übergriffen der albanischen Volksgruppe auf alle anderen
unbegreiflich.
Ähnlich absurd sind die Bezüge auf die Tradition der
sozialen Befriedung in Europa, die es gegen die
Globalisierung und die für sie angeblich hauptsächlich
verantwortliche USA zu verteidigen gälte. Diese Sicht
auf Globalisierung verwandelt ihre Kritik zwangsläufig
in einen Beitrag zur Restauration des Nationalen, ist
der Nationalstaat doch für sie die einzige Instanz, die
soziale Standards sichern kann. Europa als
modernisiertes nationales Projekt ist deshalb das
wirkliche Ziel der Altermondialisation, der
"alternativen Globalisierung". In ihm scheinen die
nationalen Grenzen überwunden und zugleich die Rolle des
starken Staates erhalten. Dass Europa prinzipiell eine
Tradition habe, die sozialer sei als das kapitalistische
Modell in den USA, bleibt dabei - egal ob in
antiamerikanischer oder proamerikanischer Pose geäußert
- ein Mythos. Der Projektion vom „sozialeren Europa“
widerspricht schon ganz offensichtlich, dass die
sozialen Differenzen innerhalb der Länder der EU
durchaus erheblicher sind, als beispielsweise zwischen
Deutschland und den Vereinigten Staaten.
Jedoch weisen die Differenzen in den jeweiligen auch
linken Diskursen über das Soziale auf unterschiedliche
ideologische Verfasstheiten der Gesellschaften hin.
Liegt der Diskussion in den USA eher ein
individualistisches und von Staat distanzierteres
Verständnis des Sozialen zugrunde, so lässt sich
speziell den Deutschen ein (volks-)gemeinschaftlicheres
und staatsaffirmativeres Denken bescheinigen. In jedem
Fall gehört der Mythos vom "sozialen" wie auch der vom
"zivilen Europa" zur Verklärung der Politik in der
eigenen Heimat, mit der sich das europäische Kollektiv
als Konkurrenzmacht konstituiert. Ihm entspricht der
Wahn, Europa würde der Welt aufgrund einer höheren
kulturellen Qualität des eigenen Strebens zu Zivilität
und ewigem Frieden verhelfen. Die Linke vertieft diesen
Wahn, denn während auf der Ebene der realen politischen
Entscheidungen Faktoren vom gemeinsamen
transatlantischen Antiterrorkampf bis zur einflussreich
politisch verteidigten Wirtschaftsinterdependenz nicht
aufhören, eine Rolle zu spielen, ist sie in ihren
Entwürfen einer anderen Welt nicht an solche
Überlegungen gebunden.
Ganz folgerichtig bringt eine Linke, die sich auf die
alten Welterklärungsmuster stützt, dem modernisierten
Nationalstaatsprojekt und der Praxis kapitalistischer
Interessenspolitik keinen vernehmbaren Widerstand
entgegen, sondern beteiligt sich stattdessen an den
Europa gewidmeten Legitimationsdiskursen des
gesellschaftlichen Mainstreams. Doch gab es in der Folge
der Wiedervereinigung in Deutschland auch schon den
Beginn einer anderen Tradition. In den neunziger Jahren
ließ sich zumindest für die Radikale Linke die Hoffnung
hegen, dass sich Heimat- und Nationenkritik zu einem
Standardrepertoire entwickeln würden. Allerdings
verlieren diese Erkenntnisse in der konkreten
praktischen Orientierung von heute immer mehr an
Bedeutung. Selbst dort, wo nationalstaatliche
Orientierungen, Antisemitismus und Antiamerikanismus als
kennzeichnende Bestandteile der real existierenden
Bewegungen analysiert werden, werden von den Antifas der
Neunziger heute Bündnisse gegen Globalisierung, Krieg
oder Sozialabbau gesucht. Statt über eine deutliche
Polarisierung die Position einer radikalen
Gesellschaftskritik überhaupt erkennbar zu machen,
wirken jene Gruppen in diesen Bündnissen an der
Durchsetzung moderner systemaffirmativer
Kollektividentitäten mit und werden so, statt zur
Vorreiterinnen eines emanzipatorischen Aufbruchs, zu
Trägerinnen deutsch-europäischer Ideologien.
Gerade in Deutschland zeigt sich dabei, dass der Bezug
auf eine europäische Identität heute die zentrale
Klammer zwischen der fortgesetzten Simulation
außerparlamentarischer Opposition und dem Hauptstrom
nationalstaatlicher Politik ist. So wird ein Großteil
der Linken hierzulande zu einem Trittbrettfahrer bei
einem Prozess, der Deutschland doppelten Mehrgewinn
verspricht. Zum einen scheint über die Schaffung einer
europäischen Identität die Modernisierung der
Nationalstaatsideologie zu gelingen, welche die Menschen
dem flexibilisierenden Verwertungsprozess angepasst an
die kapitalistischen Verhältnisse bindet. Darüber hinaus
oder besser in diesem Zusammenhang gelingt es
Deutschland, die Bedeutung der NS-Verbrechen in bisher
nicht gekanntem Ausmaß zu relativieren. Im
gesamteuropäischen Erinnern geht die deutsche Schuld
verloren und jegliche Ursachenbestimmung verkommt zur
Farce.
Jenseits der Bekenntnispolitik
Es ist mit Blick auf die derzeitige Funktion der
Friedens- und globalisierungskritischen Bewegungen als
Legitimitätsbeschafferinnen für ein deutsch-europäisches
Großmachtprojekt und ihre ideologische Verfasstheit
heute notwendig, die Kritik an der Linken praktisch
werden zu lassen. Doch diese Auseinandersetzung kann nur
ein erster Schritt sein. Die Analyse der
deutsch-europäischen Großmachtambitionen und der
antiamerikanisch/antisemitischen Ideologie, auch
außerhalb der Grenzen Europas, ruft nach offensiver
Auseinandersetzung durch eine antideutsche und damit
notwendigerweise antieuropäisch-kosmopolitische Linke.
Der tatsächliche Widerstand gegen Antisemitismus und
Antiamerikanismus beschränkt sich bisher weitgehend auf
Bekenntnisse. Die Beschäftigung mit der europäischen
Realität ist nicht nur ein Vehikel, diesen Bekenntnissen
eine Richtung zu geben. Weil sich im transformierenden
Europa Antiamerikanismus und Antisemitismus dauerhaft
organisieren und beide in der europäischen Identität
eine modernisierte Grundlage finden, wird Europa
geschichts- und realpolitisch zu einer ebenso dauerhaft
zu bekämpfenden Größe.
Die Entwicklung einer Praxis gegen das Projekt einer
europäischen Gegenmacht weist dabei über die
Beschreibung einer Welt hinaus, in der
anti-emanzipatorische Bewegungen die Vorstellung vom
ganz Anderen des Kapitalismus genauso dominieren, wie
der Kampf der USA und ihrer Verbündeten gegen diese
reale Bedrohung das Bild von Freiheit und Emanzipation
prägt. Nur in der Auseinandersetzung mit den in und über
Europa verfolgten Strategien einer alternativen
Weltordnung, nur im offenen Gegensatz zu
Antiamerikanismus und Antisemitismus entsteht die
Möglichkeit, Emanzipation wieder zu denken.
Das gilt nicht nur für eine antideutsche Linke. Auch für
eine antikapitalistische Linke muss es von Interesse
sein, die Ablehnung Europas damit zu begründen, dass es
sich hierbei um ein modernisiertes Nationalstaatsprojekt
handelt. Die herrschende Organisationsform des
Kapitalismus wird mit Europa nicht aufgelöst, sondern
höchstens Bezugs- und Legitimationsebenen verändert.
Auch weiterhin dient die Nation den Interessen des
Kapitals, auch weiterhin bleibt sie Rahmen und
Begründung für staatliche Unterdrückung, für
rassistische Ausschlüsse sowie für die ideologische
Nivellierung sozialer Unterschiede. Die vorgestellte und
praktizierte Gemeinschaft widerspricht auch im
europäischen Rahmen der freien Entfaltung der Menschen.
Wie immer diese auch letztendlich aussehen mag, eine
europäische Nation wird schon für den Gedanken daran zu
einer Grenze, gegen die sich linker Kosmopolitismus
wenden sollte.
Die Wirkung des Bezugs auf eine Heimatkonzeption, egal
mit welchen Argumentationsmustern er jeweils erfolgt,
belegen inzwischen eine ganze Reihe bekannter
historischer Vorläufer: von der deutschen
Sozialdemokratie bis zur Heimatliebe der Umweltbewegung
- am Ende der Orientierung stand nicht mehr die linke
Kritik, sondern die Identifikation mit den herrschenden
Verhältnissen. Die neue Heimat Europa bildet da keine
Ausnahme. So heftig auch die Auseinandersetzungen um ein
"soziales Europa" geführt werden mögen - die
emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus ist mit
dieser Parole bereits ausgeschlossen. Statt einer
Radikalisierung des uneinheitlichen Unbehagens an der
Entwicklung des Kapitalismus führt der Bezug auf Europa
geradewegs in institutionalisierte Interessenvertretung
und den Versuch der Neuaushandlung der alten
Sozialstaatsübereinkünfte. Insofern wenden wir uns nicht
nur als KritikerInnen nationaler Identität gegen Europa
und seine ProtagonistInnen. Als AntikapitalistInnen
vertreten wir eine radikale Position, die neben dem
Widerspruch zwischen europäischer Sozialstaatsideologie
und der neoliberalen Realität auch noch den Zweck der
einstigen Klassenkompromisse zu kritisieren weiß. Dieser
bestand nicht ausschließlich darin, das schönere Leben
möglich zu machen, auch wenn Forderungen individuell
natürlich tatsächlich die Verbesserung der
Lebenssituation zum Ziel hatten. Vielmehr diente er
immer dazu, auch nach Krankheit und Arbeitslosigkeit die
Ware Arbeitskraft wieder der Verwertung zuführen zu
können und für Ruhe und Ordnung an der Heimatfront, also
für die Absicherung des kapitalistischen
Betriebsfriedens, zu sorgen.
Für eine Linke, die sich weder vom antinationalen und
sozialem noch vom zivilen Schein der Europakonzeption,
für die es bereits jetzt eine gesellschaftliche Mehrheit
gibt, dumm machen lässt, muss es heute darum gehen,
gegen den europäisch-antiamerikanischen Konsens Position
zu beziehen. Denn es ist sicher, dass Europa kein
Projekt emanzipatorischer Veränderungen ist oder sein
wird: an keiner Stelle weist es über die Zumutungen
kapitalistischer Verhältnisse hinaus. An keiner Stelle
verspricht es eine bessere Welt. In der
sozialstaatlichen Befriedung von sozialen Widersprüchen,
die vermehrt eine ideologische Setzung ohne materielle
Entsprechung ist, und der Forderung nach einem "sozialen
Europa" schwingt die Bejahung der Grundlagen der
kapitalistischen Organisation und von Staat und Kapital
mit. Im Ruf nach einer europäischen Weltordnungspolitik
verbergen sich die zivilisatorisch bemäntelten, fatalen
Strategien einer Mindermacht, die auf
antiemanzipatorische, insbesondere antiamerikanische und
antisemitische Kräfte zu setzen bereit ist, um ihre
Unterlegenheit auszugleichen. Sich dagegen deutlich zu
positionieren, ist unsere Aufgabe.
Links ist da, wo keine Heimat ist.
Keine Nation Europa,
kein Deutschland!
In Kooperation
Antifaschistischer Frauenblock Leipzig
und bgr Leipzig |