Europa ist bereits. Das klingt banal und doch
scheint es eine notwendige Betonung. Auch wenn die
europäische Integration als ein Projekt angelegt
ist, welches vorerst den Status einer mit den USA
ebenbürtigen Weltmacht nur beansprucht, ist die
Realität doch mehr als nur vom Setzen weitreichender
Zielmarken gekennzeichnet.
Mit unterschiedlichen Konjunkturen letztendlich aber
doch stetig fortschreitend werden die drei
Grundsäulen der Europäischen Union – die
ökonomische, rechtliche und politische Integration –
ausgebaut. Insbesondere aber nach dem Irak-Krieg ist
dieser Prozess mit einer vorher nicht da gewesenen
Intensität identitätspolitischer Diskurse verknüpft.
„Wer jetzt nicht begreift, dass (...) vieles auf
Europa zuläuft, der wird es nie begreifen“, so heißt
es in einem programmatischen Papier der
SPD-Bundestagsfraktion.
Und wirklich, es vergeht hierzulande kein Tag, an
dem nicht über die Bedingungen und Möglichkeiten
eines europäischen Nationalbewusstseins geforscht,
öffentlich sinniert, geredet und geschrieben wird.
Europa sei im „Wissen und Denken (zu) verankern“,
damit die Menschen bereit sind „für die gemeinsame
Zukunft Mühen und Kosten auf sich zu nehmen“.
So das Motto der deutschen Altphilologen bei ihrem
diesjährigem Jahrestreffen. Wenn eine qua
Berufsstand verstaubte Wissenschaftsspezies wie
diese zur Zielvorstellung „europäische
Identitätsbildung“ findet, dann muss jene
hierzulande bereits eine Art intellektuelles
Konsensprogramm sein.
Die Dichte der gegenwärtigen euronationalistischen
Diskurse zeigt an, dass wir uns in einer Hochphase
der Konstitution einer europäischen Großmacht
befinden. Auf der Identifikationsebene wurde Europa
nie mehr gemacht als heute. Gerade deshalb verdiente
es von linker Seite den schärfsten antinationalen
Protest.
Bündnispolitik
Insofern standen wir dem Anliegen der Gruppe Kritik
und Praxis aus Berlin am Vorabend der offiziellen
EU-Osterweiterungsfeiern eine europakritische
Demonstration zu veranstalten, sehr offen gegenüber.
Gerne hätte wir mit der Gruppe und anderen
Interessierten politischen Initiativen über die
angesichts der Realität notwendige
Schwerpunktsetzung einer Protestaktion diskutiert.
Allein es war nicht möglich.
Die KP hat sich – wie
leidlich schon bekannt aus Zeiten revolutionärer 1.
Mai-Demonstrationen der Vorgängerorganisation AAB –
damit abgefunden, dem linken Publikum kurz vorm
Aktionstermin einen Aufruf und damit die inhaltliche
Prämissen vor die Nase zu setzen. Diese lassen sich
dann mit einer symbolischen Unterschrift unter
Plakat und/oder Aufruf, die nicht viel über den
wirklichen Stand der Auseinandersetzung sagt,
unterstützen. Man kann es auch lassen.
Nimmt man an, dass es
ein Ziel einer Kampagne mit Demonstrationshöhepunkt
ist, gerade im Vorfeld
potentielle BündnispartnerInnen von der Wichtigkeit
der eigenen Inhalte zu überzeugen und den Gegenstand
sowie seine spezifische Kritik auf die Agenda auch
anderer linker Gruppen zu setzen, dann ist die
gegenwärtige Praxis ziemlich fruchtlos. Der Raum für
eine wirkliche Diskussion existiert nicht.
Mit der Praxis des abzunickenden Aufrufs werden nur
diejenigen gesammelt, die sich im eigenen
Gruppendunst bewegen. Und diejenigen, welche es
nicht so genau wissen wollen. Inhaltlich
widersprechende oder abweichende Positionen haben
nur noch die Möglichkeit ihre Sicht der Dinge mit
dem linken Nischenmedium ihrer Wahl darzustellen.
Üblich mittlerweile, mit der Kritik an der Kritik
zur Demo zu reisen.
Besser, als gar nicht mehr
miteinander reden zu wollen. Nur geht es bei einer
Demonstration um eine öffentliche Kritik. Insofern
ist es nicht das schlechteste, wenn mit einer
gewissen inhaltlichen Geschlossenheit nach außen
getreten wird. Die frühzeitige Vermittlung der
eigenen Gruppenposition an andere Gruppen stünde
einem pluralistischem Kuddelmuddel entgegen.
Stoßrichtung und argumentative Überzeugungskraft
einer Aktion ließen sich so um einiges steigern.
Vorausgesetzt man weiß was man will.
Nach der Lektüre des Aufrufs von KP und
PostpessimistIn
kommen diesbezüglich Zweifel auf. Denn die in der
Art und Weise der Bündnispolitik angelegte
praktische Unmöglichkeit einer gemeinsamen
Positionsfindung korrespondiert keinesfalls mit
einer inhaltlichen Stringenz, der man es aus
pragmatischen Gründen nachsehen würde, dass sie sich
nicht bei anderen ums gemeinsame Handeln müht. Im
Gegenteil. Auf der inhaltlichen Ebene böte der
Aufruf die Grundlage für ein Bündnis, dass so breit
ist, dass nicht mehr klar ist, für was es steht. So
drängt sich der Verdacht auf, dass die mangelnde
Vermittlungstätigkeit der Berliner
Vorbereitungsgruppe gegenüber anderen dezidiert
europakritischen Gruppen auch dem politischen Willen
geschuldet ist, auf der Ebene der öffentlichen
Repräsentation eine weitgehende Anschlussfähigkeit
im linken Bewegungsspektrum zu demonstrieren.
Kapitalistische Konkurrenz oder alternative
Weltordnung?
Für die KP ist die Europäische Union „Ausdruck des
großen Falschen und damit Ziel unserer Kritik“.
Das klingt zunächst nach sattsam bekannter
antikapitalistischer Rhetorik. Vor allem begründet
es noch nicht, warum der Ansatz der Kritik gerade am
Gegenstand der EU ansetzt. Nicht viel präziser als
linke Analyseraster a là „Junge Linke“, mit welchen
alle gesellschaftlichen Entwicklungen auf die
immergleichen „Bewegungsgesetze des Kapitals“
runtergebrochen werden und mit der Benennung des
staatlichen und kapitalimmanenten Charakters der
europäischen Integration die Notwendigkeit zur
Kritik weitgehend begründet scheint, erklärt auch
die KP:
„Die EU ist nicht Gegner neoliberaler
Globalisierungspolitik, sondern vor allem Akteur.“
Im Aufruf wird diese Zuschreibung mit der Rolle
Europas bei der Schaffung von Freihandelszonen, dem
Liberalisierungsprojekt europäischer Binnenmarkt und
den sozialpolitischen Anpassungsmaßnahmen
insbesondere der Osterweiterungsstaaten an die
gegenwärtigen Standards der Kapitalverwertung
belegt. Die unter dem Begriff „Neoliberalismus“
subsumierten Phänomene lassen sich nicht von der
Hand weisen. Schnell wird allerdings deutlich, dass
die begriffliche Nähe des KP-Aufrufs zu Attac & Co
eine inhaltliche Entsprechung hat. Die EU wird als
Agent des weltweiten Neoliberalismus zum Ziel der
Agitation. Spezifische Gründe, warum eine Linke
gegen die entstehende EU-Macht Widerstand leisten
sollte, werden durch die vorangestellte
Ableitungslogik von vorneherein entwertet: Als
„Sachwalterin von Kapitalinteressen im globalen
Maßstab“ wird ihre Entstehung und ihr Handeln
anderen neoliberalen Projekten tendenziell
gleichgemacht.
Wie die USA und Ostasien müsse auch die EU als
normaler Bestandteil einer aus den
„Fragmentierungsprozessen des globalisierten
Kapitalismus“ entstehenden Triade, welche den
anderen Blöcken in Konkurrenz entgegentritt,
angesehen werden.
Die Betonung des Allgemeinen wird bei der Verklärung
oder Auslassung des Spezifischen falsch. Im
KP-Aufruf wird dies explizit: „Die unterschiedlichen
Varianten dieser weltweiten Konkurrenz haben mehr
mit politischer und militärischer Macht als mit
unterschiedlichen Philosophien zu tun.“ Das ganze
ideologische Programm der europäischen Aufholjagd,
welches von der aus Geschichtskonstruktionen
abgeleiteten „Friedensmacht Europa“, über den
„ehrlichen Makler“ im Nahen Osten bis hin zur
Selbststilisierung als sozialpolitischem Widerpart
des amerikanischen „Sharholder-Kapitalismus“ reicht,
wird hier zu einem ideologischen Anhängsel ohne
eigene Qualität erklärt. In dem Versuch Europa auf
den Begriff des Neoliberalismus zu bringen, wird der
aggressive Kurs der Europäer in Richtung Weltgeltung
verniedlicht.
Problematisch ist diese Sichtweise schon deshalb,
weil sie die bereits existierenden Unterschiede der
alternativen Weltordnungskonzepte nicht beachtet.
Betrachtet man die Sicherheitsstrategie der Europäer
(ESS), so wie sie auf dem Gipfel der EU-Staaten im
Sommer 2003 in Thessaloniki beschlossen wurde, dann
fällt die weitreichende Identität mit der
US-amerikanischen Sicherheitsdoktrin auf.
Als Legitimation für die weltweite und nötigenfalls
auch präventive Intervention werden neben dem
geostrategischen Interessen an der Sicherung der
Energieexporte für die europäische Wirtschaft ebenso
Bedrohungsszenarien wie der internationale
Terrorismus, die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen und das Auseinanderfallen
staatlicher Systeme angeführt. Auch die
Verpflichtungen zur Aufrüstung und
Effektivitätssteigerung des Militärpotentials
markieren keinen Unterschied.
Doch dabei bleibt es nicht. Die ideologisch
begründete Stoßrichtung gegen die „amerikanische
Weltunordnung“ wird deutlich, wenn die Europäer die
Stärkung einer „normengestützten Weltordnung“ sowie
ihre vermeintliche „Tradition des Multilateralismus“
betonen. „So wie die Europäische Union eine
neuartige Formation auf der Weltbühne darstellt,
wird auch ihre Außenpolitik einen neuen Charakter
aufweisen.“
Was im Kommentar einer regierungsnahen Institutionen
als zentraler Unterschied der Sicherheitsstrategien
herausgestellt wird, ist mehr als nur das Allgemeine
eines ethischen Imperialismus des Westens.
„Wir brauchen eine genuin europäische Vision des
Völkerrechts, die ein leuchtendes Beispiel geben
kann“, forderte der Menschenrechtsexperte Philip
Alston auf der Gründungskonferenz der „European
Society of International Law“ im Mai diesen Jahres.
Die Aufholjagd der europäischen Gegenmacht verbindet
sich mit einer moralischen Legitimation, die sich
deutlich gegen die westliche Vormacht wendet und auf
die ideologische Anschlussfähigkeit der Peripherie
setzt.
Die jüngste Vergangenheit europäischer Außenpolitik
zeigt darüber hinaus, dass Traditionen deutscher und
französischer Machtpolitik Konfliktbewertungen und
strategische Optionen in hohem Maße mitbestimmen.
Anfang der 90er Jahre war dafür sowohl die nach
völkischen Kriterien vollzogene Balkanpolitik
Deutschlands als auch die Afrikapolitik Frankreichs
an Hand kolonialer Traditionslinien bezeichnend.
Heute wird der Unterschied zwischen den
Konkurrenzmächten im Nahen und Mittleren Osten
besonders deutlich.
Die EU ist hier seit Jahren um eine strategische
Partnerschaft mit den Ländern der Region bemüht.
„Die Araber ziehen diesen Ansatz dem aus Washington
vor“,
schreibt die „FAZ“. Der Unterschied zwischen den USA
und Europa liegt nach den Worten des deutschen
Außenministers darin, „ob (...) eine kooperative
oder eine konfrontative Perspektive gegenüber dem
arabisch-islamischen Krisengürtel“ eingenommen wird.
Die Differenzen im „Nahost-Quartett“ bei der
Ausarbeitung eines Friedensplans für Israel und die
palästinensischen Autonomiegebiete verdeutlichten
dies zweifelsfrei. Während die EU sich auch
gegenüber terroristischen und antisemitischen
Organisationen wie der Hamas kooperationsbereit
zeigte, setzte die amerikanische Seite in viel
stärkerem Maße auf das Selbstverteidigungsrecht
Israels und die Ausschaltung des Terrors als
Voraussetzung für eine friedliche Zweistaatenlösung.
Auch mit der finanziellen Unterstützung der
Palästinensischen Autonomiebehörde durch die EU
zeichnen sich die unterschiedlichen Ansätze in der
Nahost-Politik ab. Dass im europäischen Bestreben,
rund um das Mittelmeer eine Freihandels- und
Einflusszone zu verwirklichen, nicht nur das
ökonomische Nutzenkalkül das politische Handeln
bestimmt, ist offensichtlich. Neben dem
geostrategischen Ziel weitgehend unabhängig von den
USA eine regionale Sicherheitsstruktur zu
verwirklichen, werden entsprechende Schritte auch
von anderen ideologischen Faktoren beeinflusst. Vom
offensichtlichen Antiamerikanismus über die
Spielarten des europäischen Antisemitismus bis zur
deutschen Geschichtspolitik.
Die Homepage des Auswärtigen Amtes überschreibt ihre
Seiten, die sich mit der Nahostpolitik befassen mit
dem Motto: „Gerade Deutschland ist moralisch
verpflichtet, dafür einzutreten, dass Juden und
Palästinenser in Sicherheit leben können.“
Die europäische Gegenmachtkonzeption enthält somit
auch einen Schuss „wahnhafter Avantgardeansprüche“
(Matthias Küntzel) der Deutschen, die sich aus
schuldabwehrender und instrumentalisierender
Erinnerungspolitik speisen.
Antiamerikanismus und Antisemitismus
Im KP-Aufruf wird einer spezifisch ideologischen
Komponente der europäischen Machtwerdung kein
besonderer Stellenwert zugemessen.
In der parolenartigen Kennzeichnung des in Europa zu
bekämpfenden Gegenstandes tauchen
„Standortnationalismus“, „Europäische Identität“,
„vielfältige Formen des Rassismus“, und besagter
„europäischer Neoliberalismus“, nicht aber
Antisemitismus und Antiamerikanismus auf.
Dass das europäischen Projekt auf der Abgrenzung
gegenüber den USA fußt, wird auch von der KP
geteilt. Es gelingt ihr aber nur zum Teil die
„Geburt Europas“ (Dominique Strauß-Kahn) aus der
Abgrenzung von Negativ- und Feindbildkonstruktionen
zu beschreiben. Auf die stereotype Entgegensetzung
von Zivilität und Kriegtreiberei, von
wohlfahrtsstaatlicher Tradition und
„Wildwest-Kapitalismus“ wird zwar verwiesen,
allerdings wird dies nicht in die Geschichte und
Gegenwart eines eben auch kulturellen
deutsch-europäischen Antiamerikanismus eingebettet.
„Der linksliberale Jürgen Habermas, unterstützt von
Jacques Derrida, propagierte die `Wiedergeburt
Europas´, in der die Europäer ihre politische und
kulturelle Identität erleben sollen. Weil auch ein
Philosoph in Verlegenheit gerät, das kollektive und
spezifisch Eigene der konkurrierenden Nationen unter
erschwerten Bedingungen der gleichförmigen
kapitalistischen Produktion zu bestimmen, hilft ihm
das probate Mittel, einen starken Gegner zu nennen,
dem man militärisch wie wirtschaftlich ohnehin
unterlegen ist und der deshalb besonders gut
schmiert.“
Der Antiamerikanismus, den die KP hier Deutschland
und Europa attestiert, ist nur „Mittel“ nicht
folgenreiche und potentiell sich vom ökonomischen
Nutzen abkoppelnde Ideologie. So ist es zwar
richtig, den europäischen Anspruch, die
internationalen Beziehungen zu verrechtlichen, als
Versuch der Auflösung der amerikanischen Hegemonie
zu beschreiben. Allerdings ist die Sache nur mit der
Beschreibung des instrumentellen Charakters nicht
umfassend erklärt und ignoriert dazu noch, dass dem
sowohl zweck- als auch wertrational bestimmten Ziel,
europäische Einflusszunahme über
Völker-Verrechtlichung zu erreichen, auch eine Reihe
klassischer kultureller Ressentiments zur Seite
gestellt werden. Dass Deutschland und Europa für die
Menschenrechte eintreten, ist nicht zufällig sondern
geht auf den traditionell antiamerikanischen Diskurs
zurück, der bereits Anfang des 20 Jahrhunderts Moral
und Kultur gegen Interesse stellte.
Die Gleichsetzung der USA mit Materialismus,
Machtpolitik und ihre Stilisierung zur „Heimat des
Mehrwerts“ (Enzensberger) ist bis heute in Europa
aktuell. Dem korrespondiert eine europäische Angst
der hiesige Werte- und Kulturpool könne durch
amerikanische Dekadenz überschwemmt werden. Wenn
Habermas in seinem Plädoyer für eine europäische
Geschichtsbetrachtung die postfaschistischen Staaten
des Kontinents und seine ehemaligen Kolonialmächte
mit Verweis auf römisches Recht und Code Napoléon
daran erinnert, dass sie nicht nur die
BegründerInnen, sondern auch die ursprünglichsten
BewahrerInnen von bürgerlich-urbanen Lebensformen,
Demokratie und Menschenrechten sind und zudem für
eine „moralische Konkurrenz“ zu Amerika einfordert,
dann ist dies nicht nur Ausdruck eines „probaten
Mittels“ für die angestrebte „Balance of Power“
sondern vielmehr noch Anzeichen für die Lebendigkeit
einer riesengroßen Portion antiamerikanischen
Dünkels in Europa.
Der Unterbelichtung des Antiamerikanismus
korrespondiert eine Wahrnehmungsschwäche der
Bedeutung des Antisemitismus für die europäische
Identitätsbildung.
Dabei müsste bekannt sein, dass in Europa
antisemitische und antizionistische Einstellungen
das Meinungsbild breiter Bevölkerungskreise
durchziehen.
In der EU existieren traditionelle judenfeindliche
Ressentiments neben schuldabwehrenden
antisemitischen Reflexen. Hinzu kommt der Judenhass
eines großen Teils der migrantischen Communitys.
Die Bedrohung für Juden in Europa war lange nicht so
groß wie heute. Die heimliche und offene
Kollaboration europäischer Institutionen mit
islamischen Gruppen in Nahost
ist dabei auf der selben ideologischen Ebene
gelagert wie das ständige Drängen offizieller
europäischer Vertreter und Medien in Richtung
Israel, doch einzusehen, dass Selbstmordanschläge
genauso falsch wie gezielte Tötungen der
israelischen Armee sind. Neben sich offen
judenfeindlich offenbarenden Attacken aus der
Bevölkerung, versteckt sich die EU-offizielle
Variante des europäischen Antisemitismus oft hinter
menschenrechtlichen und zivilem Engagement. So
erfolgte die Nicht-Veröffentlichung einer Studie
über den europäischen Antisemitismus mit der
Begründung, dies könne antiarabische und
antimoslemische Tendenzen in Europa stärken.
Geschichtspolitik
Nicht nur der Antisemitismus taugt der KP nur zur
Randnotiz. Die Herausarbeitung des besonderen
Interesses der Deutschen an europäischen
Geschichtskonstruktionen vermisst man gleichfalls.
Durchaus richtig wird die europäische Perspektive
einer gemeinsamen Geschichtskonstruktion
beschrieben:
„Geschichte als europäische ist ein Potpourri
ruhmreicher oder lehrreicher Taten von der
Französischen Revolution bis Auschwitz, die
gleichermaßen schnurstracks im frohen
Fortschrittsglauben, aber mit Bedacht, verdünnt
werden. Was sich dieser Chemie nicht fügt, ist zum
Bösen des Totalitarismus destilliert, dem
Kommunismus und Nationalsozialismus eines Stoffes
sind.“
Dass Deutschland das größte Interesse daran hat,
sich mit solch einer Konstruktion aus den
Beschränkungen der Nachkriegszeit zu befreien, wird
von der KP nicht benannt.
Dem spezifisch instrumentelle Umgang der Deutschen
widmen die Berliner in ihrem Aufruf einen Satz:
„Ganz im Sinne des historical backspin faselt Joseph
Fischer da von KZs (im Bezug auf menschenrechtlich
daherkommende Kriegsbegründungen in Europa – d.A.)
und beschwört ein „Nie wieder Auschwitz“. An dieser
Stelle scheint der Aufruf nur unaktuell. Im selben
Sinnzusammenhang heißt es dann aber: „Von den
lukrativen Nebengeschäften im Irak will er (Fischer
– d.A.) nichts wissen.“
Die Ideologie ist nur aufgesetzt, um das eigentliche
ökonomische Interesse zu verdecken. Um sich in
Deutschland aber von der Schuld der Vergangenheit
lösen zu wollen, dazu braucht es keine
Handelsbeziehungen mit Bagdad. Dafür reicht die
Melange aus Opferbewusstsein und neuem Größenwahn
völlig aus.
Aktuelle
Dimensionsverschiebungen in der deutschen
Geschichtspolitik, wie die Veränderung von einer
schuldabwehrenden Verleugnungs- zur
Erinnerungsgemeinschaft im Gewande einer
gesamteuropäischen Gesprächstherapie kommen im
KP-Aufruf nur in oben zitierter Unschärfe vor. Zwar
wird die historische Gleichsetzung von Französischer
Revolution, europäischer Kolonialgeschichte und
Shoah kritisiert, die spezifisch deutsche „Opfer“-Rolle
innerhalb der Normalisierungsdiskurse der letzten
Jahre werden aber nicht betrachtet. Gerade den
Deutschen ist es über die Diskussion einer
„europäischen Geschichte“ möglich, die britischen
und amerikanischen Alliierten als die Verursacher
des „Zivilisationsbruches Dresden“ anzuklagen, die
Geschehnisse von Stalingrad unter der Opfer und
Täter gleichmachenden Rubrik „Grausamkeit des
Krieges“ zu subsumieren und in der Vertreibung der
Volksdeutschen ein dem Holocaust ebenbürtiges
Verbrechen zu sehen.
Im europäischen Geschichtswinkel ist deutsche Schuld
mehr als abgegolten. Die Europäisierung ermöglicht
Deutschland somit eine Form der Schuldabwehr auf
neuem Niveau.
Ökonomische Interessen Deutschlands
Bei so viel Ignoranz gegenüber dem spezifisch
deutschen Interessen an einer EU-Macht wundert es
nicht, dass auch der ökonomische Hauptgewinner nur
schlaglichtartig auftaucht.
„Gerade in den geografisch angrenzenden Ländern
Deutschland und Österreich, die am meisten von der
Osterweiterung profitieren, werden nationalistische
Stimmungen gegen die Erweiterung stärker.“
Ansonsten macht die KP die kapitalistische
Durchdringung der EU zur Sache „westeuropäischer
Konzerne“. Das ist nicht völlig falsch aber auch
nicht richtig.
Schon lange war klar, dass die Europäische Union
nicht zum Schaden des deutschen Kapitals
eingerichtet wird. Gerade die EU-Osterweiterung
zeigt, dass Deutschland seine ökonomische
Führungsposition in Europa ausbaut und dies mehr
bedeutet als Kapitalgewinne.
In der „FAZ“ freut sich der EU-Parlamentarier der
CDU, Elmar Brok „Das Handelsvolumen der EU mit den
zehn Beitrittskandidaten ist inzwischen größer als
mit den Vereinigten Staaten. Der deutsche Anteil
daran beträgt 45 Prozent. Wir verdienen zur Zeit an
den Beitrittskandidaten. Es muss festgehalten
werden, dass der ökonomische Nutzen (...) enorm ist“
Durch die Einbindung ganzer osteuropäischer
Wirtschaftszweige in eine von deutschen Konzernen
organisierte Arbeitsteilung erwachsen
Abhängigkeiten, die letztendlich auch die politische
Souveränität der betroffenen Staaten mindern.
Der deutsche Botschafter in Belgrad fordert die
serbische Regierung auf, ihre Entscheidung, das
größte Stahlwerks des Landes nicht an deutsche
Interessenten sondern an die meistbietenden
amerikanischen Anbieter zu verkaufen, rückgängig zu
machen und droht bei Zuwiderhandlung mit einer
Zurücknahme des in Serbien bereits wirtschaftlich
entscheidenden deutschen Investitionsaufkommens.
Leicht vorstellbar werden die möglichen politischen
Folgen der deutschen Kapitalexpansion auch bei der
Betrachtung des Zeitungswesens in ost- und
südosteuropäischen Ländern. Bis zu 80% der dortigen
Zeitungstitel werden von deutschen Kapitaleignern
vertrieben.
Als das tschechische Parlament die Forderung nach
Aufhebung der Benes-Dekrete zurückwies, reagierten
viele Kommentatoren des deutsch dominierten
Zeitungsmarktes in Tschechien mit beißender Kritik
auf die „Prager Anmaßung“.
Auch wenn die deutschfreundliche Berichterstattung
heutzutage seltener auf direkten Manipulationsdruck
zurückzuführen ist, wird doch klar, dass die
Besitzverhältnisse bei der Meinungsfindung immer ein
Wörtchen mitzureden haben. Und nicht zu letzt
sollten kritische Stimmen aus Polen aufhorchen
lassen, welche die Verquickung von Kapitalexport und
politischer Einflussnahme Berlins in Anspielung auf
Konzepte deutscher Geopolitik als „Drang nach Osten“
bezeichnen, der einer Kolonialisierung gleiche.
Zweifelsohne, mit der Osterweiterung der EU gelingt
Deutschland die Schaffung eines Hinterhofes und
damit die Verwirklichung eines Ziels, mit dem es in
zwei Weltkriegen gescheitert war. Die
gebetsmühlenartige Wiederholung der Phrase, der
NS-Nachfolgestaat hätte seine Lehren aus der
Vergangenheit gezogen, hat also durchaus einen
realen Kern.
Fazit
Der Aufruf der KP und PostpessimistIn ist nur
bedingt für die Kritik der Gegenmacht Europa
geeignet. In dem die beiden Gruppen versuchen die
europäische Integration und die europäische
Außenpolitik auf den analytischen Begriff des
„Neoliberalismus“ zu bringen, verfehlen sie eine
kennzeichnende Beschreibung der europäischen
Konstellation. Damit gelingt es aber auch nicht, zu
begründen, warum sich Linke gerade jetzt und warum
überhaupt gegen dieses Europa wenden sollte.
Hauptanklagepunkt bleibt ein allgemeiner
Neoliberalismus dem alle Phänomene in einer Art
Zweck-Mittel-Relation untergeordnet sind. So scheint
die Kritik an der europäischen Identität äußerst
halbgewalkt und beliebig. Nimmt man den analytischen
Bausatz ernst, könnte man sich demnächst auch der
Agitation gegen die Nordamerikanische
Freihandelszone widmen. Der Ansatz der KP ist nicht
ein sich gegenwärtig massiv Bahn brechender
europäischer Nationalismus, der sich in seiner
Verwirklichungsphase aus dem Fundus kolonialer,
völkischer, antiamerikanischer und antisemitischer
Ideologien bedient, noch geht es ihr darum, den
besonderen deutschen Beitrag und Gewinn an diesem
Projekt in den Fokus ihrer Kritik zu rücken. Somit
wird auch ein neues, ideologisch aufgeladenes
Destruktionspotential in der Weltpolitik nicht
gesehen. Stattdessen sieht Berlin jedoch die
Möglichkeit mit der globalisierungskritischen
Bewegung gemeinsame Sache zu machen:
„Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf gegen den
europäischen Neoliberalismus und die vielfältigen
Formen des Rassismus ist eine Internationalisierung
der Kämpfe. Aufgabe der Linken hier ist es daher
auch, Bündnisse mit der oft schwachen Linken in
Osteuropa zu knüpfen. Einen Anfang dieser
Zusammenarbeit gab es anlässlich der Proteste gegen
IWF und Weltbank in Prag ....Ende April gibt es eine
internationale Mobilisierung gegen ein Treffen des
WEF in Warschau.“
Und spätestens hier beißt sich die Katze in den
Schwanz. Mit ihren positiven Bezügen auf ein
„soziales und ziviles Europa“, mit ihren
antisemitischen und antiamerikanischen Inhalten
gehört die globalisierungskritische Bewegung zu den
GeburtshelferInnen einer euronationalistischen
Identität.
Mit solchen BündnispartnerInnen kann man Europa
nicht kritisieren, machen allerdings schon.
bgr/afbl/leipzig/mai
2004