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Europa macht man nicht mit Links
Kritik des Aufrufs der Berliner Gruppen „Kritik und Praxis“ und „PostpessimistIn“
anlässlich der Anti-Europa-Demo vom 30.04.04

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Europa ist bereits. Das klingt banal und doch scheint es eine notwendige Betonung. Auch wenn die europäische Integration als ein Projekt angelegt ist, welches vorerst den Status einer mit den USA ebenbürtigen Weltmacht nur beansprucht, ist die Realität doch mehr als nur vom Setzen weitreichender Zielmarken gekennzeichnet.

Mit unterschiedlichen Konjunkturen letztendlich aber doch stetig fortschreitend werden die drei Grundsäulen der Europäischen Union – die ökonomische, rechtliche und politische Integration – ausgebaut. Insbesondere aber nach dem Irak-Krieg ist dieser Prozess mit einer vorher nicht da gewesenen Intensität identitätspolitischer Diskurse verknüpft. „Wer jetzt nicht begreift, dass (...) vieles auf Europa zuläuft, der wird es nie begreifen“, so heißt es in einem programmatischen Papier der SPD-Bundestagsfraktion.[1] Und wirklich, es vergeht hierzulande kein Tag, an dem nicht über die Bedingungen und Möglichkeiten eines europäischen Nationalbewusstseins geforscht, öffentlich sinniert, geredet und geschrieben wird. Europa sei im „Wissen und Denken (zu) verankern“, damit die Menschen bereit sind „für die gemeinsame Zukunft Mühen und Kosten auf sich zu nehmen“[2]. So das Motto der deutschen Altphilologen bei ihrem diesjährigem Jahrestreffen. Wenn eine qua Berufsstand verstaubte Wissenschaftsspezies wie diese zur Zielvorstellung „europäische Identitätsbildung“ findet, dann muss jene hierzulande bereits eine Art intellektuelles Konsensprogramm sein.

Die Dichte der gegenwärtigen euronationalistischen Diskurse zeigt an, dass wir uns in einer Hochphase der Konstitution einer europäischen Großmacht befinden. Auf der Identifikationsebene wurde Europa nie mehr gemacht als heute. Gerade deshalb verdiente es von linker Seite den schärfsten antinationalen Protest.

Bündnispolitik

Insofern standen wir dem Anliegen der Gruppe Kritik und Praxis aus Berlin am Vorabend der offiziellen EU-Osterweiterungsfeiern eine europakritische Demonstration zu veranstalten, sehr offen gegenüber. Gerne hätte wir mit der Gruppe und anderen Interessierten politischen Initiativen über die angesichts der Realität notwendige Schwerpunktsetzung einer Protestaktion diskutiert. Allein es war nicht möglich.

Die KP hat sich – wie leidlich schon bekannt aus Zeiten revolutionärer 1. Mai-Demonstrationen der Vorgängerorganisation AAB – damit abgefunden, dem linken Publikum kurz vorm Aktionstermin einen Aufruf und damit die inhaltliche Prämissen vor die Nase zu setzen. Diese lassen sich dann mit einer symbolischen Unterschrift unter Plakat und/oder Aufruf, die nicht viel über den wirklichen Stand der Auseinandersetzung sagt, unterstützen. Man kann es auch lassen.

Nimmt man an, dass es ein Ziel einer Kampagne mit Demonstrationshöhepunkt ist, gerade im Vorfeld  potentielle BündnispartnerInnen von der Wichtigkeit der eigenen Inhalte zu überzeugen und den Gegenstand sowie seine spezifische Kritik auf die Agenda auch anderer linker Gruppen zu setzen, dann ist die gegenwärtige Praxis ziemlich fruchtlos. Der Raum für eine wirkliche Diskussion existiert nicht.

Mit der Praxis des abzunickenden Aufrufs werden nur diejenigen gesammelt, die sich im eigenen Gruppendunst bewegen. Und diejenigen, welche es nicht so genau wissen wollen. Inhaltlich widersprechende oder abweichende Positionen haben nur noch die Möglichkeit ihre Sicht der Dinge mit dem linken Nischenmedium ihrer Wahl darzustellen. Üblich mittlerweile, mit der Kritik an der Kritik zur Demo zu reisen.[3]

Besser, als gar nicht mehr miteinander reden zu wollen. Nur geht es bei einer Demonstration um eine öffentliche Kritik. Insofern ist es nicht das schlechteste, wenn mit einer gewissen inhaltlichen Geschlossenheit nach außen getreten wird. Die frühzeitige Vermittlung der eigenen Gruppenposition an andere Gruppen stünde einem pluralistischem Kuddelmuddel entgegen. Stoßrichtung und argumentative Überzeugungskraft einer Aktion ließen sich so um einiges steigern. Vorausgesetzt man weiß was man will.

Nach der Lektüre des Aufrufs von KP und PostpessimistIn[4] kommen diesbezüglich Zweifel auf. Denn die in der Art und Weise der Bündnispolitik angelegte praktische Unmöglichkeit einer gemeinsamen Positionsfindung korrespondiert keinesfalls mit einer inhaltlichen Stringenz, der man es aus pragmatischen Gründen nachsehen würde, dass sie sich nicht bei anderen ums gemeinsame Handeln müht. Im Gegenteil. Auf der inhaltlichen Ebene böte der Aufruf die Grundlage für ein Bündnis, dass so breit ist, dass nicht mehr klar ist, für was es steht. So drängt sich der Verdacht auf, dass die mangelnde Vermittlungstätigkeit der Berliner Vorbereitungsgruppe gegenüber anderen dezidiert europakritischen Gruppen auch dem politischen Willen geschuldet ist, auf der Ebene der öffentlichen Repräsentation eine weitgehende Anschlussfähigkeit im linken Bewegungsspektrum zu demonstrieren.

Kapitalistische Konkurrenz oder alternative Weltordnung?

Für die KP ist die Europäische Union „Ausdruck des großen Falschen und damit Ziel unserer Kritik“.[5] Das klingt zunächst nach sattsam bekannter antikapitalistischer Rhetorik. Vor allem begründet es noch nicht, warum der Ansatz der Kritik gerade am Gegenstand der EU ansetzt. Nicht viel präziser als linke Analyseraster a là „Junge Linke“, mit welchen alle gesellschaftlichen Entwicklungen auf die immergleichen „Bewegungsgesetze des Kapitals“[6] runtergebrochen werden und mit der Benennung des staatlichen und kapitalimmanenten Charakters der europäischen Integration die Notwendigkeit zur Kritik weitgehend begründet scheint, erklärt auch die KP:

„Die EU ist nicht Gegner neoliberaler Globalisierungspolitik, sondern vor allem Akteur.“

Im Aufruf wird diese Zuschreibung mit der Rolle Europas bei der Schaffung von Freihandelszonen, dem Liberalisierungsprojekt europäischer Binnenmarkt und den sozialpolitischen Anpassungsmaßnahmen insbesondere der Osterweiterungsstaaten an die gegenwärtigen Standards der Kapitalverwertung belegt. Die unter dem Begriff „Neoliberalismus“ subsumierten Phänomene lassen sich nicht von der Hand weisen. Schnell wird allerdings deutlich, dass die begriffliche Nähe des KP-Aufrufs zu Attac & Co eine inhaltliche Entsprechung hat. Die EU wird als Agent des weltweiten Neoliberalismus zum Ziel der Agitation. Spezifische Gründe, warum eine Linke gegen die entstehende EU-Macht Widerstand leisten sollte, werden durch die vorangestellte Ableitungslogik von vorneherein entwertet: Als „Sachwalterin von Kapitalinteressen im globalen Maßstab“ wird ihre Entstehung und ihr Handeln anderen neoliberalen Projekten tendenziell gleichgemacht.

Wie die USA und Ostasien müsse auch die EU als normaler Bestandteil einer aus den „Fragmentierungsprozessen des globalisierten Kapitalismus“ entstehenden Triade, welche den anderen Blöcken in Konkurrenz entgegentritt, angesehen werden.

Die Betonung des Allgemeinen wird bei der Verklärung oder Auslassung des Spezifischen falsch. Im KP-Aufruf wird dies explizit: „Die unterschiedlichen Varianten dieser weltweiten Konkurrenz haben mehr mit politischer und militärischer Macht als mit unterschiedlichen Philosophien zu tun.“ Das ganze ideologische Programm der europäischen Aufholjagd, welches von der aus Geschichtskonstruktionen abgeleiteten „Friedensmacht Europa“, über den „ehrlichen Makler“ im Nahen Osten bis hin zur Selbststilisierung als sozialpolitischem Widerpart des amerikanischen „Sharholder-Kapitalismus“ reicht, wird hier zu einem ideologischen Anhängsel ohne eigene Qualität erklärt. In dem Versuch Europa auf den Begriff des Neoliberalismus zu bringen, wird der aggressive Kurs der Europäer in Richtung Weltgeltung verniedlicht.

Problematisch ist diese Sichtweise schon deshalb, weil sie die bereits existierenden Unterschiede der alternativen Weltordnungskonzepte nicht beachtet.

Betrachtet man die Sicherheitsstrategie der Europäer (ESS), so wie sie auf dem Gipfel der EU-Staaten im Sommer 2003 in Thessaloniki beschlossen wurde, dann fällt die weitreichende Identität mit der US-amerikanischen Sicherheitsdoktrin auf.[7] Als Legitimation für die weltweite und nötigenfalls auch präventive Intervention werden neben dem geostrategischen Interessen an der Sicherung der Energieexporte für die europäische Wirtschaft ebenso Bedrohungsszenarien wie der internationale Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und das Auseinanderfallen staatlicher Systeme angeführt. Auch die Verpflichtungen zur Aufrüstung und Effektivitätssteigerung des Militärpotentials markieren keinen Unterschied.

Doch dabei bleibt es nicht. Die ideologisch begründete Stoßrichtung gegen die „amerikanische Weltunordnung“ wird deutlich, wenn die Europäer die Stärkung einer „normengestützten Weltordnung“ sowie ihre vermeintliche „Tradition des Multilateralismus“ betonen. „So wie die Europäische Union eine neuartige Formation auf der Weltbühne darstellt, wird auch ihre Außenpolitik einen neuen Charakter aufweisen.“[8]

Was im Kommentar einer regierungsnahen Institutionen als zentraler Unterschied der Sicherheitsstrategien herausgestellt wird, ist mehr als nur das Allgemeine eines ethischen Imperialismus des Westens.

„Wir brauchen eine genuin europäische Vision des Völkerrechts, die ein leuchtendes Beispiel geben kann“, forderte der Menschenrechtsexperte Philip Alston auf der Gründungskonferenz der „European Society of International Law“ im Mai diesen Jahres.[9] Die Aufholjagd der europäischen Gegenmacht verbindet sich mit einer moralischen Legitimation, die sich deutlich gegen die westliche Vormacht wendet und auf die ideologische Anschlussfähigkeit der Peripherie setzt.

Die jüngste Vergangenheit europäischer Außenpolitik zeigt darüber hinaus, dass Traditionen deutscher und französischer Machtpolitik Konfliktbewertungen und strategische Optionen in hohem Maße mitbestimmen.

Anfang der 90er Jahre war dafür sowohl die nach völkischen Kriterien vollzogene Balkanpolitik Deutschlands als auch die Afrikapolitik Frankreichs an Hand kolonialer Traditionslinien bezeichnend.[10] Heute wird der Unterschied zwischen den Konkurrenzmächten im Nahen und Mittleren Osten besonders deutlich.

Die EU ist hier seit Jahren um eine strategische Partnerschaft mit den Ländern der Region bemüht. „Die Araber ziehen diesen Ansatz dem aus Washington vor“[11], schreibt die „FAZ“. Der Unterschied zwischen den USA und Europa liegt nach den Worten des deutschen Außenministers darin, „ob (...) eine kooperative oder eine konfrontative Perspektive gegenüber dem arabisch-islamischen Krisengürtel“ eingenommen wird.[12] Die Differenzen im „Nahost-Quartett“ bei der Ausarbeitung eines Friedensplans für Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete verdeutlichten dies zweifelsfrei. Während die EU sich auch gegenüber terroristischen und antisemitischen Organisationen wie der Hamas kooperationsbereit zeigte, setzte die amerikanische Seite in viel stärkerem Maße auf das Selbstverteidigungsrecht Israels und die Ausschaltung des Terrors als Voraussetzung für eine friedliche Zweistaatenlösung. Auch mit der finanziellen Unterstützung der Palästinensischen Autonomiebehörde durch die EU zeichnen sich die unterschiedlichen Ansätze in der Nahost-Politik ab. Dass im europäischen Bestreben, rund um das Mittelmeer eine Freihandels- und Einflusszone zu verwirklichen, nicht nur das ökonomische Nutzenkalkül das politische Handeln bestimmt, ist offensichtlich. Neben dem geostrategischen Ziel weitgehend unabhängig von den USA eine regionale Sicherheitsstruktur zu verwirklichen, werden entsprechende Schritte auch von anderen ideologischen Faktoren beeinflusst. Vom offensichtlichen Antiamerikanismus über die Spielarten des europäischen Antisemitismus bis zur deutschen Geschichtspolitik.

Die Homepage des Auswärtigen Amtes überschreibt ihre Seiten, die sich mit der Nahostpolitik befassen mit dem Motto: „Gerade Deutschland ist moralisch verpflichtet, dafür einzutreten, dass Juden und Palästinenser in Sicherheit leben können.“[13] Die europäische Gegenmachtkonzeption enthält somit auch einen Schuss „wahnhafter Avantgardeansprüche“ (Matthias Küntzel) der Deutschen, die sich aus schuldabwehrender und instrumentalisierender Erinnerungspolitik speisen.

Antiamerikanismus und Antisemitismus 

Im KP-Aufruf wird einer spezifisch ideologischen Komponente der europäischen Machtwerdung kein besonderer Stellenwert zugemessen.

In der parolenartigen Kennzeichnung des in Europa zu bekämpfenden Gegenstandes tauchen „Standortnationalismus“, „Europäische Identität“, „vielfältige Formen des Rassismus“, und besagter „europäischer Neoliberalismus“, nicht aber Antisemitismus und Antiamerikanismus auf.

Dass das europäischen Projekt auf der Abgrenzung gegenüber den USA fußt, wird auch von der KP geteilt. Es gelingt ihr aber nur zum Teil die „Geburt Europas“ (Dominique Strauß-Kahn) aus der Abgrenzung von Negativ- und Feindbildkonstruktionen zu beschreiben. Auf die stereotype Entgegensetzung von Zivilität und Kriegtreiberei, von wohlfahrtsstaatlicher Tradition und „Wildwest-Kapitalismus“ wird zwar verwiesen, allerdings wird dies nicht in die Geschichte und Gegenwart eines eben auch kulturellen deutsch-europäischen Antiamerikanismus eingebettet.

„Der linksliberale Jürgen Habermas, unterstützt von Jacques Derrida, propagierte die `Wiedergeburt Europas´, in der die Europäer ihre politische und kulturelle Identität erleben sollen. Weil auch ein Philosoph in Verlegenheit gerät, das kollektive und spezifisch Eigene der konkurrierenden Nationen unter erschwerten Bedingungen der gleichförmigen kapitalistischen Produktion zu bestimmen, hilft ihm das probate Mittel, einen starken Gegner zu nennen, dem man militärisch wie wirtschaftlich ohnehin unterlegen ist und der deshalb besonders gut schmiert.“

Der Antiamerikanismus, den die KP hier Deutschland und Europa attestiert, ist nur „Mittel“ nicht folgenreiche und potentiell sich vom ökonomischen Nutzen abkoppelnde Ideologie. So ist es zwar richtig, den europäischen Anspruch, die internationalen Beziehungen zu verrechtlichen, als Versuch der Auflösung der amerikanischen Hegemonie zu beschreiben. Allerdings ist die Sache nur mit der Beschreibung des instrumentellen Charakters nicht umfassend erklärt und ignoriert dazu noch, dass dem sowohl zweck- als auch wertrational bestimmten Ziel, europäische Einflusszunahme über Völker-Verrechtlichung zu erreichen, auch eine Reihe klassischer kultureller Ressentiments zur Seite gestellt werden. Dass Deutschland und Europa für die Menschenrechte eintreten, ist nicht zufällig sondern geht auf den traditionell antiamerikanischen Diskurs zurück, der bereits Anfang des 20 Jahrhunderts Moral und Kultur gegen Interesse stellte.[14] Die Gleichsetzung der USA mit Materialismus, Machtpolitik und ihre Stilisierung zur „Heimat des Mehrwerts“ (Enzensberger) ist bis heute in Europa aktuell. Dem korrespondiert eine europäische Angst der hiesige Werte- und Kulturpool könne durch amerikanische Dekadenz überschwemmt werden. Wenn Habermas in seinem Plädoyer für eine europäische Geschichtsbetrachtung die postfaschistischen Staaten des Kontinents und seine ehemaligen Kolonialmächte mit Verweis auf römisches Recht und Code Napoléon daran erinnert, dass sie nicht nur die BegründerInnen, sondern auch die ursprünglichsten BewahrerInnen von bürgerlich-urbanen Lebensformen, Demokratie und Menschenrechten sind und zudem für eine „moralische Konkurrenz“ zu Amerika einfordert, dann ist dies nicht nur Ausdruck eines „probaten Mittels“ für die angestrebte „Balance of Power“ sondern vielmehr noch Anzeichen für die Lebendigkeit einer riesengroßen Portion antiamerikanischen Dünkels in Europa.[15]

Der Unterbelichtung des Antiamerikanismus korrespondiert eine Wahrnehmungsschwäche der Bedeutung des Antisemitismus für die europäische Identitätsbildung.

Dabei müsste bekannt sein, dass in Europa antisemitische und antizionistische Einstellungen das Meinungsbild breiter Bevölkerungskreise durchziehen.[16] In der EU existieren traditionelle judenfeindliche Ressentiments neben schuldabwehrenden antisemitischen Reflexen. Hinzu kommt der Judenhass eines großen Teils der migrantischen Communitys.[17] Die Bedrohung für Juden in Europa war lange nicht so groß wie heute. Die heimliche und offene Kollaboration europäischer Institutionen mit islamischen Gruppen in Nahost[18] ist dabei auf der selben ideologischen Ebene gelagert wie das ständige Drängen offizieller europäischer Vertreter und Medien in Richtung Israel, doch einzusehen, dass Selbstmordanschläge genauso falsch wie gezielte Tötungen der israelischen Armee sind. Neben sich offen judenfeindlich offenbarenden Attacken aus der Bevölkerung, versteckt sich die EU-offizielle Variante des europäischen Antisemitismus oft hinter menschenrechtlichen und zivilem Engagement. So erfolgte die Nicht-Veröffentlichung einer Studie über den europäischen Antisemitismus mit der Begründung, dies könne antiarabische und antimoslemische Tendenzen in Europa stärken.[19]

Geschichtspolitik

Nicht nur der Antisemitismus taugt der KP nur zur Randnotiz. Die Herausarbeitung des besonderen Interesses der Deutschen an europäischen Geschichtskonstruktionen vermisst man gleichfalls. Durchaus richtig wird die europäische Perspektive einer gemeinsamen Geschichtskonstruktion beschrieben:

„Geschichte als europäische ist ein Potpourri ruhmreicher oder lehrreicher Taten von der Französischen Revolution bis Auschwitz, die gleichermaßen schnurstracks im frohen Fortschrittsglauben, aber mit Bedacht, verdünnt werden. Was sich dieser Chemie nicht fügt, ist zum Bösen des Totalitarismus destilliert, dem Kommunismus und Nationalsozialismus eines Stoffes sind.“

Dass Deutschland das größte Interesse daran hat, sich mit solch einer Konstruktion aus den Beschränkungen der Nachkriegszeit zu befreien, wird von der KP nicht benannt.

Dem spezifisch instrumentelle Umgang der Deutschen widmen die Berliner in ihrem Aufruf einen Satz: „Ganz im Sinne des historical backspin faselt Joseph Fischer da von KZs (im Bezug auf menschenrechtlich daherkommende Kriegsbegründungen in Europa – d.A.) und beschwört ein „Nie wieder Auschwitz“. An dieser Stelle scheint der Aufruf nur unaktuell. Im selben Sinnzusammenhang heißt es dann aber: „Von den lukrativen Nebengeschäften im Irak will er (Fischer – d.A.) nichts wissen.“

Die Ideologie ist nur aufgesetzt, um das eigentliche ökonomische Interesse zu verdecken. Um sich in Deutschland aber von der Schuld der Vergangenheit lösen zu wollen, dazu braucht es keine Handelsbeziehungen mit Bagdad. Dafür reicht die Melange aus Opferbewusstsein und neuem Größenwahn völlig aus.

Aktuelle Dimensionsverschiebungen in der deutschen Geschichtspolitik, wie die Veränderung von einer schuldabwehrenden Verleugnungs- zur Erinnerungsgemeinschaft im Gewande einer gesamteuropäischen Gesprächstherapie kommen im KP-Aufruf nur in oben zitierter Unschärfe vor. Zwar wird die historische Gleichsetzung von Französischer Revolution, europäischer Kolonialgeschichte und Shoah kritisiert, die spezifisch deutsche „Opfer“-Rolle innerhalb der Normalisierungsdiskurse der letzten Jahre werden aber nicht betrachtet. Gerade den Deutschen ist es über die Diskussion einer „europäischen Geschichte“ möglich, die britischen und amerikanischen Alliierten als die Verursacher des „Zivilisationsbruches Dresden“ anzuklagen, die Geschehnisse von Stalingrad unter der Opfer und Täter gleichmachenden Rubrik „Grausamkeit des Krieges“ zu subsumieren und in der Vertreibung der Volksdeutschen ein dem Holocaust ebenbürtiges Verbrechen zu sehen.[20] Im europäischen Geschichtswinkel ist deutsche Schuld mehr als abgegolten. Die Europäisierung ermöglicht Deutschland somit eine Form der Schuldabwehr auf neuem Niveau.[21]

Ökonomische Interessen Deutschlands

Bei so viel Ignoranz gegenüber dem spezifisch deutschen Interessen an einer EU-Macht wundert es nicht, dass auch der ökonomische Hauptgewinner nur schlaglichtartig auftaucht.

„Gerade in den geografisch angrenzenden Ländern Deutschland und Österreich, die am meisten von der Osterweiterung profitieren, werden nationalistische Stimmungen gegen die Erweiterung stärker.“

Ansonsten macht die KP die kapitalistische Durchdringung der EU zur Sache „westeuropäischer Konzerne“. Das ist nicht völlig falsch aber auch nicht richtig.

Schon lange war klar, dass die Europäische Union nicht zum Schaden des deutschen Kapitals eingerichtet wird. Gerade die EU-Osterweiterung zeigt, dass Deutschland seine ökonomische Führungsposition in Europa ausbaut und dies mehr bedeutet als Kapitalgewinne.

In der „FAZ“ freut sich der EU-Parlamentarier der CDU, Elmar Brok „Das Handelsvolumen der EU mit den zehn Beitrittskandidaten ist inzwischen größer als mit den Vereinigten Staaten. Der deutsche Anteil daran beträgt 45 Prozent. Wir verdienen zur Zeit an den Beitrittskandidaten. Es muss festgehalten werden, dass der ökonomische Nutzen (...) enorm ist“[22]

Durch die Einbindung ganzer osteuropäischer Wirtschaftszweige in eine von deutschen Konzernen organisierte Arbeitsteilung erwachsen Abhängigkeiten, die letztendlich auch die politische Souveränität der betroffenen Staaten mindern.

Der deutsche Botschafter in Belgrad fordert die serbische Regierung auf, ihre Entscheidung, das größte Stahlwerks des Landes nicht an deutsche Interessenten sondern an die meistbietenden amerikanischen Anbieter zu verkaufen, rückgängig zu machen und droht bei Zuwiderhandlung mit einer Zurücknahme des in Serbien bereits wirtschaftlich entscheidenden deutschen Investitionsaufkommens.[23]

Leicht vorstellbar werden die möglichen politischen Folgen der deutschen Kapitalexpansion auch bei der Betrachtung des Zeitungswesens in ost- und südosteuropäischen Ländern. Bis zu 80% der dortigen Zeitungstitel werden von deutschen Kapitaleignern vertrieben.[24] Als das tschechische Parlament die Forderung nach Aufhebung der Benes-Dekrete zurückwies, reagierten viele Kommentatoren des deutsch dominierten Zeitungsmarktes in Tschechien mit beißender Kritik auf die „Prager Anmaßung“.[25] Auch wenn die deutschfreundliche Berichterstattung heutzutage seltener auf direkten Manipulationsdruck zurückzuführen ist, wird doch klar, dass die Besitzverhältnisse bei der Meinungsfindung immer ein Wörtchen mitzureden haben. Und nicht zu letzt sollten kritische Stimmen aus Polen aufhorchen lassen, welche die Verquickung von Kapitalexport und politischer Einflussnahme Berlins in Anspielung auf Konzepte deutscher Geopolitik als „Drang nach Osten“ bezeichnen, der einer Kolonialisierung gleiche.[26]

Zweifelsohne, mit der Osterweiterung der EU gelingt Deutschland die Schaffung eines Hinterhofes und damit die Verwirklichung eines Ziels, mit dem es in zwei Weltkriegen gescheitert war. Die gebetsmühlenartige Wiederholung der Phrase, der NS-Nachfolgestaat hätte seine Lehren aus der Vergangenheit gezogen, hat also durchaus einen realen Kern.

Fazit

Der Aufruf der KP und PostpessimistIn ist nur bedingt für die Kritik der Gegenmacht Europa geeignet. In dem die beiden Gruppen versuchen die europäische Integration und die europäische Außenpolitik auf den analytischen Begriff des „Neoliberalismus“ zu bringen, verfehlen sie eine kennzeichnende Beschreibung der europäischen Konstellation. Damit gelingt es aber auch nicht, zu begründen, warum sich Linke gerade jetzt und warum überhaupt gegen dieses Europa wenden sollte. Hauptanklagepunkt bleibt ein allgemeiner Neoliberalismus dem alle Phänomene in einer Art Zweck-Mittel-Relation untergeordnet sind. So scheint die Kritik an der europäischen Identität äußerst halbgewalkt und beliebig. Nimmt man den analytischen Bausatz ernst, könnte man sich demnächst auch der Agitation gegen die Nordamerikanische Freihandelszone widmen. Der Ansatz der KP ist nicht ein sich gegenwärtig massiv Bahn brechender europäischer Nationalismus, der sich in seiner Verwirklichungsphase aus dem Fundus kolonialer, völkischer, antiamerikanischer und antisemitischer Ideologien bedient, noch geht es ihr darum, den besonderen deutschen Beitrag und Gewinn an diesem Projekt in den Fokus ihrer Kritik zu rücken. Somit wird auch ein neues, ideologisch aufgeladenes Destruktionspotential in der Weltpolitik nicht gesehen. Stattdessen sieht Berlin jedoch die Möglichkeit mit der globalisierungskritischen Bewegung gemeinsame Sache zu machen:

„Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf gegen den europäischen Neoliberalismus und die vielfältigen Formen des Rassismus ist eine Internationalisierung der Kämpfe. Aufgabe der Linken hier ist es daher auch, Bündnisse mit der oft schwachen Linken in Osteuropa zu knüpfen. Einen Anfang dieser Zusammenarbeit gab es anlässlich der Proteste gegen IWF und Weltbank in Prag ....Ende April gibt es eine internationale Mobilisierung gegen ein Treffen des WEF in Warschau.“

Und spätestens hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Mit ihren positiven Bezügen auf ein „soziales und ziviles Europa“, mit ihren antisemitischen und antiamerikanischen Inhalten gehört die globalisierungskritische Bewegung zu den GeburtshelferInnen einer euronationalistischen Identität.[27] Mit solchen BündnispartnerInnen kann man Europa nicht kritisieren, machen allerdings schon.

bgr/afbl/leipzig/mai 2004


[1] Zit. n. Arno Neuber: Militärmacht Europa, ISW-Report, Nr. 56, München 2003, S. 13.

[2] FAZ, 15.04.04, S.1.

[3] Vgl. das KP-kritische Flugblatt von „Jimmy Boyle“: Pessimismus statt Europa, http://www.junge-linke.de

[4] Vgl. http://www.kp-berlin.de, od.: http/:/www.postpessimist.net

[5] Alle nicht extra gekennzeichneten Zitate entstammen dem KP/PostpessimistIn-Aufruf.

[6] Hier: Jimmy Boyle: Pessimismus statt Europa, a.a.O.

[7] Vgl. Javier Solana : Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/solana-papier.html

[8] Sascha Müller-Kraenner: Diesseits des transatlantischen Verhältnisses. Europas neue Sicherheitsstrategie im Vergleich zu den Plänen der US Regierung George W. Bushs, http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/hbs.html

[9] FAZ, 18.05.04, S.37.

[10] Vgl. zur postkolonialen Afrikapolitik Frankreichs u.a.: Ruben Eberlein: Die Freunde der Hutu-Power, http://jungle-world.com/seiten/2004/15/2921.php

[11] FAZ, 12..05.04, S. 6.

[12] Matthias Küntzel: Eine reife Leistung. Vom Fischer-Plan zur Road Map: zum deutschen Debüt im Nahostkonflikt, in: Jungle World, Nr. 40, 24.09.03, D4.

[13] Zit. n. Matthias Küntzel: Mein Israel. Wie Joschka Fischer Friedenpolitik betreibt, Jungle World, Nr. 40, 24.09.04, D1.

[14] Vgl. Dan Dinner: Feinbild Amerika, Berlin 2002.

[15] Vgl. Jacques Derrida/Jürgen Habermas: Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: FAZ, 31.05.03, S. 33. Und: Gustav Seibt: Bitte keine Empfindlichkeiten. Jürgen Habermas streitet in Berlin weiter für Europa, in: SZ, 30.06.03, S. 15.

[16] Vgl. die Studie zum europäischen Antisemitismus: http://www.eumc.eu.int/eumc/index.php oder auch: Phase 2/Berlin: Europa wehrt ab, in: Phase 2, Nr. 11, März 04, S. 25ff.

[17] Vgl. Henriette Glaas/Max Sander: Les deux niveuaux de la haine, in: Phase 2, Nr. 10, Dezember 2003, S. 14-18. 

[18] Vgl. den Artikel von Phase 2/Leipzig „Die ehrlichen Makler“ in diesem Heft.

[19] Vgl. Phase 2/Berlin: Europa wehrt ab, a.a.O.

[20] Vgl. Phase 2/Leipzig: Die Viktimisierung der Deutschen, in: Phase 2, Nr.10, Dezember 2003, S. 45-49.

[21] Vgl. Phase 2/Leipzig: German Gedächtnis – das Konzept einer feindlichen Übernahme, in: Phase 2, Nr. 9 September 03, S. 8-12.

[22] FAZ, 01.03.04, S. 10.

[23] Vgl. http://www.german-foreign-policy.com/de/news/article/1055023200.php

[24] Vgl. http://www.german-foreign-policy.com/de/news/article/1068850800.php

[25] Vgl. http://www.german-foreign-policy.com/de/news/article/1018296777.php

[26] Vgl. http://www.german-foreign-policy.com/de/news/article/1057183201.php

[27] Vgl. bgr/Leipzig: Der große Perspektiven-Schwindel, in: Phase 2, Nr. 10, Dezember 2003, S. 36-40.

 

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