Wenn das BgR die
deutsche Gesellschaft als Zivilgesellschaft kritisiert, erfolgen
in der Regel zweierlei Distanzierungen. Auf der einen Seite
distanziert sich, wer Zivilgesellschaft ist oder auf sie setzt –
als kleineres Übel oder als nur noch im Feinschliff zu
korrigierendes Potenzial. Auf der anderen Seite erfolgt der
Vorwurf, die Analyse des BgR würde vor einer völkischen Totalität
der Deutschen kapitulieren, sie nicht erkennen oder Teil des
ganzen sein. Mit letzterer Position wollen wir uns beschäftigen.
Wir begrüßen es,
wenn schärfst mögliche Kritik an der deutschen Gesellschaft
formuliert wird. In diesem Sinne kann es strategisch legitim sein,
von Volksgemeinschaft zu sprechen. Die Schärfe des Angriffs ergibt
sich aber nicht aus der puren Wucht der Worte, sondern in seiner
Zielgenauigkeit. Wer die Gesellschaft nicht erfasst, trifft sie
nicht oder eben nicht zentral.
Die deutsche
Gesellschaft ist als Zivilgesellschaft alles andere als harmlos:
kapitalistisch modernisiert, eine zunehmend offensive Weltpolitik
betreibend, voller eurohegemonialer und antiamerikanischer
Ambitionen, antisemitisch und rassistisch, immer neue Modi der
Entsorgung des Schuld durch die NS-Vernichtung projektierend,
gleichzeitig mit starken Kontinuitäten damit verbunden. Elemente
der Volksgemeinschaft müssen identifiziert und angegriffen werden.
Die Inflationierung des Totalität beanspruchenden Begriffs der
Volksgemeinschaft zeigt aber, dass weder begriffen wurde, was
Volksgemeinschaft bedeutete, noch wie die deutsche Gesellschaft
als Zivilgesellschaft funktioniert. Das Problem auch des
taktischen Umgangs mit dem Begriff der Volksgemeinschaft ist der
diesem Umgang inhärente gleichmacherische Revisionismus, eine – in
diesem Fall nichtintentionale – Verharmlosung der Taten der
Deutschen zwischen 1933 und 1945 im Kontext dessen, was sie danach
taten und tun.
Wir wollen hier
Kriterien benennen dafür, was Volksgemeinschaft des NS als
hegemoniales Projekt bedeutete, zeigen was davon sich fortsetzte
und was nicht und was heute der Modus der Mobilisierung und der
Integration der Deutschen ist: Das Projekt der Zivilgesellschaft.
Was ist Volksgemeinschaft?
Die
Volksgemeinschaft der Nazis kann, einem Ansatz von Franz Janka
folgend, als Schlüssel zur Deutung aller gesellschaftlichen
Phänomene des NS verstanden werden. Die Nazis entwickelten als
erste ein kohärentes Konzept dessen, was Volksgemeinschaft ist und
im Nationalsozialismus wurde es verwirklicht, inklusive
Rassenkrieg und Shoah. Die Deutschen institutionalisierten die
Volksgemeinschaft bis 1945 zur Totalität. Mit der Zerschlagung des
Nationalsozialismus wurde aus der Volksgemeinschaft Stückwerk und
sie wurde nie mehr dominant. Diese Nichtdominanz war mit
Sicherheit kein Verdienst der Deutschen, stellt auch keinen
Garanten einer nachhaltigen Demokratisierung dar und sie bedeutet
auch nicht, dass in der Option Volksgemeinschaft keine
Gefahr mehr bestünde. Im folgenden soll der Begriff geklärt werden
um aufzuzeigen, dass er sich nicht eignet, sorglos und beliebig
eingesetzt zu werden.
Fast alle, die
sich in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland berufen
fühlten, über Vergesellschaftung, genauer gesagt
Vergemeinschaftung nachzudenken, rekurrierten auf den
Begriff der Volksgemeinschaft. Diese wurde gegen die Weimarer
Demokratie und gegen die Moderne in Stellung gebracht. Schließlich
setzten sich die Nazis durch und akkumulierten in dem Begriff die
jeweils radikalsten Komponenten, sie übernahmen die Vorstellung
von Volk vor Staat und die einer Politisierung außerhalb von
Parteien und Parlament. Die Deutschen entwickelten im Projekt der
Volksgemeinschaft eine entsprechende Praxis.
Die Volksgemeinschaft war das Zentrum
des nationalsozialistischen Selbstverständnisses. Aus
Wörterbüchern und Lexika aus der Zeit zwischen 1934 und 1947 lässt
sich folgende Bestimmung rekonstruieren: Die Volksgemeinschaft ist
eine aus Blutsgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft,
nationalsozialistischer Glaubensgemeinschaft hervorgegangene
Lebensgemeinschaft, in der Klassen, Parteien, Standesgegensätze
und individuelle Interessen zugunsten des gemeinsamen Nutzens
aller Volksgenossen aufgehoben sein sollen.[i]
Die Deutschen kamen diesem ‚Ideal’ sehr nahe. Sie wurde realisiert
als Rassen-, bzw. Blutsgemeinschaft, als
Sozialgemeinschaft und als Rechtsgemeinschaft.[ii]
Im Kontext der
Rassen- bzw. Blutsgemeinschaft wurde ein Blutstrom als
Träger des Deutschtums gesehen, eine ‚organische Verbindung’
zwischen Einzelperson und ‚Volk’. Der Einzelne müsse bereit sein,
Opfer zu erbringen für Rassenreinheit und Erbgesundheit. Ohne Volk
würde die Einzelperson ihren Sinn verlieren. Zweck des völkischen
Staates sei die Rasse. Die Volksgemeinschaft verkörpere ein
objektives Interesse, welches über die Einzelinteressen
hinausgehe.
Die Rassen-, bzw. Blutsgemeinschaft der
‚Herrenmenschen’ schuf den Anderen, in einer radikalen
Exklusion, die bis zur Vernichtung getrieben wurde. Am
explizitesten waren die antisemitischen und die antislawischen
Feindbilder, die teilweise daraus rekrutiert wurden. Die
Vernichtungswirklichkeit von der „Endlösung der Judenfrage“ und
der begonnen Umsetzung des „Generalplan Ost“ waren auch Grundlage
der Reorganisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Die
Volksgemeinschaf als Sozialgemeinschaft sei solidarisch,
arbeitend („Stirn und Faust“), hierarchisch („Betriebsführer und
Gefolgschaft“), einig und hätte den Wiederspruch zwischen Arbeit
und Kapital überwunden. Streik stelle eine erpresserische
Forderung an die Volksgemeinschaft dar, wie auch Ausbeutung gegen
sie verstoße und einen Missbrauch der nationalen Arbeitskraft
darstelle. Der Mai-Feiertag wird Fest der arbeitenden
Volksgemeinschaft. Ohne ‚Gewerkschaftsbonzen’ müsse eine
Volkgemeinschaft auf den Betriebsgemeinschaften aufbauen. Regionen
sollen im Reich aufgehen und damit sollte die nationale die
regionale Vergesellschaftung und Identitätsbildung brechen. Die
Volksgemeinschaften formierte sich aus Untergemeinschaften:
Betriebsgemeinschaft, Hausgemeinschaft, Luftschutzgemeinschaft,
Leibeserziehungsgemeinschaft.
Die Vorstellung
der Volksgemeinschaft als Rechtsgemeinschaft findet ihren
Ausdruck in einer Tautologie: die Volksgemeinschaft sei selbst
Recht und Recht ist, was dem Volke nützt. Der Staat wird
der Volksgemeinschaft untergeordnet: „Nicht mehr der Staat gibt
dem Volk sein Recht, sondern er empfängt eine Berechtigung aus der
Volksgemeinschaft“ (Höhn). Um es den Richter zu erleichtern,
parteiisch sein zu können, sei eine „elastische Gesetzgebung“ von
Nöten.
Der juristische
Paradigmenwechsel ab 1933, der alles liberalistische,
demokratische und individualistische aus dem deutschen Recht
verbannt, ist Ausdruck der Institutionalisierung der
Volksgemeinschaft. Das angeblich abstrakte römische Recht sollte
deutsch werden. Viele Rechtsbereiche wurden durchdrungen;
Insgesamt sollten Konflikte nicht reguliert, sondern verhindert
werden.
Die Rede von der Gemeinschaft zielte darauf,
Widersprüche nivellieren: „Zumeist waren es Widersprüche
wirtschaftlicher Natur, wie etwa zwischen Verkäufer und Käufer,
Mieter und Vermieter und anderen Partnern von Schuldverhältnissen,
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zwischen Nachbarn, zwischen
der öffentlichen Hand und Privateigentümern usw. Im Staatsrecht
waren es wirtschaftliche (Klassen), alte historische
(Konfessionen) und hierarchische Gegensätze (Herrscher,
Untertanen), die in den Begriffen ‚Volksgemeinschaft’ und ‚Reich’
als aufgehoben dargestellt […] wurden“.[iii]
Die Herstellung der totalen soldatischen
Gemeinschaft sollte innergesellschaftliche Widersprüche
ausmerzen. Die Mobilisierung der totalen Gemeinschaft war eine
gegen die von ihr definierten inneren und äußeren Feinde. Die
Volksgemeinschaft zielte auf die Herstellung einer soldatischen
Kampfgenossenschaft. Widersprüche wurden als Schwächung der
Kampfkraft gesehen. Es hatte nur eine Stoßrichtung zu geben, einen
Willen und eine einheitliche Ideologie, man nannte sie Glauben.
Der Autoritarismus der Volksgemeinschaft wurde
expliziert im Führerprinzip. Der Führer als das Beste und die
Verkörperung der Volksgemeinschaft war Objekt der Sehnsucht,
Symbol der Gemeinschaft und Vorschein der nationalsolistischen
Utopien der absoluten Weltgeltung.
Was bleibt von der
Volksgemeinschaft?
Gerhard Scheit
(2001) entwarf die Terminologien von der atomisierte
Volksgemeinschaft bzw. der sekundäre Volksgemeinschaft.
Scheit erfasst dabei die Formierung der Volksgemeinschaft aus der
Legierung von Kapital und Staat und der Suspendierung des
Widerspruches von Kapital und Arbeit durch antisemitische
Projektionen. Entstanden als Modernisierungsprojekt und Ausweg aus
der Krise existiert die Volksgemeinschaft, den
Vernichtungs-Volkswohlstand ins Nachkriegsdeutschland
transferierend, kontinuierlich weiter, transformiert allerdings
zur „atomisierten Volksgemeinschaft“.
Scheit irrt
analytisch historisch, wenn er die Formierung als eine der Angst
versteht. Die Formierung war von Anfang an und in ihrer zentralen
Bezugnahme auf den „Geist von 1914“ aggressiv-offensiv.
Scheit irrt analytisch wenn er zwar anerkennt, dass
der Volksgemeinschaft zwar der entsprechende Staat fehle, sich
dann aber behilft, dass nicht der einzelne den Staat verinnerlicht
hat – was bei allen erfolgreich vergesellschaften Staatsbürgern
der Fall ist –, sondern der einzelne selbst Volksgemeinschaft und
selbst Staat sei. Letztere Annahme ist notwendig, weil Scheit das
automatische Staatssubjekt Kapital in den Nach-NS-Jahrzehnten
analytisch abhanden gekommen war. Atomisierung, das Zerfallen in
Konkurrenz, würde auf ein Ende der Volksgemeinschaft verweisen.
Wie Enderwitz wird Scheit psychoanalytisch, wenn ihnen die
empirische Basis fehlt und verorten die Volksgemeinschaft im
Unterbewusstsein. Die Analyse wird zur Vermutung. Die Tatsache,
dass das Individuum seine Reproduktion mit organisiert, mach ihn
zum Staat. Tatsächlich macht es ihn aber zum Staatsbürger.
Volksgemeinschaft signalisiert Geborgenheit, Zugehörigkeit,
Sicherheit, Orientierung, Schutz in Zeiten gesellschaftlicher und
ökonomischer Umbrüche, die Zivilgesellschaft aber verlangt
offensichtlich Autonomie, Eigenverantwortung, Selbstmobilisierung,
Selbstsinnstiftung, Selbstorganisierung, Vertreten von
partikularen Interessen und der Selbstorganisierung in Verbänden.
Der gewinnbringende und diskursiv geführte Konflikt gehört zu den
Götzen der Zivilgesellschaft. Die Volksgemeinschaft wurde dagegen
immer zur Verhinderung des Kampfes zwischen Interessensverbänden
in Stellung gebracht: „Die Volksgemeinschaft diskutiert nicht, sie
marschiert“, so ein zentraler Nazi-Slogan.
Die Kriterien der
Volksgemeinschaft ernst nehmend, sind deutliche Kontinuitäten zu
erkennen. Auf die besondere Bedeutung der Schuldabwehr werden wir
noch zu sprechen kommen. Es sind daneben die transformierten
Gewinne im Volkswohlstand, biographische Kontinuitäten, eine
nachlassende institutionelle Kontinuität v.a. aber eine
Kontinuität im inneren Frieden, die ihren historischen Ort im
sozialpartnerschaftlichen gesamtgesellschaftlichen Betriebsfrieden
der westdeutschen Nachkriegsjahrzehnte hatte und der gerade durch
eine zunehmende zivilgesellschaftliche Modernisierung und
Mobilisierung dysfunktional geworden ist. Davor wurde sie v.a.
erschüttert durch Reeducation und Westeinbindung, 68er-Proteste
und deren Ankunft in der Regierung 1998.
Die
Volksgemeinschaft verfügt nicht mehr in dem Maße über
Institutionen, die ihr eine ideologische Reproduktion zur
Herstellung von Hegemonialität gewährleisten könnte. Wohl aber
sieht sie sich Institutionen gegenüber, die ihr Manifestationen zu
unterbinden sucht. Nazis werden bekämpft, auch von der CSU, und
offen antisemitische Generäle werden entlassen. Wir reden hier von
einem Ist-Zustand und nicht darüber, was sein wird.
Gesellschaft vs. Gemeinschaft
Ein Gemeinsames
von Gemeinschaft und Gesellschaft liegt darin, dass beides nicht
einfach ist, sondern hergestellt und reproduziert wird. Beides
stellt ein Projekt dar, den Versuch, der Organisierung von
Menschen, die Schaffung von Kohärenz, Identität und Macht im Sinne
von Handlungsfähigkeit. Die Nazis brauchten Gemeinschaft als
Kampfbegriff. Den Unterscheid von Gesellschaft und Gemeinschaft
übernahmen die Nazis von Tönnies, der ihn Ende des 19.
Jahrhunderts entfaltet hatte: Nach ihm sind Gesellschaft und
Gemeinschaft die Pole des sozialen Lebens. Die Gemeinschaft beruhe
auf instinktivem Gefallen und gewohnheitsmäßiger Anpassung
und/oder Traditionen. Das organisch gewachsene Ganze sei mehr als
die Summe seiner Einzelteile. Entwicklungsgeschichtlich läge die
Gemeinschaft vor der zweckmäßig vergesellschafteten sozialen
Gruppe. In Gesellschaften werde Denken und Handeln rational
aufeinander abgestimmt – zur Erlangung eines bestimmten Zweckes.
War im Tönnies
Modell der Subtext Gesellschaft = schlecht, Gemeinschaft = gut
schon angelegt, radikalisierten die Nazis das Tönnies-Modell:
Gesellschaft wurde zum Inbegriff entfremdeter Modernität zwischen
Individualismus und Rationalismus, kapitalisiert, klassengetrennt
und zerrissen. Die Deutschen erwärmten sich zunehmend für ein
Projekt, dass versprach, die als isoliert wahrgenommenen
Individuen im Sinne eine vormodernen gemeinschaftlichen Bindung zu
vereinen. Die Referenz dabei war der „Geist von 1914“ die
Beilegung aller Streitigkeit im gemeinsamen militärischen
Losschlagen. Das Angebot der Nazis ging darüber hinaus. Nicht nur
sollten alle Isolation und alle inneren Konflikte beigelegt sein,
sondern das ganz noch fanatisiert werden. Hitler explizierte, das
der „Geist von 1914“ in seinem angeblich harmlosen
„Hurra-Patriotismus“ zu überwinden sei und man zum Fanatismus der
Volksgemeinschaft kommen müsse.
Was ist Zivilgesellschaft?
Was aber nun ist
Zivilgesellschaft? Was wir mit dem Begriff Zivilgesellschaft zu
erfassen suchen ist zweierlei: Ein hegemoniales gesellschaftliches
Verhältnis und den Modus einer gesellschaftlichen Mobilisierung –
ein Projekt.
Ohne der
massenhaften Loyalität der EinwohnerInnen eines Staates kann
dieser nicht auf Dauer sein. Dieser Zustand unterscheidet den
volksgemeinschaftlichen Staat nicht von anderen. Der Unterschied
zwischen einem volksgemeinschaftlichen Modus der Integration und
dem der zivilgesellschaftlichen ist einer von Totalität,
Durchsetzungsmacht, ideologischen Inhalten und Modernität. Die
Zivilgesellschaft beansprucht keine Totalität sondern Pluralität,
sie verfügt nicht annährend über den Nazis vergleichbare
Machtmittel der Durchsetzung des Projektes, sie verfügt über
modernisierte antisemitische und rassistische Ideologien,
v.a. über solche, die mit dem Präfix ‚Philo’ versehen werden
können.
Die Hegemonie der
Zivilgesellschaft ist eine, die volksgemeinschaftliche Elemente
unterdrücken oder überformen kann. Die völkische Orientierung kann
dabei in bestimmten Fragen quantitativ dominieren ohne annährend
die Wirkungsmächtigkeit zivilgesellschaftlicher Argumentationen
und Praxisformen zu erlangen.
Hegemonialität ist
eine Frage der Diskurs- und Praxismächtigkeit, also der Bedeutung
von dem was dominant Sagbar ist und gesagt wird und dessen was
dominant getan wird. Die Frage der Wirkungsmächtigkeit der
zivilgesellschaftlichen Mobilisierung ist keine dessen was gedacht
oder gefühlt wird. Und Hegemonialität ist keine Frage der
Mehrheit.
Das Modernisierungsprojekt Zivilgesellschaft konnte
ohne bürgerliche Revolution in Deutschland begonnen werden. Die
Demokratisierung war dabei oberflächlich, die Westintegration
strategisch und einem fortexistierenden Feindschaft zum
Kommunismus geschuldet. Trotzdem existieren relevante Brüche in
der Verbindung zur Volksgemeinschaft: Das Jahr 1945 mit der
Zerschlagung des NS und der Implementierung formaldemokratischer
Strukturen, der Modernisierung der deutschen Gesellschaft durch
Kritik 1968, die Erprobung alternativer Formen von Produktion und
Reproduktion und aktualisierter Strategien der Schuldabwehr und
die Eroberung des Staates durch die 68er, dem politischen
Forcierung des Projektes Zivilgesellschaft.
Die
Zivilgesellschaft ist dabei von oben gewünscht und gefördert, aber
nur deswegen erfolgreich, weil die Initiation durch
außerparlamentarische Akteure erfolgt. Rot-Grün hat sich die
Zivilgesellschaft zum Projekt gemacht, wie sich die NSDAP die
Volksgemeinschaft zum Projekt gemacht hatte. Die deutsche
Zivilgesellschaft ist nicht staatlich, sondern staatskonform.
Antistaatlich ist sie nie. Die Staatskonformität besteht unter
anderem in der Einhaltung des Dienstweges – Kritik und Forderungen
ja – aber im Rahmen der Gesetzte. Die Forderung der
Friedensbewegung an die Regierung, sie möge nicht ‚umfallen’
beinhaltet, dass diesem ‚Umfallen’ erwartet wird – eine
Vorstellung, die sich mit der einer Gleichschaltung der Deutschen
nicht erklären lässt.
Die Versöhnung von Arbeit, Kapital und Staat ist
eine nur beschränkte: Die Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital
wird längst nicht mehr als soldatisches von bedingungsloser Treue
und Gehorsam verstanden, sondern individualisiert, rationalisiert
und zunehmend vertragsunsicher. Der deutsche Arbeitswahn besteht,
zeigt sich aber dominant in der Larmoyanz über angebliche
Untätigkeit und rostet im Wartestand. Die Gewerkschaften
integrierten, wie sie auch Widersprüche formulierten. Ein Teil
ihrer Funktionäre war aus dem Exil zurückgekehrt in das sie eine
Volkgemeinschaft zwang, in der Streik, Lohnkämpfe und
Demonstrationen Verbrechen waren und im KZ endeten. Die 1968er
stritten mit dem Staat bevor sie ihn teilweise übernahmen und sie
veränderten seine Institutionen. Sozialprotestler in Berlin sehen
die Interessen Deutschlands auf ihrer Seite, wie es diejenigen
tun, gegen die sich der Protest richtet. Der Populismus findet
seine Grenze, wo Schröder über Protestierede sagt, sie hätten
nicht verstanden worum es ginge, aber demonstriert werde eben in
der Demokratie.
Die Zivilgesellschaft versteht sich als offenes
pluralistisches Projekt, auf Distanz zu Vorstellung von Blut- und
Boden-Identitäten. Ausdruck ist die Modifizierung des
Staatsbürgerschaftsrechtes unter Rot-Grün. Den Anderen gibt
es nicht mehr. Schuld an der Krise seien neben Ausländern und
Juden, Sozialschmarotzer, die Globalisierung (die gleichzeitig
begrüßt wird), Gewerkschaften und Arbeitgeber, Bonzen und Rentner.
Der deutsche Antisemitismus existiert fort, aber nicht mehr als
alles erklärender Beschuldigungsmechanismus und nicht in einer
Vernichtungspraxis. An die Stelle einer Einheitsstiftung über Blut
tritt ein Selbstverständnis von politischer Partizipation und
Kommunikation.
Funktionen der Zivilgesellschaft
Der Testballon:
Die Zivilgesellschaft stellt in ihren aktiven Teilen ein Feld dar,
in dem neue Sozialtechnologien erfunden, erprobt, importiert und
getestet werden. Dabei werden als Ressourcen eingebracht: hohe
Motivation, Innovation, unkonventionelles teilweises subversives
Denken und Handeln und selbstausbeuterisches Engagement. Dabei
sind beispielsweise im Kampf um eine ‚saubere’ Lebenswelt die
Übergänge zwischen Bürgerinitiativen gegen Atomkraft, Junkies oder
Migrantenunterkünfte fließend. Aber auch neue Formen von Leben und
Arbeiten wurden erprobt und ihre Potenziale zur Bewältigung
gesellschaftlicher Krisen eingesetzt.
Der
Modernisierungsfaktor:
Die Zivilgesellschaft hat Modernisierungspotenziale, die sich aus
den obigen Testphasen ergeben. Dabei steigt ihre Bedeutung in
Zeiten gesellschaftlicher Krisen und während
Transformationsprozessen. Gerade in der Aufhebung der Trennung und
Entgrenzung von Produktion und Reproduktion im Vorleben von
engagierter Selbstausbeute (Scheinselbstständigkeit etc.)
oder in der Transformation des Arbeitsregimes in dem die
Sozialisierungsinstanz Arbeit durch die der Tätigkeit ersetzt
werden soll, ist die Zivilgesellschaft Vorreiter und kämpft um die
gesamtgesellschaftliche Implementierung.
Die repräsentative
Hülle:
Was die Zivilgesellschaft anbietet und was Teil ihrer
ideologischen Sphäre ist, sind formale Integration,
Demokratisierung und die vorgebliche Chance Realisierung
partikularer Interessen. Dazu kommt das Engagement als
Lichterketten- oder Friedensbewegung.
Der repressive
Kern:
Die Zivilgesellschaft vermittelt Herrschaft, Kontrolle,
Arbeitszwang und die ideologische Reproduktion der Gesellschaft.
Sie möchte auf lokaler Ebene die Quartiere ordnen, Menschen in
Tätigkeiten zwingen und für sauberes Leben sorgen. Auf der
übergelagerten politischen Ebene findet sich der repressive Kern
in der Regulation von Arbeitsmärkten und Sozialsystemen und einer
sich auf Menschenrechte und damit auf zentrale Erzählungen der
Zivilgesellschaft stützenden expansiven Außenpolitik.
Zivileuropa:
Die Vorstellungen von Zivilgesellschaft sind ein konstitutives
Moment bei der forcierten europäischen Identitätsbildung. Europa
habe ein gemeinsames Kriegs-, Vertreibungs- und
Vernichtungsschicksal erlitten. Jetzt könne, ja müsse sich aus der
daraus ergebenden Zivilität Profil gewinnen lassen, gegen einen
angeblich spezifischen kalte Machtpolitik betreibenden
amerikanischen Militarismus.
Persilschein
Zivilgesellschaft:
Die außen- und teilweise auch innenpolitische Legitimation erfolgt
durch eine vorgebliche „Aufarbeitung der Vergangenheit“. Dabei
wird die Shoah in einer Art Schubumkehr zum Garanten deutscher
Sensibilisierung für Genozide verwendet. Wenn die Deutschen Krieg
führen möchten verweisen sie auf Auschwitz, wenn Sie gerade keinen
führen möchten, verweisen sie egalisierend auf zwei schreckliche
europäische Kriege, die ihnen noch in den Knochen stecken würden.
Konkretion – Das soziale
Gedächtnis der in der Gesellschaft der Täter: Das Beispiel Halle
Die Schuldabwehr
bezüglich der Taten der Deutschen, v.a. also Shoah und Rassenkrieg
zwischen 1933 und 1945, stellt den direkten Bezug der Deutschen
auf die Volksgemeinschaft dar. Über Jahrzehnte waren sie es da am
meisten. Gerade in diesem Bereich zeigen sich deutlich
Kontinuitäten und Brüche.
Die aktuellsten Großstudien zum
sozialen Gedächtnis der Deutschen, die von Heinrich und der Gruppe
um Welzer haben gezeigt, dass es notwendig ist, scharf zu trennen
zwischen dem was Erinnern und Gedächtnis in der Öffentlichkeit ist
und dem was die Erinnerung des Einzelnen oder der Familie an den
Nationalsozialismus bedeutet.[iv]
Das öffentliche Gedächtnis ist
dominant zivilgesellschaftlich geformt, das ‚private’ ist erst
einmal volksgemeinschaftlich. Beiden gedenken angeblicher
deutscher Opfer, im volksgemeinschaftlichen Modus wird
ausschließlich ‚deutscher Opfer’ gedacht. Wenn die Deutschen
befragt werden nach wichtigen Ereignissen ihrer Geschichte, taucht
die Shoah nur marginal auf. Opfer sind für Deutsche zuallererst
‚deutsche Opfer’, Erzählstrategien werden aus den Diskursen der
verfolgten des NS übernommen – eine feindliche Übernahme. Wenn sie
allerdings durch den Kontext darauf verwiesen werden, gedenken sie
auch der Verfolgten. Der zivilgesellschaftliche Erinnerungsmodus
benennt teilweise Täter, versucht aber vor allem, Dan Diner
spricht in Phase 2 von einer Anthropologisierung des Leidens,[v]
Opfer neben Opfern unbewertet sein zu lassen. Nazis und Apologeten
des ‚herkömmlichen’ Schlussstrichs stören dabei und konnten sich
gesellschaftlich nicht durchsetzen.
Im Fall
Volkstrauertag sind beide Tendenzen zu erkennen. Die Benennung der
Tat und ihre Relativierung durch ein universelles Opfertum und die
ausschließliche Konzentration auf deutsches Leid.
Die verschiedenen Formen deutsche
Schuldabwehr, vom Leugnen, über Ignorieren hin zur Praxis überall
Auschwitz entdecken zu können, gilt es zu bekämpfen. Die Allianz
von Zivilgesellschaft und Nazis, wie sie sich in Halle offenbart
ist unserer Meinung nach eher die Ausnahme, auch aber Ausdruck
einer möglichen Anschlussfähigkeit, einer Option.[vi]
Dieser Option der Kooperation, wie dem offen völkischen Helden-
und Opferkult, wie der geschichtsrelativistischen
Universalisierung des Leides (unserer Meinung derzeit dominant)
kann die Demonstration in Halle entgegentreten.
BgR Leipzig
[i]
Schmitz-Berning, Cornelia (1998), Vokabular des
Nationalsozialismus, Berlin u. New York, S. 654.
[ii]
Die Kriterien dafür, was Volksgemeinschaft im
Nationalsozialismus war erfolgt nach Schmitz-Berning (1998);
Janka, Franz (1997), Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird
formatiert, Stuttgart; Verhey, Jeffrey (2000), „Der Geist
von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg;
Stolleis, Michael (1994), Gemeinschaft und Volksgemeinschaft.
Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, in:
Ders., Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des
Nationalsozialismus, Frankfurt/M., S. 94-125; Thamer,
Hans-Ulrich (1990), Nation als Volksgemeinschaft. Völkische
Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftsideologie,
in: Gauger, Jörg-Dieter u. Weigelt, Klaus (Hg.), Soziales
Denken in Deutschland zwischen Traditon und Innovation,
Bonn, S. 112-128.Affirmativ bezieht sich der Revisionist Max
Klüver (1988) auf die Volksgemeinschaft: Vom Klassenkampf zur
Volksgemeinschaft. Sozialpolitik im Dritten Reich.
[iii]
Stolleis (1994), S. 123f.
[iv]
Welzer, Harald u.a. (2002), „Opa war kein Nazi“.
Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis,
Frankfurt/M; Heinrich, Horst-Alfred (2003), Kollektive
Erinnerungen der Deutschen. Theoretische Konzepte und empirische
Befunde zum sozialen Gedächtnis, Weinheim u. München.
[v]
„Die Anthropologisierung des Leidens“. Interview mit Dan
Diner, in: Phase 2/09.
[vi]
Zusätzlich muss hier auch eine ostdeutsche Spezifik
berücksichtigt werden.