Das
BGR Leipzig und der Antifaschistische Frauenblock Leipzig (AFBL)
tourten mit einer Infoveranstaltung über die europäische
Identitätsbildung und den linken Anteil daran durch über 15
Städte – dabei kamen mehr Personen zusammen als bei der
Demonstration am 24. Juli 2004 in Leipzig, die Teil der
Kampagne "Die neue Heimat Europa verraten"
war. Im folgenden dokumentieren wir eine leicht
überarbeitete Fassung eines Referats von der Infotour,
welches sich mit der Frage auseinandersetzt, ob man im
Zusammenhang von Europa von einer Nationsbildung sprechen
kann und wenn ja, wie weit diese schon vorangeschritten ist.
In der
Unterzeile zur Kampagne heißt es "Gegen die Kollaboration
mit der europäischen Nation". Wir wurden schon darauf hin
angesprochen, dass es albern sei, Inhalte einem Reim zu
opfern. Dass sich dieser Spruch reimt, war uns allerdings
bis dahin gar nicht aufgefallen, vielmehr ist es uns
durchaus ernst, wenn wir von "europäischer Nation" sprechen.
Nun wollen wir allerdings weder behaupten, dass die
Nationswerdung Europas schon abgeschlossen sei, vielmehr
befindet sie sich gerade an ihrem Anfangspunkt. Noch sind
wir der Meinung, dieser Prozess laufe genauso ab, wie die
Nationswerdung der europäischen Staaten in den letzten
Jahrhunderten.
Nun mögen
einige einwenden, von einer "europäischen Nation" könne
schon deswegen keine Rede sein, weil ja erstens in Europa
die einzelnen Nationen fortbestehen sollen und zweites
allerorten betont wird, dass gerade die europäische Einigung
kulturelle Unterschiede auf nationaler und regionaler Ebene
erst erfahrbar mache und damit sogar noch vertiefe. Beide
Feststellungen sind an sich richtig, taugen jedoch nicht
wirklich als Einwand, was deutlich wird, wenn man sich vor
Augen hält, dass die Existenz von Bundesländern innerhalb
der BRD, aber auch von regionaler Heimatliebe und
Ossi-Patriotismus der deutschen Nation keineswegs im Wege
stehen.
Es macht
also Sinn, die Elemente, die – historisch betrachtet – bei
der Nationalstaatsbildung eine wichtige Rolle gespielt haben
und auch heute noch konstitutiv für jede Nation sind, unter
die Lupe zu nehmen und zu prüfen, welche Analogien bezüglich
der Europäischen Union bestehen.
Grundvoraussetzung einer Nation ist ein festgelegter
geographischer Raum, der nicht nur auf Landkarten
verzeichnet ist, sondern dem die Menschen auch gewisse
Gefühle entgegenbringen (Vaterland, Mutterboden,
Landschaften etc.). Die Länder der europäischen Union – auch
wenn in bestimmten Abständen neue hinzukommen – bilden
diesen Raum. Und ca. 50% der deutschen Jugendlichen gaben in
einer Umfrage an, dass sie mit Europa vor allem die
geographische Lage verbinden (diese war damit genauso
wichtig für ihr Europagefühl wie der Euro und die
"kulturellen Werte" Europas).
Die
Außengrenzen um diesen Raum sind wiederum nicht nur
beliebige Linien auf einer Karte, sondern konstituieren ein
homogenes Innen und ein als fremd und bedrohlich
wahrgenommenes Äußeres. Damit werden die Grenzen nicht nur
zu Institutionen, an denen bestimmte Politiken vollstreckt
werden (Grenzkontrollen gegen Ein- und/oder Ausreise,
Kriminalitätsbekämpfung, Zollerhebung), sondern sie
verankern sich gleichsam in den Köpfen der Menschen. Für
Europa lässt sich konstatieren, dass gerade in diesem
Bereich die Entwicklung weit vorangeschritten ist: Eines der
wichtigsten Projekte der EU ist die Grenzabschottung (Schengener
Abkommen) und die Kriminalitätsbekämpfung (Europol).
Verbunden ist dies mit gesamteuropäischen und ständig
präsenten Diskursen über die Bedrohung durch
Schleuserkriminalität, Drogenhandel und Terrorismus, die nur
mittels der Festung Europa in Schach gehalten werden könnte.
Eine
Nation verfügt über zentrale Institutionen, die das
politische und gesellschaftliche Leben regeln. Die EU hat
eine eigene Regierung, ein Parlament, eine Justiz, eine
Zentralbank, eine Polizei und eine Armee, verfügt über einen
eigenen Haushalt und kann Gesetze erlassen.
Desweiteren zeichnet sich eine Nation durch einen
homogenen Wirtschaftsraum, innerhalb dessen z.B. keine
Zölle erhoben werden und ein einheitliches Zahlungsmittel
existiert, und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, die für
einen gewissen Ausgleich innerhalb der Nation sorgt, aus.
Dieser Prozess ist innerhalb der EU, da einer der
wichtigsten Triebkräfte der ersten Jahrzehnte, sehr weit
vorangeschritten und fand seinen vorläufigen Höhepunkt mit
der Einführung des Euro.
Das
Militär wurde früher als Schule der Nation bezeichnet –
dies zu Zeiten, als die allgemeine Wehrpflicht dafür sorgte,
dass alle Männer der Nation zu dienen haben. Dies ist
inzwischen aufgrund der militärtechnischen Entwicklung
obsolet geworden – sowohl innerhalb der europäischen
Nationen
als auch für Europa selbst. Nichtsdestotrotz spielt das
Militär weiterhin eine wichtige Rolle für jede Nation – und
auch die EU versteht sich von Beginn an auch als
militärisches Bündnis, welches sich jetzt daran macht,
eigene und unabhängige Streitkräfte aufzustellen.
In diesem
Zusammenhang ist zu betonen, dass Nationen sich eben nicht
nur durch eine Innenpolitik über den eigenen Raum
definieren, sondern die Außenpolitik ebenfalls von
großer Bedeutung ist. Mit dem Ende des Kalten Krieges kann
die EU die schon lange gehegten außenpolitischen Ambitionen
umsetzen. Gerade der nun fertig gestellte Verfassungsentwurf
räumt der Union weitreichende außenpolitische Kompetenzen
ein, die de facto einen umfassenden Souveränitätsverlust der
einzelnen europäischen Staaten nach sich ziehen. Dies weckt
allerdings keine Ängste bei den europäischen BürgerInnen,
ganz im Gegenteil: Die geplante gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik erzielt mit 75% höchste Zustimmungswerte
verglichen mit den anderen europäischen Projekten.
Diese
sechs Punkte wurden seit den 50er Jahren schrittweise durch
EU-Bürokratie durchgesetzt. Sie sind zwar notwendige
Bedingung für jede Nationalstaatsbildung, jedoch alleine
nicht hinreichend. Die staatliche Regulation über den
gesamten Raum muss gepaart werden mit einer
"Nationalisierung der Massen", damit diese sich selbst als
BürgerInnen der Nation ansehen und entsprechend verhalten.
Es kommen also noch weitere Elemente hinzu, auf deren
Umsetzung innerhalb Europas ich erst nach der Aufzählung zu
sprechen komme:
Als
erstes sei die Konstruktion einer stringenten
Nationalgeschichte genannt. Die Nation verfügt nicht nur
über Ursprungsmythen, die möglichst Jahrtausende
zurückliegen, sondern hat sich seitdem in einer
wechselvollen Geschichte schicksalhaft zu genau dem
entwickelt, was sie heute darstellt. Historische Ereignisse
werden dabei erfunden, umgedeutet oder vergessen – und der
eigenen Nationalgeschichte zugeordnet oder eben einer
anderen.
Je nach
Ausrichtung versteht sich eine Nation eher als völkische
Blutsgemeinschaft, definiert sich also über vermeintlich
biologisch-"rassische" Kriterien, oder mehr als
Wertegemeinschaft, die sich auf eine gemeinsame
Verfassung, politische Vorstellungen und Kulturleistungen
beruft. Beide Konzepte, so sehr sie sich auch unterscheiden,
sind mit einem Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen
Nationen verbunden, die entweder qua ihrer Gene oder
aufgrund mangelnder Zivilisation minderwertig sind.
Die
Nationalgeschichte und die Gemeinschaft wird mittels
öffentlicher Kulte, Nationalfeiertage und anderer Feste
zelebriert. Aber auch Denkmäler oder öffentliche und
familiäre Geschichtserzählungen spielen eine wichtige Rolle
bei der Vermittlung von gemeinsamer Tradition und Identität.
Diese werden oft aber auch durch abstrakte Symbole
repräsentiert, genannt seien Fahnen und Hymnen, Trachten und
Uniformen, Zahlungsmittel und Briefmarken etc.
Eine
Nation, die Staatsform erlangt hat, verleiht ihren
BürgerInnen die Staatsbürgerschaft, die sich nicht
nur im Ausstellen eines Passes ausdrückt, sondern mit
weitreichenden Rechten und Pflichten verbunden ist.
Neben den
ganz oben genannten staatlichen Institutionen verfügt jede
Nation über eine öffentliche Sphäre, eine
Zivilgesellschaft, die sich in Kegelvereinen oder
Skatrunden, Stadtteilinitiativen oder der Umweltbewegung, in
der Zeitungsredaktion oder am Stammtisch organisiert.
Gemeinsam ist dieser lockeren Form der Vergesellschaftung,
die staatliche und quasi-staatliche (Bildungseinrichtungen
wie Schulen) Formen ergänzt, nicht nur das Agieren innerhalb
des nationalstaatlichen Rahmens, sondern die Affirmation und
Reproduktion der Nation. Nicht zu vergessen sei in diesem
Zusammenhang auch die Familie als die "Keimzelle der
Nation."
Unabhängig davon, ob es ein völkisches oder kulturelles
Verständnis von Nation gibt, verfügt jede Nation über eine
eigene Kultur und eine Sprache.
Andere Sprachen werden als Dialekte eingegliedert und der
Hochsprache angeglichen, oder aber als Minderheitensprache
marginalisiert. Die Nationalkultur (Literatur, Musik) ist
oft eng mit der Sprache verknüpft.
Keine
Nation kommt letztendlich ohne Feindbilder aus. Die
mutmaßlichen Feinde werden sowohl im Inneren als auch
außerhalb des eigenen Raumes verortet. Die Feindbilder haben
nicht nur die Funktion der Abgrenzung gegenüber anderen
Nationen, sondern auch der eigenen Unterwerfung unter die
nationalen Interessen – dabei zu unterdrückende Wünsche
werden gleichsam auf die "Anderen" projiziert und damit
abgespalten.
Auch die
Durchsetzung dieser neun Punkte lässt sich teilweise seit
Beginn der 50er Jahre beobachten. Allerdings, dies dürfte
deutlich geworden sein, handelt es sich um Entwicklungen,
die sich im Gegensatz zu den oben genannten sechs Punkten
nur schlecht oder nicht ausschließlich per Dekret verordnen
lassen. Der erste offizielle Versuch, eine europäische
Identität zu begründet, stammt aus dem Jahr 1973. Damals
verabschiedeten die damaligen neun EG-Staaten ein
entsprechendes Papier, in dem in 21 Thesen die kulturelle
Überlegenheit Europas gegenüber der restlichen Welt
begründet sowie weltpolitische und gegen die USA gerichtete
Ansprüche daraus abgeleitet werden.
Allerdings blieb dieses Dokument sowie weitere Bestrebungen
bis in die 90er Jahre ohne große Erfolge. Eine europäische
Identität – dies beweisen alle Meinungsumfragen – bildete
sich zwar langsam heraus; dieser Prozess hielt aber nicht
Schritt mit der rasanten Entwicklung der politischen und
wirtschaftlichen Einigung. Nach 1989 wurde das Problem akut.
Die EU wollte und konnte ab diesem Zeitpunkt mehr sein, als
ein loser Staatenbund, der über eine gemeinsame
Freihandelszone verfügt. Die Union wurde zu einer Supermacht
auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet,
zu einem weltpolitischen Akteur, der der USA Paroli zu
bieten gedenkt. Und die Union konnte gen Osten – der
"Eiserne Vorhang" war gefallen – expandieren. Das beständige
Fortschreiten des europäischen Einigungsprozesses führte
aber auch unabhängig davon zu einer Nivellierung
nationalstaatlicher Besonderheiten innerhalb der EU und zu
einem Souveränitätsverlust der Staaten gegenüber der EU.
Diese Entwicklung wird besonders jetzt sichtbar bei der
Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips und der Etablierung
einer gemeinsamen Außenpolitik. Die europäischen Staaten
können ihre eigenen Interessen innerhalb der EU nicht mehr
per Veto durchsetzen – und das zu einem Zeitpunkt, wo die EU
ihnen außen- und innenpolitisch in vielen Bereichen die
Zügel aus der Hand nimmt.
Dieser
Prozess erlangt nur durch die Herausbildung einer
europäischen Identität die notwendige Stabilität. Bislang
waren es die BürgerInnen gewohnt, sich ihren nationalen
Gesetzen zu unterwerfen, für das Volk auf eigene Interessen
zu verzichten und auch mal den Gürtel enger zu schnallen,
Steuern an den Staat abzuführen und als Soldaten notfalls
auch für ihn zu sterben. All dies fordert nun im zunehmenden
Maße die EU von den EuropäerInnen ein.
So
verwundert es nicht, dass in den letzten Jahren eine massive
identitätspolitische Offensive bezüglich Europa im Gang ist.
Diese wird allerdings nicht nur von oben verordnet (so wie
es z.B. zur Absicherung der Osterweiterung durch die
deutsche Bundesregierung geschah, die damit auf die
rassistischen Bedenken innerhalb der deutschen Bevölkerung
reagierte), sondern wird von verschiedensten AkteurInnen
getragen, zu denen auch die Linke gehört.
Es kann also konstatiert werden, dass die Herausbildung
einer europäischen Identität inzwischen zu einem
Selbstläufer geworden ist.
Wie weit
dies inzwischen vorangeschritten ist, lässt sich u.a. daran
erkennen, dass selbst gesellschaftliche Gruppen, die den
nationalen Rahmen eigentlich ablehnen, ihre Forderungen nur
noch innerhalb dieses Rahmens vorzutragen wissen. Ein gutes
Beispiel dafür ist die Kampagne "Europa in schlechter
Verfassung" der linken, europakritischen und
antimilitaristischen Organisationen Informationstelle
Militarisierung e.V.
und DFG-VK.
Im Rahmen dieser Kampagne verteilten die Organisationen eine
Postkarte, die an das Bundeskanzleramt zu schicken sei. Mit
dieser Karte wird der Bundeskanzler Schröder aufgefordert,
"sich mit uns für einen neuen EU-Verfassungsentwurf
einzusetzen ... der die Vision einer demokratischen,
sozialen und zivilen Europäischen Union erfüllt". Dies sei
allerdings nur unter "Einschluss sozialer, emanzipatorischer
Bewegungen" möglich. Wie absurd dies ist, wird deutlich,
wenn man sich vor Augen hält, dass eine antinationale Linke
auch nie für das "bessere Deutschland" eingetreten ist und
alle soziale Bewegungen, die nicht gegen Deutschland
agierten, sondern nur ihre eigene Kreativität für
Deutschland einbringen wollten, beinahe binnen Jahresfrist
mit Beamtenstellen, Parlamentssitzen oder im schlimmsten
Fall Sozialarbeiterjobs auf ABM-Basis belohnt wurden.
Ich
möchte nun im folgenden kurz anreißen, wie der Stand der
europäischen Entwicklung bei den oben aufgezählten neun
Elementen, die für eine "Nationalisierung der Massen"
sorgen, ist.
Am
deutlichsten ist wohl die Forcierung
geschichtspolitischer Diskurse in den letzten Jahren. Es
vergeht kein Tag, an dem nicht ein Zeitungsartikel zu dem
Thema erscheint oder eine Veranstaltung dazu durchgeführt
wird. Jeder, von den diversen MinisterInnen über den
Staatsphilosophen Habermas und der Volontärin in der
Regionalzeitung bis hin zum Stammtisch oder der lokalen
amnesty international-Gruppe hat sich schon dazu geäußert.
Alle Äußerungen hier aufzuzählen, würde mehr Raum einnehmen
als die mehr als 300-seitige europäische Verfassung, die
reichlich Geschichtsmystik zu bieten hat. Deswegen sei nur
ein prägnantes Beispiel erwähnt. In der Zeitschrift der
SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) "Neue Gesellschaft
– Frankfurter Hefte"
schafft es ein Autor unter dem Titel "Friedensmacht in einer
multipolaren Weltordnung" auf nur fünf Seiten die
europäische Geschichte in diversen historischen Ereignissen
zu verankern. Er nennt den 30jährigen Krieg, die Geschichte
der Aufklärung, die Demokratie, "Kriegsgewalt und Werte des
friedlichen Zusammenlebens", das kulturelle Erbe, den
demokratischer Wandel im Osten, aber auch den
Jugoslawienkrieg, sowie "Erinnerung, die uns trennte bevor
sie uns verband: Menschheitskatastrophe des Völkermords",
daneben noch den Kolonialismus und die Diktaturerfahrung im
Dritten Reich sowie in der Stalinzeit. Andere Quellen
erwähnen außerdem noch die Antike und das Christentum.
Europa hat auf diesem Gebiet sogar einen entscheidenden
Standortvorteil gegenüber den einzelnen Nationalstaaten,
blicken diese eigentlich nur auf eine kurze Geschichte
zurück, so kann Europa Jahrtausende für sich reklamieren, in
dem es einfach alles, was in Europa passierte, unter den
Begriff der europäischen Geschichte subsumiert.
Die
europäische Wertegemeinschaft entsteht in diesem
Selbstbild zwangsläufig aus der Geschichte. Europa, so die
Argumentation, habe nämlich aus seiner Geschichte gelernt.
Dieser Lernprozess sei anderen Supermächten verwehrt
geblieben, weil sie entweder geschichtslos seien wie die USA
oder aber über keine glorreiche und vielfältige Geschichte
verfügten, wie es z.B. in China der Fall wäre. Europa
hingegen sei wegen seiner Geschichte zivil und sozial.
Ausdruck davon ist die Friedensmacht Europa und die
europäische Friedensbewegung, der europäische Sozialstaat
und der Anspruch, der ganzen Welt, Wohlstand und Glück zu
bringen. Letzterem Ziel habe sich zwar auch die USA
verschrieben, jedoch scheitern sie zwangsläufig an dessen
Verwirklichung, weil sie zu brutal und arrogant agierten.
Europa hingegen wisse aufgrund der vielen Kriege, die aus
nationaler Borniertheit entstanden seien, dass die Vielfalt
der Völker und Kulturen zu respektieren sei. Dialog statt
Krieg, Toleranz statt Globalisierung – das sind die
europäischen Werte. Wer mehr dazu wissen will, abonniere
sich eine Tageszeitung. Billiger und zeitsparender ist
allerdings die Lektüre der Präambel der europäischen
Verfassung,
die diese Werte mustergültig definiert. Dort ist dann u.a.
die Rede davon, dass Europa für die "Ärmsten und
Schwächsten" da sei. Die Frage, ob sich in Europa eine
Volksgemeinschaft oder Wertegemeinschaft herausbilden wird,
lässt sich dahingehend beantworten, dass es sich bei Europa
selbst um eine Wertegemeinschaft handelt. Mal abgesehen
davon, dass biologistische Argumentationen unmodern geworden
sind und aufgrund der NS-Rassenpolitik nach 1945 nachhaltig
diskreditiert wurden, wäre es auch schwierig, an solche
Konzepte im europäischen Rahmen anzuknüpfen. Die rassistisch
begründete Überlegenheit bezog sich immer auf die eigene
Nation (Aussehen, Sprache) oder die weiße (arische,
nordische) Rasse in ihrer Gesamtheit. Beides ist für Europa
nicht praktikabel. Innerhalb von Europa und durch Europa
jedoch erlangen völkische Diskurse eine gewisse Konjunktur.
Diese dienen jedoch nur über einen Umweg der europäischen
Identitätsbildung. Indem nämlich Europa völkische
Unterschiede respektiert und fördert, beweist es sich als
Wertegemeinschaft, die einen vermeintlich fortschrittlichen
Umgang mit Völkern und Kulturen pflegt.
Obwohl
der geschichtspolitische und Werte-Diskurs im Moment gerade
recht ausgeprägt ist, blickt er nur auf eine kurze
Geschichte zurück und wurde deswegen bislang kaum in
Kulten und Feiern institutionalisiert. Zelebriert
wird Europa in den Medien und bei Feiertagen, wie dem D-Day,
die eigentlich eine andere Geschichte haben, jedoch für
Europa instrumentalisiert werden. Eine Ausnahme stellen die
Feiern zur Osterweiterung dar, die in den meisten Ländern
sehr intensiv und unter großer Beteiligung begangen wurden.
Bedeutende europäische Denkmäler gibt es nicht. In der
europäischen Verfassung wurde ein europäischer Feiertag, der
9. Mai, festgeschrieben – ob er eine gewisse Bedeutung
erlangt, wird die Zukunft zeigen. Wer jedoch die
europaweiten Friedensdemonstrationen und Sozialforen als
Manifestation europäischer Identität begreift, kann – im
Wissen über historische Vorläufer, z.B. die
Burschenschaftsbewegung in Deutschland – erkennen, dass es
diese Feiern von unten jetzt schon gibt, und deswegen auch
darüber spekulieren, dass der 15. Februar, der Tag der
großen Friedensdemos, dem 9. Mai den Rang als europäischen
Feiertag streitig machen wird.
Ähnlich
verhält es sich mit den europäischen Symbolen. Die
offiziellen Symbole, die jetzt auch in der Verfassung
verankert wurden (Fahne, Motto: "In Vielfalt geeint", Hymne,
Währung etc.), haben bislang ihr identitätsstiftendes
Potential noch nicht entfalten können. Zwar hängt die
Europafahne schon in manchem Schrebergarten und nicht nur
vor öffentlichen Gebäuden, zwar genießt der Euro inzwischen
breite Akzeptanz – an die Deutschlandfahne und die D-Mark
langt es allerdings noch lange nicht heran. Auch in diesem
Fall kann konstatiert werden, dass die vermeintlich
dissidenten europäischen Symbole (Friedenstaube etc.)
bislang eine größere Integrationskraft bieten.
Die
europäische Staatsbürgerschaft ist Praxis – da sie
jedoch die nationale nicht ersetzt, sondern ergänzt, ist
auch sie bislang kein wichtiges Element einer europäischen
Identitätsbildung. Eine nicht zu unterschätzende Rolle
spielt allerdings die damit verbundene Reise- und
Niederlassungsfreiheit. Vor allem junge Menschen orientieren
sich nicht nur touristisch, sondern auch arbeitsmäßig auf
Europa.
Über eine
europäische Sprache verfügt Europa nicht. Gegen die
vermeintliche Dominanz des Englischen wehren sich die
anderen Länder vehement – dabei wird weniger der britische
Einfluss befürchtet, sondern der "amerikanischen
Kulturindustrie" der Kampf angesagt. Frankreich ist der
Vorreiter im Kampf gegen die Amerikanisierung der Sprache,
der mittels Gesetzen und Quoten für englischsprachige Musik
im Radio ausgetragen wird. Die Versuche Deutschlands, der
eigenen Sprache in Europa mehr Gewicht zu verleihen bzw. gar
zur europäischen Sprache zu machen, bleiben wohl – so ist zu
hoffen – ebenfalls erfolglos. Obwohl es also besonders auf
diesem Gebiet aussichtslos aussieht, gibt es auch bezüglich
einer europäischen Sprache Bemühungen. In der schon oben
erwähnten Zeitschrift der Friedrich-Ebert-Stiftung ist davon
die Rede, dass Europa über drei Sprachfamilien (romanisch,
germanisch, slawisch) verfüge, die gleichberechtigt
nebeneinander stehen müssen, damit darauf ein
"eurogemeinsamer kulturwissenschaftlicher Bildungskanon"
aufbauen könne. An anderer Stelle ist davon die Rede, dass
die "Sprache Europas die Übersetzung"
sei.
Damit
verbunden ist das Problem einer europäischen Kultur.
Im Rahmen der Wertegemeinschaft ist zwar viel von dieser die
Rede, dies geschieht aber rein appellativ. Von einer
Nationalkultur in Europa kann keine Rede sein. Im Gegensatz
zum Sprachproblem dürfte aber eine europäische Kultur
beträchtliche Entwicklungschancen besitzen. Es wird zwar
noch Jahre dauern, bis sich über einen Literaturnobelpreis
für eine italienische Schriftstellerin auch die Deutschen
mehrheitlich freuen, in Abgrenzung zu anderen Kulturen
werden die Werke aus europäischen Ländern jedoch zunehmend
einen besseren Stand haben. Interessant dürfte in diesem
Zusammenhang vor allem die Entwicklung auf dem Filmmarkt
sein. Dort geht es am deutlichsten gegen die amerikanischen
Einflüsse aus Hollywood; da sind auch die meisten
Bestrebungen zu erkennen, einen europäischen Filmmarkt zu
schaffen. Symptomatisch dafür steht der Erfolg von "Good
bye, Lenin" in Europa und der Misserfolg des Films in den
USA – in der FES-Zeitschrift heisst es dann diesbezüglich:
"Man sollte beginnen, über die Europäisierung Deutschlands
nicht mehr als Projekt, sondern als Tatsache zu sprechen",
da der Film ein "kulturelles europäisches Wir-Gefühl"
biete.
Die
Verankerung einer europäischen Identität durch die
Familie oder in der Schule mag auf den ersten
Blick wenig plausibel erscheinen. Es gibt bislang wenig
binationale Familien und die Bildungspolitik liegt weiterhin
in der Hoheit der einzelnen Länder. Allerdings steht dies
einer Vermittlung einer europäischen Identität nicht im
Wege, sobald die jeweiligen Individuen (Eltern, LehrerInnen
etc.) diese teilen. Da schon jetzt der Mehrzahl die
europäische Identität wichtiger als die jeweilige
nationalstaatliche ist,
ist davon auszugehen, dass Familie und Schule automatisch zu
wichtigen Vermittlungsstellen einer solchen Identität
werden. Dies wird durch flankierende bildungs- und
jugendpolitische Maßnahmen verstärkt. Seit Jahren floriert
der europäische Jugendaustausch, die EU finanziert eine
Unmenge von Jugendprojekten, europapolitische Themen halten
Einzug in den Lehrplan. Erst kürzlich trafen sich die
Kultusminister Frankreichs und Deutschlands, um die
Erstellung eines gemeinsamen europäischen
Geschichtslehrbuches zu verabreden.
Es ist kein Zufall, dass sie bei der Vereinheitlichung nicht
mit dem Physikbuch anfangen – geht es doch gerade im
Geschichtsunterricht darum, nicht nur gemeinsames Wissen zu
vermitteln, sondern – auf der inhaltlichen Ebene – eine
gemeinsame Geschichte festzuschreiben.
Andere
Bereiche der Zivilgesellschaft spiegeln allerdings
nicht nur den Stand der Identitätsbildung wieder, sondern
treiben diese aktiv voran. Da diskutiert die Kirchengemeinde
Neuruppin in einer Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Gibt
es eine europäische Identität, die eine Verfassung für 25
Nationen trägt?" gemeinsam mit dem Bundesgrenzschutz Schwedt.
Dass diese Veranstaltung sicherlich nur wenig BesucherInnen
hatte, spricht nicht gegen meine These. Vielmehr ist diese
kleine unbedeutende Kirchengemeinde Beweis dafür, dass das
Thema Europa ganz unten angekommen ist – bzw. sogar von
unten ausgeht. Wer sich eher von quantitativen Argumenten
überzeugen lassen will, mag sich die positiven Europabezüge
bei den Friedensdemonstrationen und Sozialforen ansehen.
Die
Feindbilder, die gerade dort, in den sozialen
Bewegungen, popularisiert werden, nämlich die "neoliberale
Globalisierung", die "imperialistische Einheitskultur", die
"Militärmacht USA" und der "Unruheherd Israel", sind
gleichzeitig jene, die auch gesamtgesellschaftlich der
europäischen Identität zum Durchbruch verhelfen. Die
klassischen Feindbilder, wie Flüchtlinge, Fundamentalismus,
Kriminalität und Drogen, erlangen zwar auch im europäischen
Rahmen – wie schon oben erwähnt – in den Diskursen von der
Festung Europa und den europäischen Institutionen (SIS,
Europol) eine gewisse Relevanz. Allerdings sind sie in den
einzelnen Staaten ebenfalls gut aufgehoben und begründen
keinen Unterschied gegenüber anderen Staaten – sind diese
doch auch nur rassistisch. Im Antisemitismus und
Antiamerikanismus kommt aber Europa zu sich. Denn einerseits
kann nur ein geeintes Europa der USA Paroli bieten,
andererseits kommt ja gerade auf europäischer Ebene der
Unterschied zu den USA und Israel bzw. zu den
Wertvorstellungen, für die diese Länder angeblich stehen,
zum tragen. Es überrascht also nicht, dass der Rassismus im
Zuge der europäischen Einigung nicht an Bedeutung zugenommen
hat (sondern lediglich auf eine europäische Ebene
transformiert wurde), Antiamerikanismus und Antisemitismus
in den letzten Jahren hingegen massiv an Bedeutung gewonnen
haben. Nur eine Zahl sei als Beleg dafür genannt: 1996
betrachteten noch 64% der Deutschen die USA als
zuverlässigen Partner, 2003 waren es nur noch 28%.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Grundlagen für eine
europäische Identitätsbildung sind gelegt. Sie entwickelt
sich gerade in den letzten Jahren rasant. Ihr sind aber auch
gewisse Grenzen (Sprache, Fortbestehen der Nationen in
Europa) gesetzt. Auf einigen Gebieten wird die
Identitätsbildung von unten vollzogen, auf anderen
existieren bislang lediglich Vorgaben der Europäischen
Institutionen, die erst noch mit Leben gefüllt werden
müssen. Es gibt Bereich, wie die Geschichte und
Wertegemeinschaft, die einen hohen Entwicklungsgrad
aufweisen, andere, wie Kultur und Symbole, wo der Prozess
noch in den Kinderschuhen steckt.
Es muss
aber betont werden, dass in allen Bereichen die europäische
Identität die nationale überflügelt hat. Das betrifft das
Vertrauen in europäische Institutionen (im Schnitt doppelt
so hoch wie gegenüber der nationalen), die
Selbstbeschreibung als eher europäisch als national, die
Zustimmung zu einzelnen Politikbereichen der EU (vor allem
bezüglich der Außenpolitik) und Vorhaben (wie die
Verfassung) sowie das Gefühl der eigenen Repräsentation
durch die EU-Institutionen. Aufgrund der Ferne der
europäischen Institutionen wird zwar deren Einfluss auf das
eigene Leben als höher als der Einfluss der nationalen
Institutionen eingeschätzt, die eigenen
Gestaltungsmöglichkeiten hingegen auf die europäische
Politik als gering – das spiegelt sich in der geringen
Beteiligung bei EU-Wahlen wieder.
In diesem
Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass das ständige
Gerede davon, dass die europäische Identität nicht die
nationale ersetzt, kein billiger Propagandatrick ist,
sondern der Realität entspricht. Menschen, die sich stark
mit der eigenen Nation identifizieren, ist auch eine
europäische Identität wichtig. Diejenigen, die auf
Identitäten scheißen, finden weder die nationale noch die
europäische attraktiv.
Einschränkend ist anzumerken, dass eine völkische
Verfasstheit der Nation, wie sie in Deutschland existiert,
der Herausbildung einer europäischen Identität stärker im
Weg steht, als das in der Tradition der Aufklärung stehende
Nationsverständnis in Frankreich. Aber selbst die deutschen
Verhältnisse konnten die Herausbildung einer dominierenden
europäischen Identität nicht verhindern sondern, lediglich
abbremsen.
Eigentlich sind damit schon genug Gründe für eine fundierte
Europakritik aus antinationaler Sicht geliefert. Da sich
eine solche immer in erster Linie gegen das "eigene
Vaterland" zu richten hat, müsste der Kampf gegen Europa
eine Herzensangelegenheit aller Linken sein. Das Gegenteil
ist allerdings der Fall. Große Teile der Linke haben sich
Europa auf die Fahnen geschrieben. Dies ist um so fataler,
da die Spezifik der europäischen Identität diese besonders
gefährlich macht.
Meiner
Meinung nach gibt es fünf Punkte, die diese Spezifik
ausmachen: Die deutsche Dominanz innerhalb Europas, das
Gerede vom zivilen und sozialen Europa, der einerseits die
realen Verhältnisse verdeckt und andererseits sie auch
tendenziell widerspiegelt – was nichts Gutes verheißt.
Viertens die angestrebte weltpolitische Multipolarität und
last but not least die erfolgreiche Form des
Geschichtsrevisionismus, bei dem deutsche Verbrechen im
europäischen Kontext aufgelöst werden. Auf diese fünf Punkte
möchte ich im folgenden eingehen.
Ein Ziel
der europäische Union war es von Beginn an, die deutsche
Dominanz über Europa einzudämmen und die BRD in die
westliche Zivilisation einzubinden. Die europäische Einigung
war gleichzeitig für Deutschland die einzige Möglichkeit,
wieder anerkannt zu werden und außenpolitisch agieren zu
können. Dies erklärt die proeuropäische Haltung der
deutschen Eliten nach 1945. Zumal sie schon in den 50er
Jahren erkannten, dass die Drohung, aus Europa auszusteigen,
wie eine Wunderwaffe auf die Alliierten wirkte.
Selbst die revanchistischen Vertriebenenverbände richteten
sich in den 60er Jahren auf Europa aus, da sie nicht in der
Grenzrevision, sondern in der europäischen Grenzauflösung
die vielversprechendere Perspektive sahen.
Inzwischen ist von den Ambitionen der anderen europäischen
Staaten nichts mehr übrig geblieben. Ganz im Gegenteil:
Europa ist das deutsche Projekt der Stunde. Die BRD treibt
die EU mit der offen ausgesprochenen Drohung vor sich her,
dass, wenn sich die EU nicht den deutschen Interessen
unterwirft, Deutschland sich dazu gezwungen (!) sieht, den
Sonderweg einzuschlagen – verwiesen wird dann auf den Erste
und Zweiten Weltkrieg.
Der jetzige Außenminister Fischer reklamierte schon 1995 die
deutsche Vorrangstellung: Deutschland soll "jetzt, nachdem
es friedlich und zivil geworden ist, ... all das, was ihm
Europa, ja die Welt, in zwei großen Kriegen erfolgreich
verwehrt hat, nämlich eine Art sanfte 'Hegemonie über
Europa' [erhalten...], eine Übermacht, die ihm aufgrund
'seiner Größe, seiner wirtschaftliche Stärke und seiner
Lage' auch zusteht".
Es bleibt
allerdings nicht bei der martialischen Rhetorik, die an sich
noch keine Aussage über den realen deutschen Einfluss
trifft, sondern anzeigt, mit welchen Mittel versucht wird,
diesen zu vergrößern. Doch in allen Bereichen der
europäischen Einigung ist die BRD, zum Teil mit Frankreich
oder mit Unterstützung anderer "kerneuropäischer" Staaten,
zur dominanten Macht und treibenden Kraft avanciert.
Die Rede
vom sozialen Europa verbietet sich schon vor dem
Hintergrund, dass die sozialen Standards innerhalb von
Europa sehr unterschiedlich sind. Allerdings findet – wie
auch in anderen Politikbereichen – eine EU-Harmonisierung
auf unterstem Niveau statt. Gerade die deutsche Regierung
wehrte sich vehement gegen die Einführung von Sozialklauseln
innerhalb der europäischen Verträge.
Die Union ist somit in erster Linie ein neoliberales
Projekt, welches den Abbau des Sozialstaates forciert.
In den
Diskursen vom "soziales Europa" – egal ob als Forderung
linker Gruppen oder Zustandsbeschreibung der
Sozialdemokratie – schwingt einerseits die Abgrenzung von
den USA mit, die mit ihrer Globalisierung oder dem
"Raubtierkapitalismus" das Elend über die gesamte Welt
bringen würden.
Andererseits transportieren diese Diskurse die Aufforderung,
soziale Konflikte in der "Schicksalsgemeinschaft Europa" –
ein Begriff, den Kinkel 1995 prägte
und der jetzt auch Eingang in die Verfassung fand – zu
begraben. Darin drückt sich ein Etatismus aus, der
individuelle Freiheitsrechte nicht kennt. Die beinahe
Bundespräsidentin Gesine Schwan brachte diese
Staatshörigkeit auf den Punkt, als sie als die drei
Freiheiten, die Europa auszeichnen würden, nannte: die
Freiheit vor diktatorischer Willkür, vor sozialer Not und
vor "kultureller Fremdheit".
Die
ideologische Figur vom zivilen und friedlichen Europa
steht auf ähnlich schwachen Füßen. Die EU, besser gesagt:
ihre drei ersten Vorläuferorganisationen aus den 50er
Jahren, nämlich die Montanunion, die Euratom und die EVG,
hatte von Beginn an militärische Implikationen. Bei der
Montanunion ging es um die militär-strategisch wichtigen
Rohstoffe Kohle und Stahl, bei Euratom um Atomwaffen und EVG
heisst ausbuchstabiert schlicht Europäische
Verteidigungsgemeinschaft und war als Verteidigungsbündnis
konzipiert, das unabhängig von der Nato und aggressiver und
offensiver als diese agieren sollte.
Heute verfügt die EU über mehr Soldaten als der
"Kriegstreiber USA" und hat auch beim Rüstungsexport die
"Militärmacht USA" längst hinter sich gelassen. In allen
anderen Bereich, in denen die EU hinter den USA liegt,
werden massive Anstrengungen unternommen, die USA ein- und
überzuholen. Mit Verweis auf die doppelte Bevölkerungszahl
und das größere Territorium wird eine bedeutendere
weltpolitische Rolle als die der USA eingefordert. Der
Abstand zwischen den USA und der EU ist auf militärischem
Gebiet allerdings gar nicht mehr so groß, wie oft vermutet
wird. So geben die EU-Länder schon heute für ihren
Militäretat nur 20% weniger aus als die USA.
Nun zur
Rhetorik: Selbst die SPD meinte mit "Friedensmacht Europa"
nicht das, was sie mit ihren Wahlplakaten suggerieren will.
Im Wahlprogramm heisst es offen: "Auf dem Balkan, im Nahen
Osten und in Afghanistan ist Europa aktiv an der Schaffung
von Frieden beteiligt". Die Betonung liegt also auf Macht,
denn Frieden wird in dem Papier definiert als präventive
Konfliktverhinderung, Osterweiterung der EU, ebenbürtige
Partnerschaft mit der USA, Stärkung des europäischen
Pfeilers in der NATO, Kriegseinsätze nur im Rahmen der UNO.
Das klingt nach dem üblichen nationalistischen Geschwätz,
welches sich wohl jede Großmacht auf die Fahnen schreibt. Es
ist aber mehr. In dem gleichen Papier ist im Zusammenhang
mit der Friedenspolitik von Menschenrechten, Abrüstung,
Entwicklungspolitik als Ursachenbekämpfung und
Verrechtlichung der internationalen Beziehungen die Rede.
Auch das klingt nicht unbedingt schlecht. Doch was ist damit
gemeint? Menschenrechte sind nach EU-Verständnis in erster
Linie Volksgruppenrechte, Entwicklungspolitik ist Dialog der
Kulturen und die Förderung der nationalen Besonderheiten,
hinter der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen
verbirgt sich die Kampfansage an die USA.
Um das
anschaulich zu machen, komme ich zu dem nächsten Punkt, der
angestrebten Multipolarität. Gemeint ist damit, dass
die vermeintliche Vorherrschaft der USA über die gesamte
Welt gebrochen werden muss und angestrebt wird, mehrere
Großräume zu schaffen, in denen jeweils eine Macht das Sagen
hat. Bei den alternativen europäischen
Weltordnungskonzepten, die schon heute ihr gefährliches
Potential entfalten, ist das genaue Verhältnis von Wahn und
Kalkül schwer zu bestimmen. Fakt ist allerdings, dass es
sich genau in diesem Spannungsverhältnis bewegt: Kalkül, als
Noch-Mindermacht gegenüber der USA auf andere Strategien zu
setzen, auf andere Partner etc. – und schon allein damit
Konflikte zu forcieren.
Welche Strategien dabei zum Tragen kommen, auf welche
Partner gesetzt wird, ist allerdings nicht zufällig. Europa
hat wirklich aus der Geschichte gelernt, und zwar in dem
Sinne, dass es sich die positiven Erfahrungen der
Ethnisierung während der eigenen Kolonialgeschichte auch
heute zunutze macht und dass es – wie auch schon vor hundert
und zweihundert Jahren – auf Antiamerikanismus und
Antisemitismus setzt.
So heißt
es im eben schon zitierten Wahlprogramm der SPD zur
Europawahl: "Es gilt, das europäische Gesellschaftsmodell
offensiv zu vertreten und die europäischen Kulturleistungen
international bekannter zu machen und gegen eine globale
Einheitskultur zu verteidigen." Wo die "globale
Einheitskultur" her kommt, ist klar: Aus den USA! Der
Exportschlager europäische Kultur ist in diesem Verständnis
allerdings weder Bestandteil der gleichen noch eine andere
Einheitskultur, sondern "Vielfalt (die) gestärkt werden
(muss), da sie wesentlicher Bestandteil unserer Identität
ist. Wir wollen von anderen Kulturen lernen und unsere
Erfahrungen einbringen."
Wie dies
in der Praxis aussieht, möchte ich an vier Konfliktfeldern
exemplarisch aufzeigen, bei denen die EU außenpolitisch
aktiv ist: Israel, Irak, Ruanda und Jugoslawien.
Der
Antizionismus und Antisemitismus ist ein
gesamteuropäisches Projekt. Da sind sich die
EU-ParlamentarierInnen so einig wie das "europäische Volk",
das erst unlängst Israel als größte Gefahr für den
Weltfrieden ausgemacht hat. Das deutsche Auswärtige Amt
bezeichnet es als stabilisierende Funktion, dass, als Israel
Gelder für die Palästinensische Autonomiebehörde (PA)
einfror, weil erwiesen war, dass sie dem Terrorismus dienen,
die EU mit finanzieller Unterstützung einsprang. Als Israel
daraufhin auch die mit europäischen Geldern finanzierten
Terror-Projekte zerstörte, forderte EU Schadensersatz von
Israel anstatt die Zahlungen umgehend einzustellen. Die BRD
transferiert nach Palästina die höchste
Pro-Kopf-Unterstützung, d.h. kein anderes Land erhält per
EinwohnerIn so viel Geld wie die PA. Diese großzügige
Unterstützung ermunterte die palästinensischen Behörden, bei
der EU ganz offiziell um Zahlungen für Angehörige von
SelbstmordattentäterInnen nachzufragen – was die EU leider
ablehnen musste. Die Friedensmacht Europa will natürlich
kein Blut an den Händen kleben haben – im Kampf gegen Israel
gibt es zivile Methoden, die Drecksarbeit wird anderen
überlassen. So wird in Europa eifrig ein Sport-, Handels-
und Wissenschaftsboykott gegenüber Israel diskutiert, der
von Spanien, aber auch von einzelnen Organisationen und
Institutionen (z.B. britische Universitäten) schon umgesetzt
wird. Das europäische Parlament verfasst in feiner
Regelmäßigkeit einseitig antiisraelische Resolutionen,
parallel dazu werden Planspiele über den Einsatz von Truppen
im Nahen Osten angestellt. Niemand will untätig bleiben: So
drohte die europäische Sozialdemokratie der israelischen
Arbeiterpartei, sie aus der sozialistischen Internationale
auszuschließen – während palästinensische Organisationen
gern gesehene Gäste sind.
Ähnlich
einhellig äußerte sich auch die antiamerikanisch
begründete Ablehnung des Irakkrieg auf europäischer
Ebene, allerdings vorerst nur in der Zivilgesellschaft und
bei den Kerneuropa-Regierungen. Nun, wo der Krieg vorbei
ist, gilt es natürlich, europäische Interessen in der Region
zu wahren. Deutsche, mit dem Auswärtigen Amt verbandelte
Think Tanks gehen inzwischen so weit, dass sie die
Staatsgrenzen im gesamten Nahen Osten für revisionsbedürftig
halten.
Die Ziehung neuer Grenzen gelänge natürlich nur, wenn die EU
in einen Dialog mit den arabischen Regimes treten würde – an
erster Stelle wird dabei der Iran genannt.
Für den
Irak selbst wird an gleicher Stelle vorgeschlagen, die
Öleinnahmen nicht etwa zu verstaatlichen oder zu
privatisieren – wie es in einem Nationalstaat üblich ist –
sondern an die unterschiedlichen religiösen und ethnischen
Gruppen prozentual zu verteilen. Außerdem sollte des
parlamentarische System auf "Stammes-Scheichs, religiöse
sowie andere bedeutende Persönlichkeiten" ausgerichtet
werden – d.h. die ethnische Zersplitterung forciert und
damit blutige Auseinandersetzungen provoziert werden, zu
deren Lösung sich dann die völkerliebende Friedensmacht
Europa anbieten würde.
Mit der
Begründung, der Rebellenführer "spricht nicht einmal
französisch, kein Wort! Er versteht nur Englisch", d.h. mit
dem Verweis auf die eigene Kolonialtradition in Afrika und
der Angst vor einem Machtverlust gegenüber der USA,
unterstützte Frankreich zivil und militärisch das
faschistische Regime in Ruanda, welches mit knapp
einer Millionen Toten in 100 Tagen den größten Genozid seit
dem 2. Weltkrieg betrieb. Die anderen europäischen Staaten
stärkten Frankreich den Rücken. Die ethnischen Kategorien
Hutu und Tutsi, auf denen angeblich der "Bürgerkrieg" von
1994 basierte, wurden von deutschen Rassekundlern während
der Kolonialzeit erfunden und installiert. Die von den USA
unterstütze Rebellenarmee RPF definierte sich allerdings
nicht nach ethnischen Kriterien und war auch in der Praxis
"multiethnisch". Die europäischen Staaten leugnen allerdings
bis heute ihre Verantwortung für den Genozid, den sie als
Stammeskrieg bezeichnen, der jedoch vielmehr mit
europäischer Kolonialgeschichte sowie aktueller Machtpolitik
um Einflusszonen zu tun hatte.
Der
Jugoslawienkrieg wurde hingegen als völkisches Projekt
von Deutschland vorangetrieben. Inzwischen sind die
ehemaligen jugoslawischen Republiken zum Übungsplatz für
europäische Truppen und Versuchslabor für europäische
Protektoratsverwaltung heruntergekommen. Es galt auch hier
nicht nur, eine eigene Einflussspähre zu verteidigen oder
neu zu ordnen, d.h. rational begründete Außenpolitik zu
betreiben, die aus wirtschaftlichen Interessen an einer
Stabilisierung einer Region interessiert ist, sondern – im
Gegensatz dazu – eine Destabilisierung nach ethnischen
Kriterien zu betreiben, die sich an den alten Verbündeten
aus dem 2. Weltkrieg orientierte und gleichzeitig – mit dem
Verweis auf Auschwitz im Kosovo – die eigene Geschichte
entsorgte.
Damit
komme ich zum letzten Punkt, dem deutschen
Geschichtsrevisionismus im europäischen Kontext.
Deutsche Schuld soll nicht mehr wie früher vergessen gemacht
oder verleugnet, sondern in die europäische Geschichte
eingebettet und nutzbar gemacht werden für die europäische
Identität und eigene Großmachtsambitionen.
Der
ehemalige Bundespräsident Johannes Rau vertrat in seiner
Rede beim "Tag der Heimat" 2003 die These, dass den
vertriebenen Deutschen "bitteres Unrecht zugefügt worden"
sei – und zwar von jenen, "die in Mittel- und Osteuropa erst
mit den Deutschen gemeinsam die Juden entrechteten, danach
die Deutschen". Rau setzt damit Vertreibung und Holocaust
gleich und verteilt die deutsche Schuld an der Vernichtung
der Juden gleichmäßig auf alle europäische Nationen. Im
gleichen Atemzug jedoch bezichtigt er die anderen Nationen
der doppelten Schuld und besonderer Hinterhältigkeit: Erst
gemeinsame Sache machen mit den Deutschen gegen die Juden –
und dann den Deutschen mit der Vertreibung in den Rücken
fallen. So klingt also die moderne staatliche Version der
Dolchstoßlegende. Laut Rau seien aber auch die Menschen im
antifaschistische Widerstand oder im Exil nicht frei von
Schuld, obwohl sie sich nicht am Holocaust beteiligt hatten,
womöglich sogar von ihm betroffen waren. Diese planten
nämlich schon "jahrelang die Vertreibung ... Hitlers
verbrecherische Politik entlastet niemanden, der furchtbares
Unrecht mit furchtbarem Unrecht beantwortet hat. Die
gesamteuropäische Katastrophe kann aber nur in ihrem
Gesamtzusammenhang wirklich verstanden werden. ... Dafür
brauchen wir einen europäischen Dialog, und der wird von
allen Beteiligten ungeschminkte Selbsterkenntnis verlangen"
Diese
"ungeschminkte Selbsterkenntnis" ist in Deutschland mit
seiner vorbildlichen Vergangenheitsbewältigung schon weit
vorangeschritten – so die Selbstwahrnehmung –, jedoch noch
nicht in allen anderen europäischen Ländern. Bemängelt wird
der alte und neue italienischen Faschismus oder die
Weigerung Polens und Tschechiens, deutsche Besitzansprüche
zu befriedigen und sich für die Vertreibung zu
entschuldigen. In der FES-Zeitschrift war zu lesen, die
Existenz der "Preußischen Treuhand" (dem Kampfinstrument der
Vertriebenenverbände zum Einklagen alter deutscher
Besitzstände im Zuge der Osterweiterung und mit der
Schützenhilfe europäischer Gerichte) sei verständlich, da
Polen immer noch kein Restitutionsrecht habe.
Das Auswärtige Amt und andere deutsche Organisationen wie
das Goethe-Institut intensivieren ihre Arbeit nicht nur im
arabischen Raum,
sondern auch in den ehemaligen deutschen Gebieten, deren
Städte in offiziellen Papieren konsequent mit den alten
deutschen Namen bezeichnet werden, als ob sie schon wieder
unser wären.
Diese
spezifischen deutschen Interessen korrespondieren mit der
europäischen Identitätsbildung, die auch in anderen Ländern
vorangetrieben und bei der auf die "europäische Katastrophe"
des 2. Weltkrieges als ein Gründungsmythos zurückgriffen
wird. Es findet dabei eine bewusste Akzentverschiebung
statt. Die Rede ist nicht mehr von der deutschen Barbarei,
die ganz Europa betraf, auch der Holocaust ist dafür eher
hinderlich. Wichtig sind vielmehr das Leiden der Soldaten
und der Zivilbevölkerung an allen Fronten und im
Bombenterror, das Vergeben der Opfer gegenüber den Tätern
bzw. das generelle Verwischen der Täter-Opfer-Dichotomie.
Mark Schneider
Zugabe: Kurze Antworten auf die am häufigsten gestellten
Fragen.
Warum gerade jetzt die
Kampagne gegen Europa?
So lange
es die EU gibt, gibt es eine linke Kritik an ihr. Diese
verharrte zwar meist auf niedrigem Niveau; sie kritisierte
die "imperialistische Großmachtpolitik", das "Europa der
Reichen und Konzerne", das neoliberale Europa samt
Sozialabbau, die Festung Europa und die Unterdrückung
"ethnischer Minderheiten in Europa" (die Basken, die
Nordiren...).
Aber immerhin gab es Ansätze von Widerstand und Kritik.
Seitdem es wirklich ernst wird mit Europa, d.h. Europa
einerseits auf einer politischen Ebene durchstartet,
andererseits dies mit identitätspolitischen Offensiven
flankiert wird, ist Kritik nicht mehr zu vernehmen. Die
größten Teile der Linken beteiligen sich aktiv am Bau des
gemeinsamen Hauses Europa, andere verschließen die Augen vor
der europäischen Spezifik, wieder andere können aufgrund
ihrer Deutschlandfixierung nicht erkennen, dass ihr
Hassobjekt jetzt im europäischen Gewand daherkommt. Umso
wichtiger ist es, gerade jetzt klar zu machen, dass die neue
Heimat Europa zu verraten ist!
Kann nicht Europa nur
verraten, wer sich damit identifiziert hat?
Die
Aufforderung "Die neue Heimat Europa verraten" richtet sich
einerseits gerade an diejenigen, die in der europäischen
Einigung die Überwindung nationaler Interessengegensätze
sehen und sie deswegen begrüßen. Andererseits konnten wir
bislang auch immer "Deutschland verraten" ohne vorher "stolz
auf Deutschland" gewesen zu sein. Unser Pass ist deutsch,
unsere Staatsbürgerschaft ist jetzt eine europäische. Wer
sich indifferent verhält, ist Teil des Kollektivs, in das er
oder sie hineingeboren wurde. Wir unterliegen den nationalen
Zwängen und profitieren von den uns gewährten Rechten – egal
was wir von der Nation halten. Insofern ist ein aktives
"Verraten", was auch immer das in der Praxis dann bedeutet,
Voraussetzung für die Kritik an Europa.
Ist die
Beschäftigung mit Europa angesichts des weltweiten
Imperialismus unter Führung der USA nicht irrelevant?
Wer so
fragt, verschließt bewusst die Augen vor den realen
Verhältnissen. Erstens ist die USA nicht die Macht, die der
ganzen Welt ihren Willen aufzwingen kann. Zweitens
existieren sowohl auf der ökonomischen, als auch der
politischen und ideologischen Ebene massive
Interessensgegensätze zwischen Europa und den USA, die zwar
schon während des Kalten Krieges existierten, jedoch erst
nach 1989 zum Zuge kommen konnte. Es gibt natürlich immer
noch eine Interessenkongruenz zwischen Europa und den USA,
das transatlantische Verhältnis besteht – zwar schon leicht
angeschlagen – fort. Die westliche Wertegemeinschaft hat
noch gemeinsame Feindbilder. Die Sicherung der Verwertung
ist das oberste Ziel aller kapitalistischen Staaten.
Allerdings zeichnet sich der Kapitalismus gerade durch
Konkurrenz aus: Zwischen den einzelnen Unternehmen und den
Volkswirtschaften. Diese Konkurrenz ist eine der Triebkräfte
des europäisch-amerikanischen Zerwürfnisses. Eine andere ist
der tief verankerte Antiamerikanismus. Drittens ist die EU
inzwischen zu einer Supermacht geworden, an der niemand mehr
vorbeikommt – auch nicht die USA. D.h. selbst wer die
Interessenskonflikte zwischen EU und USA als unbedeutender
einschätzt als wir, müsste die EU als wohl bald mächtigsten
Akteur der Weltgeschichte trotzdem in den Mittelpunkt der
eigenen Kritik rücken. Viertens würde es selbst einer Linken
in den USA gut zu Gesicht stehen, nicht bedenkenlos den
europäischen Antiamerikanismus mit neuer argumentativer
Munition à la Michael Moore zu versorgen, sondern den
spezifischen Gehalt der europäischer Einigung zu
analysieren. D.h. nun nicht, dass sich die amerikanische
Linke positiv auf die eigene Regierung beziehen sollte.
Jedoch gilt es anzuerkennen, dass gerade da, wo sich Europa
den USA überlegen wähnt, sich in der Regel besondere
Scheußlichkeiten verbergen, denen die Politik der USA – bei
einer rein realpolitischen Betrachtungsweise – vorzuziehen
ist.
Sind nicht die
Nationalstaaten weiterhin die wichtigen Akteure, denen linke
Kritik zu gelten hat?
Einerseits ja. Andererseits: Eine Kampagne gegen Sachsen
hätte zwar auch einen gewissen Charme. Aber auch ohne
Sachsen wäre Deutschland Scheisse. Wenn sich die politische
Macht von einer Ebene auf eine höhere verlagert, dann hat
die Kritik diese Entwicklung nachzuvollziehen. Was noch
hinzukommt, ist die Tatsache, dass der klassische
Nationalismus zumindest in linken und liberalen Kreisen
verpönt ist. Die Identifikation mit Europa hingegen gilt als
chic. Selbst wenn die Mehrheit der Deutschen noch lieber
deutsch als europäisch wären – was ja nicht der Fall ist –
hätten wir uns eher mit der europäischen Identität zu
beschäftigen, da die bestimmenden gesellschaftlichen Kräfte
– die politischen und ökonomischen Eliten und die
Zivilgesellschaft – eben auf Europa setzen.
Europa kann
doch gar nicht mit einer Stimme sprechen, wie der Irakkrieg
gezeigt hat.
Gerade
der Irakkrieg hat gezeigt, dass die "europäische Straße"
sehr wohl mit einer Stimme zu sprechen vermag. Die
Friedensdemonstrationen waren ein gesamteuropäischen
Phänomen und wurden nicht umsonst als die neue Avantgarde
des old europe bezeichnet. Auch die weitere Entwicklung hat
gezeigt, dass der europäische Kitt stärker ist als
Solidaritätsbekundungen gegenüber den USA. Die spanische
Bastion ist gefallen, Polen hat sich zumindest in der Frage
der Verfassung dem deutsch-französischen Druck gebeugt – die
entsprechenden Warnungen haben ihre Wirkung nicht verfehlt.
Fraglich auch, wie lange sich die italienische Regierung
noch halten kann. Großbritannien hingegen laviert schon die
ganze Zeit zwischen den USA und der Triade aus BRD,
Frankreich und GB. Aber auch Frankreich und Deutschland
haben nicht nur Druck ausgeübt, sondern den
Konfrontationskurs gemäßigt und sind damit auf die anderen
europäischen Staaten einen Schritt zugegangen.
Natürlich
wird es auch in Zukunft Konflikte zwischen den einzelnen
Staaten innerhalb der EU geben, die EU als solche und die
europäische Identität wird damit nicht in Frage gestellt. Im
Gegenteil: Solche Konflikte schweißen auf lange Sicht
zusammen – wenn selbst der 2. Weltkrieg zum positiven
Bezugspunkt einer gemeinsamen europäischen Geschichte werden
konnte.
Sind die Deutschen nicht
eher gegen Europa eingestellt?
Nein. Das
sind in erster Linie die Briten, die am meisten am
transantlantischen Verhältnis festhalten. Die Deutschen
belegen in den Umfragen mittlere Plätze hinsichtlich ihrer
Zustimmung und Identifikation mit Europa. Das einzig
deutsche Spezifikum besteht darin, dass gerade die Projekte,
die mit besonderer Vehemenz von der deutschen Regierung
vorangetrieben werden, weil sie im deutschen Interesse sind,
bei der deutschen Bevölkerung aufgrund ihrer nationalen
Borniertheit am wenigsten Anerkennung finden. Sei es der
Euro, der die D-Mark abgelöst hat, sei es die
Osterweiterung, die rassistische Ressentiments hervorrief,
sei es Kerneuropa und die Abschaffung der Einstimmigkeit,
die Befürchtungen von Souveränitätsverlusten hervorrufen
oder sei es die Ethnisierung und Regionalisierung, die den
Deutschen mit dem Makel des Multikulturalismus behaftet ist
– alles zentrale Elemente der deutschen Europapolitik, oft
gegen den Widerstand anderer europäischen Staaten
durchgesetzt. Die Deutschen hingegen glauben selbst noch
nicht an ihre eigene Großmachtrolle und wittern deswegen
hinter all dem nur den Ausverkauf gegenüber dem Ausland,
anstatt die selbstbewusste Geltendmachung deutschen
Einflusses zu honorieren. Allerdings: bei Euro,
Osterweiterung etc. gibt es lediglich eine relativ größere
Skepsis im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern,
von einer Ablehnung kann jedoch keine Rede sein. In zwei
Fragen harmoniert übrigens die deutsche Regierung mit ihrem
Volk: Die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie
die Verfassung sind eine Herzensangelegenheit der
PolitikerInnen und der gesamten Bevölkerung.
Ist es mit Europa wirklich
schon so weit?
Wie weit?
Europa ist noch keine Nation. Und wird auch nie eine, wie
die uns bekannten. In Europa entsteht ein neues Modell der
Vergesellschaftung, welches jedoch viele Elemente der
Nationalstaatsbildung integriert. Werden diese als Maßstab
genommen, dann ist die "Nation Europa" – wie oben ausgeführt
– an manchen Punkten schon fertig, bei anderen irgendwo
mittendrin, an wieder anderen steht es erst am Anfang. Und
einige Punkte werden keine oder nur eine marginale Rolle
spielen (Wehrpflicht, Sprache). Allerdings befinden wir uns
gerade an dem Punkt, an dem Europa "nach den Sternen greift"
und die meisten dies begeistert anfeuern.
Ist Europa nicht in
Wirklichkeit antinational, antirassistisch und
antiimperialistisch?
Wer sich
in Begriffsverdrehung üben will, kann dies gern behaupten.
Europa ist ein nationales Projekt – das wurde ausführlich
beschrieben. Da, wo Europa antinational erscheint, ist dies
nur Ausdruck der vor allem aus Deutschland stammenden
völkischen Politik, mit Minderheiten fremde Staaten zu
zersetzen oder mit antisemitischen Argumenten Israel das
Existenzrecht abzusprechen. Die völkische Politik ist an
sich nicht antinational – vor allem nicht in Bezug auf die
eigene Nation –, hat jedoch ein instrumentelles Verhältnis
zu anderen Nationen. Der Einfluss völkischer Politik auf
Europa sollte allerdings nicht überschätzt werden, da sie in
Deutschland nach 1945 eingedämmt wurde und die anderen
europäischen Staaten inzwischen nicht unbedingt zu Freunden
der deutschen Ideologie geworden sind.
Antirassistisch ist die EU keineswegs. Ganz im Gegenteil: Im
Vergleich mit allen anderen Regionen der Welt ist die
Festung Europa die am meisten rassistische. Da, wo Europa
angeblich antirassistisch argumentiert, geschieht dies aus
einer rassistischen Motivation heraus. Die Vielfalt der
Völker soll gewahrt bleiben und vor der als amerikanisch
verstandenen Globalisierung geschützt werden, sie sollen
sich nicht vermischen und emanzipieren können. Auch das ist
eine deutsche Tradition. In den "Richtlinien für die
kolonialpolitische Schulung" von 1939 hieß es: "Der
Nationalsozialismus lehrt jedoch gerade anstatt des
Rassenhasses die Rassenachtung".
Wer also die Behauptung, weil der "Neger" anders sei, soll
er auch anders bleiben, als antirassistisch bezeichnet, mag
damit provozieren – es bleibt aber unklar, was dann gleich
noch einmal Rassismus war. Etwa die antirassistische
Behauptung, alle Menschen sind gleich?
Ähnlich
verhält es sich mit dem Antiimperialismus. Der europäische
Antiimperialismus entpuppt sich bei genauerer
Betrachtungsweise als ein Imperialismus, der sich gegen
andere Großmächte zu behaupten versucht. Wer den Begriff
Imperialismus auf die USA begrenzen will, der muss natürlich
jede Politik gegen die USA als antiimperialistisch
bezeichnen. Dieser orwellschen Sprache bedient sich ja
gerade Europa, welches sich als friedlich halluziniert, weil
die USA kriegerisch sei und man selbst gegen die USA. Um
dieser Selbststilisierung nicht auf den Leim zu gehen, ist
daran festzuhalten, die EU auch als imperialistisches
Projekt zu bezeichnen, welches im Wettstreit mit anderen
Großmächten steht und dabei gezielt auf
"antiimperialistische" Kräfte setzt, d.h. auf Staaten,
"Völker" und Gruppierungen, mit denen gemeinsam der
amerikanische (russische, chinesische etc.) Einfluss
zurückzudrängen ist. Es gab schon immer verschiedene
imperialistische Konzepte. Es macht nun gerade keinen Sinn,
das widerlichste von allen, nämlich das deutsche, als
antiimperialistisch zu titulieren. Neu ist übrigens auch der
vermeintliche Antiimperialismus der Deutschen nicht: "Zur
Zeit haben die Deutschen bei den erwachenden Kolonialvölkern
das größte Ansehen, gerade weil Deutschland an der
kolonialen Ausbeutung fremder Länder nicht mehr beteiligt
ist. Das muß sich auch handelspolitisch günstig für
Deutschland auswirken", schrieb der sozialdemokratischer
Reichskanzler 1927,
also nach dem Ende deutscher Kolonialpolitik und sechs Jahr
vor dem Dritten Reich. Die deutsche Kolonialpolitik, die mit
dem Ersten Weltkrieg ihr Ende fand, begann übrigens mit der
deutschen Anti-Sklaverei-Bewegung: Die eigenen kolonialen
Eroberungsgelüste wurden mit dem Verweis auf das schwere Los
der "Neger" in der arabischen Sklaverei kaschiert. Auf die
Befreiung vom arabischen Joch folgte für die Menschen in den
eroberten Kolonien in Afrika die brutalere Versklavung durch
die Deutschen.
So antirassistisch, antiimperialistisch und antinational,
wie es heute in antideutschen Kreisen gern behauptet wird,
waren die Deutschen also schon seit Anfang an.