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Nation Europa
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Das BGR Leipzig und der Antifaschistische Frauenblock Leipzig (AFBL) tourten mit einer Infoveranstaltung über die europäische Identitätsbildung und den linken Anteil daran durch über 15 Städte – dabei kamen mehr Personen zusammen als bei der Demonstration am 24. Juli 2004 in Leipzig, die Teil der Kampagne "Die neue Heimat Europa verraten"[1] war. Im folgenden dokumentieren wir eine leicht überarbeitete Fassung eines Referats von der Infotour, welches sich mit der Frage auseinandersetzt, ob man im Zusammenhang von Europa von einer Nationsbildung sprechen kann und wenn ja, wie weit diese schon vorangeschritten ist.

In der Unterzeile zur Kampagne heißt es "Gegen die Kollaboration mit der europäischen Nation". Wir wurden schon darauf hin angesprochen, dass es albern sei, Inhalte einem Reim zu opfern. Dass sich dieser Spruch reimt, war uns allerdings bis dahin gar nicht aufgefallen, vielmehr ist es uns durchaus ernst, wenn wir von "europäischer Nation" sprechen. Nun wollen wir allerdings weder behaupten, dass die Nationswerdung Europas schon abgeschlossen sei, vielmehr befindet sie sich gerade an ihrem Anfangspunkt. Noch sind wir der Meinung, dieser Prozess laufe genauso ab, wie die Nationswerdung der europäischen Staaten in den letzten Jahrhunderten.

Nun mögen einige einwenden, von einer "europäischen Nation" könne schon deswegen keine Rede sein, weil ja erstens in Europa die einzelnen Nationen fortbestehen sollen und zweites allerorten betont wird, dass gerade die europäische Einigung kulturelle Unterschiede auf nationaler und regionaler Ebene erst erfahrbar mache und damit sogar noch vertiefe. Beide Feststellungen sind an sich richtig, taugen jedoch nicht wirklich als Einwand, was deutlich wird, wenn man sich vor Augen hält, dass die Existenz von Bundesländern innerhalb der BRD, aber auch von regionaler Heimatliebe und Ossi-Patriotismus der deutschen Nation keineswegs im Wege stehen.

Es macht also Sinn, die Elemente, die – historisch betrachtet – bei der Nationalstaatsbildung eine wichtige Rolle gespielt haben und auch heute noch konstitutiv für jede Nation sind, unter die Lupe zu nehmen und zu prüfen, welche Analogien bezüglich der Europäischen Union bestehen.

Grundvoraussetzung einer Nation ist ein festgelegter geographischer Raum, der nicht nur auf Landkarten verzeichnet ist, sondern dem die Menschen auch gewisse Gefühle entgegenbringen (Vaterland, Mutterboden, Landschaften etc.). Die Länder der europäischen Union – auch wenn in bestimmten Abständen neue hinzukommen – bilden diesen Raum. Und ca. 50% der deutschen Jugendlichen gaben in einer Umfrage an, dass sie mit Europa vor allem die geographische Lage verbinden (diese war damit genauso wichtig für ihr Europagefühl wie der Euro und die "kulturellen Werte" Europas).[2]

Die Außengrenzen um diesen Raum sind wiederum nicht nur beliebige Linien auf einer Karte, sondern konstituieren ein homogenes Innen und ein als fremd und bedrohlich wahrgenommenes Äußeres. Damit werden die Grenzen nicht nur zu Institutionen, an denen bestimmte Politiken vollstreckt werden (Grenzkontrollen gegen Ein- und/oder Ausreise, Kriminalitätsbekämpfung, Zollerhebung), sondern sie verankern sich gleichsam in den Köpfen der Menschen. Für Europa lässt sich konstatieren, dass gerade in diesem Bereich die Entwicklung weit vorangeschritten ist: Eines der wichtigsten Projekte der EU ist die Grenzabschottung (Schengener Abkommen) und die Kriminalitätsbekämpfung (Europol). Verbunden ist dies mit gesamteuropäischen und ständig präsenten Diskursen über die Bedrohung durch Schleuserkriminalität, Drogenhandel und Terrorismus, die nur mittels der Festung Europa in Schach gehalten werden könnte.

Eine Nation verfügt über zentrale Institutionen, die das politische und gesellschaftliche Leben regeln. Die EU hat eine eigene Regierung, ein Parlament, eine Justiz, eine Zentralbank, eine Polizei und eine Armee, verfügt über einen eigenen Haushalt und kann Gesetze erlassen.[3]

Desweiteren zeichnet sich eine Nation durch einen homogenen Wirtschaftsraum, innerhalb dessen z.B. keine Zölle erhoben werden und ein einheitliches Zahlungsmittel existiert, und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, die für einen gewissen Ausgleich innerhalb der Nation sorgt, aus. Dieser Prozess ist innerhalb der EU, da einer der wichtigsten Triebkräfte der ersten Jahrzehnte, sehr weit vorangeschritten und fand seinen vorläufigen Höhepunkt mit der Einführung des Euro.

Das Militär wurde früher als Schule der Nation bezeichnet – dies zu Zeiten, als die allgemeine Wehrpflicht dafür sorgte, dass alle Männer der Nation zu dienen haben. Dies ist inzwischen aufgrund der militärtechnischen Entwicklung obsolet geworden – sowohl innerhalb der europäischen Nationen[4] als auch für Europa selbst. Nichtsdestotrotz spielt das Militär weiterhin eine wichtige Rolle für jede Nation – und auch die EU versteht sich von Beginn an auch als militärisches Bündnis, welches sich jetzt daran macht, eigene und unabhängige Streitkräfte aufzustellen.

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Nationen sich eben nicht nur durch eine Innenpolitik über den eigenen Raum definieren, sondern die Außenpolitik ebenfalls von großer Bedeutung ist. Mit dem Ende des Kalten Krieges kann die EU die schon lange gehegten außenpolitischen Ambitionen umsetzen. Gerade der nun fertig gestellte Verfassungsentwurf räumt der Union weitreichende außenpolitische Kompetenzen ein, die de facto einen umfassenden Souveränitätsverlust der einzelnen europäischen Staaten nach sich ziehen. Dies weckt allerdings keine Ängste bei den europäischen BürgerInnen, ganz im Gegenteil: Die geplante gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erzielt mit 75% höchste Zustimmungswerte verglichen mit den anderen europäischen Projekten.[5]

Diese sechs Punkte wurden seit den 50er Jahren schrittweise durch EU-Bürokratie durchgesetzt. Sie sind zwar notwendige Bedingung für jede Nationalstaatsbildung, jedoch alleine nicht hinreichend. Die staatliche Regulation über den gesamten Raum muss gepaart werden mit einer "Nationalisierung der Massen", damit diese sich selbst als BürgerInnen der Nation ansehen und entsprechend verhalten.[6] Es kommen also noch weitere Elemente hinzu, auf deren Umsetzung innerhalb Europas ich erst nach der Aufzählung zu sprechen komme:

Als erstes sei die Konstruktion einer stringenten Nationalgeschichte genannt. Die Nation verfügt nicht nur über Ursprungsmythen, die möglichst Jahrtausende zurückliegen, sondern hat sich seitdem in einer wechselvollen Geschichte schicksalhaft zu genau dem entwickelt, was sie heute darstellt. Historische Ereignisse werden dabei erfunden, umgedeutet oder vergessen – und der eigenen Nationalgeschichte zugeordnet oder eben einer anderen.

Je nach Ausrichtung versteht sich eine Nation eher als völkische Blutsgemeinschaft, definiert sich also über vermeintlich biologisch-"rassische" Kriterien, oder mehr als Wertegemeinschaft, die sich auf eine gemeinsame Verfassung, politische Vorstellungen und Kulturleistungen beruft. Beide Konzepte, so sehr sie sich auch unterscheiden, sind mit einem Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Nationen verbunden, die entweder qua ihrer Gene oder aufgrund mangelnder Zivilisation minderwertig sind.

Die Nationalgeschichte und die Gemeinschaft wird mittels öffentlicher Kulte, Nationalfeiertage und anderer Feste zelebriert. Aber auch Denkmäler oder öffentliche und familiäre Geschichtserzählungen spielen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von gemeinsamer Tradition und Identität. Diese werden oft aber auch durch abstrakte Symbole repräsentiert, genannt seien Fahnen und Hymnen, Trachten und Uniformen, Zahlungsmittel und Briefmarken etc.

Eine Nation, die Staatsform erlangt hat, verleiht ihren BürgerInnen die Staatsbürgerschaft, die sich nicht nur im Ausstellen eines Passes ausdrückt, sondern mit weitreichenden Rechten und Pflichten verbunden ist.

Neben den ganz oben genannten staatlichen Institutionen verfügt jede Nation über eine öffentliche Sphäre, eine Zivilgesellschaft, die sich in Kegelvereinen oder Skatrunden, Stadtteilinitiativen oder der Umweltbewegung, in der Zeitungsredaktion oder am Stammtisch organisiert. Gemeinsam ist dieser lockeren Form der Vergesellschaftung, die staatliche und quasi-staatliche (Bildungseinrichtungen wie Schulen) Formen ergänzt, nicht nur das Agieren innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens, sondern die Affirmation und Reproduktion der Nation. Nicht zu vergessen sei in diesem Zusammenhang auch die Familie als die "Keimzelle der Nation."

Unabhängig davon, ob es ein völkisches oder kulturelles Verständnis von Nation gibt, verfügt jede Nation über eine eigene Kultur und eine Sprache.[7] Andere Sprachen werden als Dialekte eingegliedert und der Hochsprache angeglichen, oder aber als Minderheitensprache marginalisiert. Die Nationalkultur (Literatur, Musik) ist oft eng mit der Sprache verknüpft.

Keine Nation kommt letztendlich ohne Feindbilder aus. Die mutmaßlichen Feinde werden sowohl im Inneren als auch außerhalb des eigenen Raumes verortet. Die Feindbilder haben nicht nur die Funktion der Abgrenzung gegenüber anderen Nationen, sondern auch der eigenen Unterwerfung unter die nationalen Interessen – dabei zu unterdrückende Wünsche werden gleichsam auf die "Anderen" projiziert und damit abgespalten.

Auch die Durchsetzung dieser neun Punkte lässt sich teilweise seit Beginn der 50er Jahre beobachten. Allerdings, dies dürfte deutlich geworden sein, handelt es sich um Entwicklungen, die sich im Gegensatz zu den oben genannten sechs Punkten nur schlecht oder nicht ausschließlich per Dekret verordnen lassen. Der erste offizielle Versuch, eine europäische Identität zu begründet, stammt aus dem Jahr 1973. Damals verabschiedeten die damaligen neun EG-Staaten ein entsprechendes Papier, in dem in 21 Thesen die kulturelle Überlegenheit Europas gegenüber der restlichen Welt begründet sowie weltpolitische und gegen die USA gerichtete Ansprüche daraus abgeleitet werden.[8]

Allerdings blieb dieses Dokument sowie weitere Bestrebungen bis in die 90er Jahre ohne große Erfolge. Eine europäische Identität – dies beweisen alle Meinungsumfragen – bildete sich zwar langsam heraus; dieser Prozess hielt aber nicht Schritt mit der rasanten Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Einigung. Nach 1989 wurde das Problem akut. Die EU wollte und konnte ab diesem Zeitpunkt mehr sein, als ein loser Staatenbund, der über eine gemeinsame Freihandelszone verfügt. Die Union wurde zu einer Supermacht auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet, zu einem weltpolitischen Akteur, der der USA Paroli zu bieten gedenkt. Und die Union konnte gen Osten – der "Eiserne Vorhang" war gefallen – expandieren. Das beständige Fortschreiten des europäischen Einigungsprozesses führte aber auch unabhängig davon zu einer Nivellierung nationalstaatlicher Besonderheiten innerhalb der EU und zu einem Souveränitätsverlust der Staaten gegenüber der EU. Diese Entwicklung wird besonders jetzt sichtbar bei der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips und der Etablierung einer gemeinsamen Außenpolitik. Die europäischen Staaten können ihre eigenen Interessen innerhalb der EU nicht mehr per Veto durchsetzen – und das zu einem Zeitpunkt, wo die EU ihnen außen- und innenpolitisch in vielen Bereichen die Zügel aus der Hand nimmt.

Dieser Prozess erlangt nur durch die Herausbildung einer europäischen Identität die notwendige Stabilität. Bislang waren es die BürgerInnen gewohnt, sich ihren nationalen Gesetzen zu unterwerfen, für das Volk auf eigene Interessen zu verzichten und auch mal den Gürtel enger zu schnallen, Steuern an den Staat abzuführen und als Soldaten notfalls auch für ihn zu sterben. All dies fordert nun im zunehmenden Maße die EU von den EuropäerInnen ein.

So verwundert es nicht, dass in den letzten Jahren eine massive identitätspolitische Offensive bezüglich Europa im Gang ist. Diese wird allerdings nicht nur von oben verordnet (so wie es z.B. zur Absicherung der Osterweiterung durch die deutsche Bundesregierung geschah, die damit auf die rassistischen Bedenken innerhalb der deutschen Bevölkerung reagierte), sondern wird von verschiedensten AkteurInnen getragen, zu denen auch die Linke gehört.[9] Es kann also konstatiert werden, dass die Herausbildung einer europäischen Identität inzwischen zu einem Selbstläufer geworden ist.

Wie weit dies inzwischen vorangeschritten ist, lässt sich u.a. daran erkennen, dass selbst gesellschaftliche Gruppen, die den nationalen Rahmen eigentlich ablehnen, ihre Forderungen nur noch innerhalb dieses Rahmens vorzutragen wissen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kampagne "Europa in schlechter Verfassung" der linken, europakritischen und antimilitaristischen Organisationen Informationstelle Militarisierung e.V.[10] und DFG-VK[11]. Im Rahmen dieser Kampagne verteilten die Organisationen eine Postkarte, die an das Bundeskanzleramt zu schicken sei. Mit dieser Karte wird der Bundeskanzler Schröder aufgefordert, "sich mit uns für einen neuen EU-Verfassungsentwurf einzusetzen ... der die Vision einer demokratischen, sozialen und zivilen Europäischen Union erfüllt". Dies sei allerdings nur unter "Einschluss sozialer, emanzipatorischer Bewegungen" möglich. Wie absurd dies ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass eine antinationale Linke auch nie für das "bessere Deutschland" eingetreten ist und alle soziale Bewegungen, die nicht gegen Deutschland agierten, sondern nur ihre eigene Kreativität für Deutschland einbringen wollten, beinahe binnen Jahresfrist mit Beamtenstellen, Parlamentssitzen oder im schlimmsten Fall Sozialarbeiterjobs auf ABM-Basis belohnt wurden.

Ich möchte nun im folgenden kurz anreißen, wie der Stand der europäischen Entwicklung bei den oben aufgezählten neun Elementen, die für eine "Nationalisierung der Massen" sorgen, ist.

Am deutlichsten ist wohl die Forcierung geschichtspolitischer Diskurse in den letzten Jahren. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Zeitungsartikel zu dem Thema erscheint oder eine Veranstaltung dazu durchgeführt wird. Jeder, von den diversen MinisterInnen über den Staatsphilosophen Habermas und der Volontärin in der Regionalzeitung bis hin zum Stammtisch oder der lokalen amnesty international-Gruppe hat sich schon dazu geäußert. Alle Äußerungen hier aufzuzählen, würde mehr Raum einnehmen als die mehr als 300-seitige europäische Verfassung, die reichlich Geschichtsmystik zu bieten hat. Deswegen sei nur ein prägnantes Beispiel erwähnt. In der Zeitschrift der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) "Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte"[12] schafft es ein Autor unter dem Titel "Friedensmacht in einer multipolaren Weltordnung" auf nur fünf Seiten die europäische Geschichte in diversen historischen Ereignissen zu verankern. Er nennt den 30jährigen Krieg, die Geschichte der Aufklärung, die Demokratie, "Kriegsgewalt und Werte des friedlichen Zusammenlebens", das kulturelle Erbe, den demokratischer Wandel im Osten, aber auch den Jugoslawienkrieg, sowie "Erinnerung, die uns trennte bevor sie uns verband: Menschheitskatastrophe des Völkermords", daneben noch den Kolonialismus und die Diktaturerfahrung im Dritten Reich sowie in der Stalinzeit. Andere Quellen erwähnen außerdem noch die Antike und das Christentum. Europa hat auf diesem Gebiet sogar einen entscheidenden Standortvorteil gegenüber den einzelnen Nationalstaaten, blicken diese eigentlich nur auf eine kurze Geschichte zurück, so kann Europa Jahrtausende für sich reklamieren, in dem es einfach alles, was in Europa passierte, unter den Begriff der europäischen Geschichte subsumiert.

Die europäische Wertegemeinschaft entsteht in diesem Selbstbild zwangsläufig aus der Geschichte. Europa, so die Argumentation, habe nämlich aus seiner Geschichte gelernt. Dieser Lernprozess sei anderen Supermächten verwehrt geblieben, weil sie entweder geschichtslos seien wie die USA oder aber über keine glorreiche und vielfältige Geschichte verfügten, wie es z.B. in China der Fall wäre. Europa hingegen sei wegen seiner Geschichte zivil und sozial. Ausdruck davon ist die Friedensmacht Europa und die europäische Friedensbewegung, der europäische Sozialstaat und der Anspruch, der ganzen Welt, Wohlstand und Glück zu bringen. Letzterem Ziel habe sich zwar auch die USA verschrieben, jedoch scheitern sie zwangsläufig an dessen Verwirklichung, weil sie zu brutal und arrogant agierten. Europa hingegen wisse aufgrund der vielen Kriege, die aus nationaler Borniertheit entstanden seien, dass die Vielfalt der Völker und Kulturen zu respektieren sei. Dialog statt Krieg, Toleranz statt Globalisierung – das sind die europäischen Werte. Wer mehr dazu wissen will, abonniere sich eine Tageszeitung. Billiger und zeitsparender ist allerdings die Lektüre der Präambel der europäischen Verfassung,[13] die diese Werte mustergültig definiert. Dort ist dann u.a. die Rede davon, dass Europa für die "Ärmsten und Schwächsten" da sei. Die Frage, ob sich in Europa eine Volksgemeinschaft oder Wertegemeinschaft herausbilden wird, lässt sich dahingehend beantworten, dass es sich bei Europa selbst um eine Wertegemeinschaft handelt. Mal abgesehen davon, dass biologistische Argumentationen unmodern geworden sind und aufgrund der NS-Rassenpolitik nach 1945 nachhaltig diskreditiert wurden, wäre es auch schwierig, an solche Konzepte im europäischen Rahmen anzuknüpfen. Die rassistisch begründete Überlegenheit bezog sich immer auf die eigene Nation (Aussehen, Sprache) oder die weiße (arische, nordische) Rasse in ihrer Gesamtheit. Beides ist für Europa nicht praktikabel. Innerhalb von Europa und durch Europa jedoch erlangen völkische Diskurse eine gewisse Konjunktur. Diese dienen jedoch nur über einen Umweg der europäischen Identitätsbildung. Indem nämlich Europa völkische Unterschiede respektiert und fördert, beweist es sich als Wertegemeinschaft, die einen vermeintlich fortschrittlichen Umgang mit Völkern und Kulturen pflegt.

Obwohl der geschichtspolitische und Werte-Diskurs im Moment gerade recht ausgeprägt ist, blickt er nur auf eine kurze Geschichte zurück und wurde deswegen bislang kaum in Kulten und Feiern institutionalisiert. Zelebriert wird Europa in den Medien und bei Feiertagen, wie dem D-Day, die eigentlich eine andere Geschichte haben, jedoch für Europa instrumentalisiert werden. Eine Ausnahme stellen die Feiern zur Osterweiterung dar, die in den meisten Ländern sehr intensiv und unter großer Beteiligung begangen wurden. Bedeutende europäische Denkmäler gibt es nicht. In der europäischen Verfassung wurde ein europäischer Feiertag, der 9. Mai, festgeschrieben – ob er eine gewisse Bedeutung erlangt, wird die Zukunft zeigen. Wer jedoch die europaweiten Friedensdemonstrationen und Sozialforen als Manifestation europäischer Identität begreift, kann – im Wissen über historische Vorläufer, z.B. die Burschenschaftsbewegung in Deutschland – erkennen, dass es diese Feiern von unten jetzt schon gibt, und deswegen auch darüber spekulieren, dass der 15. Februar, der Tag der großen Friedensdemos, dem 9. Mai den Rang als europäischen Feiertag streitig machen wird.

Ähnlich verhält es sich mit den europäischen Symbolen. Die offiziellen Symbole, die jetzt auch in der Verfassung verankert wurden (Fahne, Motto: "In Vielfalt geeint", Hymne, Währung etc.), haben bislang ihr identitätsstiftendes Potential noch nicht entfalten können. Zwar hängt die Europafahne schon in manchem Schrebergarten und nicht nur vor öffentlichen Gebäuden, zwar genießt der Euro inzwischen breite Akzeptanz – an die Deutschlandfahne und die D-Mark langt es allerdings noch lange nicht heran. Auch in diesem Fall kann konstatiert werden, dass die vermeintlich dissidenten europäischen Symbole (Friedenstaube etc.) bislang eine größere Integrationskraft bieten.

Die europäische Staatsbürgerschaft ist Praxis – da sie jedoch die nationale nicht ersetzt, sondern ergänzt, ist auch sie bislang kein wichtiges Element einer europäischen Identitätsbildung. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt allerdings die damit verbundene Reise- und Niederlassungsfreiheit. Vor allem junge Menschen orientieren sich nicht nur touristisch, sondern auch arbeitsmäßig auf Europa.

Über eine europäische Sprache verfügt Europa nicht. Gegen die vermeintliche Dominanz des Englischen wehren sich die anderen Länder vehement – dabei wird weniger der britische Einfluss befürchtet, sondern der "amerikanischen Kulturindustrie" der Kampf angesagt. Frankreich ist der Vorreiter im Kampf gegen die Amerikanisierung der Sprache, der mittels Gesetzen und Quoten für englischsprachige Musik im Radio ausgetragen wird. Die Versuche Deutschlands, der eigenen Sprache in Europa mehr Gewicht zu verleihen bzw. gar zur europäischen Sprache zu machen, bleiben wohl – so ist zu hoffen – ebenfalls erfolglos. Obwohl es also besonders auf diesem Gebiet aussichtslos aussieht, gibt es auch bezüglich einer europäischen Sprache Bemühungen. In der schon oben erwähnten Zeitschrift der Friedrich-Ebert-Stiftung ist davon die Rede, dass Europa über drei Sprachfamilien (romanisch, germanisch, slawisch) verfüge, die gleichberechtigt nebeneinander stehen müssen, damit darauf ein "eurogemeinsamer kulturwissenschaftlicher Bildungskanon"[14] aufbauen könne. An anderer Stelle ist davon die Rede, dass die "Sprache Europas die Übersetzung"[15] sei.

Damit verbunden ist das Problem einer europäischen Kultur. Im Rahmen der Wertegemeinschaft ist zwar viel von dieser die Rede, dies geschieht aber rein appellativ. Von einer Nationalkultur in Europa kann keine Rede sein. Im Gegensatz zum Sprachproblem dürfte aber eine europäische Kultur beträchtliche Entwicklungschancen besitzen. Es wird zwar noch Jahre dauern, bis sich über einen Literaturnobelpreis für eine italienische Schriftstellerin auch die Deutschen mehrheitlich freuen, in Abgrenzung zu anderen Kulturen werden die Werke aus europäischen Ländern jedoch zunehmend einen besseren Stand haben. Interessant dürfte in diesem Zusammenhang vor allem die Entwicklung auf dem Filmmarkt sein. Dort geht es am deutlichsten gegen die amerikanischen Einflüsse aus Hollywood; da sind auch die meisten Bestrebungen zu erkennen, einen europäischen Filmmarkt zu schaffen. Symptomatisch dafür steht der Erfolg von "Good bye, Lenin" in Europa und der Misserfolg des Films in den USA – in der FES-Zeitschrift heisst es dann diesbezüglich: "Man sollte beginnen, über die Europäisierung Deutschlands nicht mehr als Projekt, sondern als Tatsache zu sprechen", da der Film ein "kulturelles europäisches Wir-Gefühl"[16] biete.

Die Verankerung einer europäischen Identität durch die Familie oder in der Schule mag auf den ersten Blick wenig plausibel erscheinen. Es gibt bislang wenig binationale Familien und die Bildungspolitik liegt weiterhin in der Hoheit der einzelnen Länder. Allerdings steht dies einer Vermittlung einer europäischen Identität nicht im Wege, sobald die jeweiligen Individuen (Eltern, LehrerInnen etc.) diese teilen. Da schon jetzt der Mehrzahl die europäische Identität wichtiger als die jeweilige nationalstaatliche ist[17], ist davon auszugehen, dass Familie und Schule automatisch zu wichtigen Vermittlungsstellen einer solchen Identität werden. Dies wird durch flankierende bildungs- und jugendpolitische Maßnahmen verstärkt. Seit Jahren floriert der europäische Jugendaustausch, die EU finanziert eine Unmenge von Jugendprojekten, europapolitische Themen halten Einzug in den Lehrplan. Erst kürzlich trafen sich die Kultusminister Frankreichs und Deutschlands, um die Erstellung eines gemeinsamen europäischen Geschichtslehrbuches zu verabreden.[18] Es ist kein Zufall, dass sie bei der Vereinheitlichung nicht mit dem Physikbuch anfangen – geht es doch gerade im Geschichtsunterricht darum, nicht nur gemeinsames Wissen zu vermitteln, sondern – auf der inhaltlichen Ebene – eine gemeinsame Geschichte festzuschreiben.

Andere Bereiche der Zivilgesellschaft spiegeln allerdings nicht nur den Stand der Identitätsbildung wieder, sondern treiben diese aktiv voran. Da diskutiert die Kirchengemeinde Neuruppin in einer Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Gibt es eine europäische Identität, die eine Verfassung für 25 Nationen trägt?" gemeinsam mit dem Bundesgrenzschutz Schwedt.[19] Dass diese Veranstaltung sicherlich nur wenig BesucherInnen hatte, spricht nicht gegen meine These. Vielmehr ist diese kleine unbedeutende Kirchengemeinde Beweis dafür, dass das Thema Europa ganz unten angekommen ist – bzw. sogar von unten ausgeht. Wer sich eher von quantitativen Argumenten überzeugen lassen will, mag sich die positiven Europabezüge bei den Friedensdemonstrationen und Sozialforen ansehen.

Die Feindbilder, die gerade dort, in den sozialen Bewegungen, popularisiert werden, nämlich die "neoliberale Globalisierung", die "imperialistische Einheitskultur", die "Militärmacht USA" und der "Unruheherd Israel", sind gleichzeitig jene, die auch gesamtgesellschaftlich der europäischen Identität zum Durchbruch verhelfen. Die klassischen Feindbilder, wie Flüchtlinge, Fundamentalismus, Kriminalität und Drogen, erlangen zwar auch im europäischen Rahmen – wie schon oben erwähnt – in den Diskursen von der Festung Europa und den europäischen Institutionen (SIS, Europol) eine gewisse Relevanz. Allerdings sind sie in den einzelnen Staaten ebenfalls gut aufgehoben und begründen keinen Unterschied gegenüber anderen Staaten – sind diese doch auch nur rassistisch. Im Antisemitismus und Antiamerikanismus kommt aber Europa zu sich. Denn einerseits kann nur ein geeintes Europa der USA Paroli bieten, andererseits kommt ja gerade auf europäischer Ebene der Unterschied zu den USA und Israel bzw. zu den Wertvorstellungen, für die diese Länder angeblich stehen, zum tragen. Es überrascht also nicht, dass der Rassismus im Zuge der europäischen Einigung nicht an Bedeutung zugenommen hat (sondern lediglich auf eine europäische Ebene transformiert wurde), Antiamerikanismus und Antisemitismus in den letzten Jahren hingegen massiv an Bedeutung gewonnen haben. Nur eine Zahl sei als Beleg dafür genannt: 1996 betrachteten noch 64% der Deutschen die USA als zuverlässigen Partner, 2003 waren es nur noch 28%.[20]

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Grundlagen für eine europäische Identitätsbildung sind gelegt. Sie entwickelt sich gerade in den letzten Jahren rasant. Ihr sind aber auch gewisse Grenzen (Sprache, Fortbestehen der Nationen in Europa) gesetzt. Auf einigen Gebieten wird die Identitätsbildung von unten vollzogen, auf anderen existieren bislang lediglich Vorgaben der Europäischen Institutionen, die erst noch mit Leben gefüllt werden müssen. Es gibt Bereich, wie die Geschichte und Wertegemeinschaft, die einen hohen Entwicklungsgrad aufweisen, andere, wie Kultur und Symbole, wo der Prozess noch in den Kinderschuhen steckt.

Es muss aber betont werden, dass in allen Bereichen die europäische Identität die nationale überflügelt hat. Das betrifft das Vertrauen in europäische Institutionen (im Schnitt doppelt so hoch wie gegenüber der nationalen), die Selbstbeschreibung als eher europäisch als national, die Zustimmung zu einzelnen Politikbereichen der EU (vor allem bezüglich der Außenpolitik) und Vorhaben (wie die Verfassung) sowie das Gefühl der eigenen Repräsentation durch die EU-Institutionen. Aufgrund der Ferne der europäischen Institutionen wird zwar deren Einfluss auf das eigene Leben als höher als der Einfluss der nationalen Institutionen eingeschätzt, die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten hingegen auf die europäische Politik als gering – das spiegelt sich in der geringen Beteiligung bei EU-Wahlen wieder. [21]

In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass das ständige Gerede davon, dass die europäische Identität nicht die nationale ersetzt, kein billiger Propagandatrick ist, sondern der Realität entspricht. Menschen, die sich stark mit der eigenen Nation identifizieren, ist auch eine europäische Identität wichtig. Diejenigen, die auf Identitäten scheißen, finden weder die nationale noch die europäische attraktiv.[22] Einschränkend ist anzumerken, dass eine völkische Verfasstheit der Nation, wie sie in Deutschland existiert, der Herausbildung einer europäischen Identität stärker im Weg steht, als das in der Tradition der Aufklärung stehende Nationsverständnis in Frankreich. Aber selbst die deutschen Verhältnisse konnten die Herausbildung einer dominierenden europäischen Identität nicht verhindern sondern, lediglich abbremsen.[23]

Eigentlich sind damit schon genug Gründe für eine fundierte Europakritik aus antinationaler Sicht geliefert. Da sich eine solche immer in erster Linie gegen das "eigene Vaterland" zu richten hat, müsste der Kampf gegen Europa eine Herzensangelegenheit aller Linken sein. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Große Teile der Linke haben sich Europa auf die Fahnen geschrieben. Dies ist um so fataler, da die Spezifik der europäischen Identität diese besonders gefährlich macht.

Meiner Meinung nach gibt es fünf Punkte, die diese Spezifik ausmachen: Die deutsche Dominanz innerhalb Europas, das Gerede vom zivilen und sozialen Europa, der einerseits die realen Verhältnisse verdeckt und andererseits sie auch tendenziell widerspiegelt – was nichts Gutes verheißt. Viertens die angestrebte weltpolitische Multipolarität und last but not least die erfolgreiche Form des Geschichtsrevisionismus, bei dem deutsche Verbrechen im europäischen Kontext aufgelöst werden. Auf diese fünf Punkte möchte ich im folgenden eingehen.

Ein Ziel der europäische Union war es von Beginn an, die deutsche Dominanz über Europa einzudämmen und die BRD in die westliche Zivilisation einzubinden. Die europäische Einigung war gleichzeitig für Deutschland die einzige Möglichkeit, wieder anerkannt zu werden und außenpolitisch agieren zu können. Dies erklärt die proeuropäische Haltung der deutschen Eliten nach 1945. Zumal sie schon in den 50er Jahren erkannten, dass die Drohung, aus Europa auszusteigen, wie eine Wunderwaffe auf die Alliierten wirkte.[24] Selbst die revanchistischen Vertriebenenverbände richteten sich in den 60er Jahren auf Europa aus, da sie nicht in der Grenzrevision, sondern in der europäischen Grenzauflösung die vielversprechendere Perspektive sahen.[25]

Inzwischen ist von den Ambitionen der anderen europäischen Staaten nichts mehr übrig geblieben. Ganz im Gegenteil: Europa ist das deutsche Projekt der Stunde. Die BRD treibt die EU mit der offen ausgesprochenen Drohung vor sich her, dass, wenn sich die EU nicht den deutschen Interessen unterwirft, Deutschland sich dazu gezwungen (!) sieht, den Sonderweg einzuschlagen – verwiesen wird dann auf den Erste und Zweiten Weltkrieg.[26] Der jetzige Außenminister Fischer reklamierte schon 1995 die deutsche Vorrangstellung: Deutschland soll "jetzt, nachdem es friedlich und zivil geworden ist, ... all das, was ihm Europa, ja die Welt, in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art sanfte 'Hegemonie über Europa' [erhalten...], eine Übermacht, die ihm aufgrund 'seiner Größe, seiner wirtschaftliche Stärke und seiner Lage' auch zusteht"[27].

Es bleibt allerdings nicht bei der martialischen Rhetorik, die an sich noch keine Aussage über den realen deutschen Einfluss trifft, sondern anzeigt, mit welchen Mittel versucht wird, diesen zu vergrößern. Doch in allen Bereichen der europäischen Einigung ist die BRD, zum Teil mit Frankreich oder mit Unterstützung anderer "kerneuropäischer" Staaten, zur dominanten Macht und treibenden Kraft avanciert.[28]

Die Rede vom sozialen Europa verbietet sich schon vor dem Hintergrund, dass die sozialen Standards innerhalb von Europa sehr unterschiedlich sind. Allerdings findet – wie auch in anderen Politikbereichen – eine EU-Harmonisierung auf unterstem Niveau statt. Gerade die deutsche Regierung wehrte sich vehement gegen die Einführung von Sozialklauseln innerhalb der europäischen Verträge.[29] Die Union ist somit in erster Linie ein neoliberales Projekt, welches den Abbau des Sozialstaates forciert.

In den Diskursen vom "soziales Europa" – egal ob als Forderung linker Gruppen oder Zustandsbeschreibung der Sozialdemokratie – schwingt einerseits die Abgrenzung von den USA mit, die mit ihrer Globalisierung oder dem "Raubtierkapitalismus" das Elend über die gesamte Welt bringen würden.[30] Andererseits transportieren diese Diskurse die Aufforderung, soziale Konflikte in der "Schicksalsgemeinschaft Europa" – ein Begriff, den Kinkel 1995 prägte[31] und der jetzt auch Eingang in die Verfassung fand – zu begraben. Darin drückt sich ein Etatismus aus, der individuelle Freiheitsrechte nicht kennt. Die beinahe Bundespräsidentin Gesine Schwan brachte diese Staatshörigkeit auf den Punkt, als sie als die drei Freiheiten, die Europa auszeichnen würden, nannte: die Freiheit vor diktatorischer Willkür, vor sozialer Not und vor  "kultureller Fremdheit".[32]

Die ideologische Figur vom zivilen und friedlichen Europa steht auf ähnlich schwachen Füßen. Die EU, besser gesagt: ihre drei ersten Vorläuferorganisationen aus den 50er Jahren, nämlich die Montanunion, die Euratom und die EVG, hatte von Beginn an militärische Implikationen. Bei der Montanunion ging es um die militär-strategisch wichtigen Rohstoffe Kohle und Stahl, bei Euratom um Atomwaffen und EVG heisst ausbuchstabiert schlicht Europäische Verteidigungsgemeinschaft und war als Verteidigungsbündnis konzipiert, das unabhängig von der Nato und aggressiver und offensiver als diese agieren sollte.[33] Heute verfügt die EU über mehr Soldaten als der "Kriegstreiber USA" und hat auch beim Rüstungsexport die "Militärmacht USA" längst hinter sich gelassen. In allen anderen Bereich, in denen die EU hinter den USA liegt, werden massive Anstrengungen unternommen, die USA ein- und überzuholen. Mit Verweis auf die doppelte Bevölkerungszahl und das größere Territorium wird eine bedeutendere weltpolitische Rolle als die der USA eingefordert. Der Abstand zwischen den USA und der EU ist auf militärischem Gebiet allerdings gar nicht mehr so groß, wie oft vermutet wird. So geben die EU-Länder schon heute für ihren Militäretat nur 20% weniger aus als die USA.[34]

Nun zur Rhetorik: Selbst die SPD meinte mit "Friedensmacht Europa" nicht das, was sie mit ihren Wahlplakaten suggerieren will. Im Wahlprogramm heisst es offen: "Auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Afghanistan ist Europa aktiv an der Schaffung von Frieden beteiligt". Die Betonung liegt also auf Macht, denn Frieden wird in dem Papier definiert als präventive Konfliktverhinderung, Osterweiterung der EU, ebenbürtige Partnerschaft mit der USA, Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO, Kriegseinsätze nur im Rahmen der UNO.[35] Das klingt nach dem üblichen nationalistischen Geschwätz, welches sich wohl jede Großmacht auf die Fahnen schreibt. Es ist aber mehr. In dem gleichen Papier ist im Zusammenhang mit der Friedenspolitik von Menschenrechten, Abrüstung, Entwicklungspolitik als Ursachenbekämpfung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen die Rede. Auch das klingt nicht unbedingt schlecht. Doch was ist damit gemeint? Menschenrechte sind nach EU-Verständnis in erster Linie Volksgruppenrechte, Entwicklungspolitik ist Dialog der Kulturen und die Förderung der nationalen Besonderheiten, hinter der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verbirgt sich die Kampfansage an die USA.

Um das anschaulich zu machen, komme ich zu dem nächsten Punkt, der angestrebten Multipolarität. Gemeint ist damit, dass die vermeintliche Vorherrschaft der USA über die gesamte Welt gebrochen werden muss und angestrebt wird, mehrere Großräume zu schaffen, in denen jeweils eine Macht das Sagen hat. Bei den alternativen europäischen Weltordnungskonzepten, die schon heute ihr gefährliches Potential entfalten, ist das genaue Verhältnis von Wahn und Kalkül schwer zu bestimmen. Fakt ist allerdings, dass es sich genau in diesem Spannungsverhältnis bewegt: Kalkül, als Noch-Mindermacht gegenüber der USA auf andere Strategien zu setzen, auf andere Partner etc. – und schon allein damit Konflikte zu forcieren.[36] Welche Strategien dabei zum Tragen kommen, auf welche Partner gesetzt wird, ist allerdings nicht zufällig. Europa hat wirklich aus der Geschichte gelernt, und zwar in dem Sinne, dass es sich die positiven Erfahrungen der Ethnisierung während der eigenen Kolonialgeschichte auch heute zunutze macht und dass es – wie auch schon vor hundert und zweihundert Jahren – auf Antiamerikanismus und Antisemitismus setzt.

So heißt es im eben schon zitierten Wahlprogramm der SPD zur Europawahl: "Es gilt, das europäische Gesellschaftsmodell offensiv zu vertreten und die europäischen Kulturleistungen international bekannter zu machen und gegen eine globale Einheitskultur zu verteidigen." Wo die "globale Einheitskultur" her kommt, ist klar: Aus den USA! Der Exportschlager europäische Kultur ist in diesem Verständnis allerdings weder Bestandteil der gleichen noch eine andere Einheitskultur, sondern "Vielfalt (die) gestärkt werden (muss), da sie wesentlicher Bestandteil unserer Identität ist. Wir wollen von anderen Kulturen lernen und unsere Erfahrungen einbringen."

Wie dies in der Praxis aussieht, möchte ich an vier Konfliktfeldern exemplarisch aufzeigen, bei denen die EU außenpolitisch aktiv ist: Israel, Irak, Ruanda und Jugoslawien.

Der Antizionismus und Antisemitismus ist ein gesamteuropäisches Projekt. Da sind sich die EU-ParlamentarierInnen so einig wie das "europäische Volk", das erst unlängst Israel als größte Gefahr für den Weltfrieden ausgemacht hat. Das deutsche Auswärtige Amt bezeichnet es als stabilisierende Funktion, dass, als Israel Gelder für die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) einfror, weil erwiesen war, dass sie dem Terrorismus dienen, die EU mit finanzieller Unterstützung einsprang. Als Israel daraufhin auch die mit europäischen Geldern finanzierten Terror-Projekte zerstörte, forderte EU Schadensersatz von Israel anstatt die Zahlungen umgehend einzustellen. Die BRD transferiert nach Palästina die höchste Pro-Kopf-Unterstützung, d.h. kein anderes Land erhält per EinwohnerIn so viel Geld wie die PA. Diese großzügige Unterstützung ermunterte die palästinensischen Behörden, bei der EU ganz offiziell um Zahlungen für Angehörige von SelbstmordattentäterInnen nachzufragen – was die EU leider ablehnen musste. Die Friedensmacht Europa will natürlich kein Blut an den Händen kleben haben – im Kampf gegen Israel gibt es zivile Methoden, die Drecksarbeit wird anderen überlassen. So wird in Europa eifrig ein Sport-, Handels- und Wissenschaftsboykott gegenüber Israel diskutiert, der von Spanien, aber auch von einzelnen Organisationen und Institutionen (z.B. britische Universitäten) schon umgesetzt wird. Das europäische Parlament verfasst in feiner Regelmäßigkeit einseitig antiisraelische Resolutionen, parallel dazu werden Planspiele über den Einsatz von Truppen im Nahen Osten angestellt. Niemand will untätig bleiben: So drohte die europäische Sozialdemokratie der israelischen Arbeiterpartei, sie aus der sozialistischen Internationale auszuschließen – während palästinensische Organisationen gern gesehene Gäste sind.[37]

Ähnlich einhellig äußerte sich auch die antiamerikanisch begründete Ablehnung des Irakkrieg auf europäischer Ebene, allerdings vorerst nur in der Zivilgesellschaft und bei den Kerneuropa-Regierungen. Nun, wo der Krieg vorbei ist, gilt es natürlich, europäische Interessen in der Region zu wahren. Deutsche, mit dem Auswärtigen Amt verbandelte Think Tanks gehen inzwischen so weit, dass sie die Staatsgrenzen im gesamten Nahen Osten für revisionsbedürftig halten.[38] Die Ziehung neuer Grenzen gelänge natürlich nur, wenn die EU in einen Dialog mit den arabischen Regimes treten würde – an erster Stelle wird dabei der Iran genannt.

Für den Irak selbst wird an gleicher Stelle vorgeschlagen, die Öleinnahmen nicht etwa zu verstaatlichen oder zu privatisieren – wie es in einem Nationalstaat üblich ist – sondern an die unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen prozentual zu verteilen. Außerdem sollte des parlamentarische System auf "Stammes-Scheichs, religiöse sowie andere bedeutende Persönlichkeiten" ausgerichtet werden – d.h. die ethnische Zersplitterung forciert und damit blutige Auseinandersetzungen provoziert werden, zu deren Lösung sich dann die völkerliebende Friedensmacht Europa anbieten würde.

Mit der Begründung, der Rebellenführer "spricht nicht einmal französisch, kein Wort! Er versteht nur Englisch", d.h. mit dem Verweis auf die eigene Kolonialtradition in Afrika und der Angst vor einem Machtverlust gegenüber der USA, unterstützte Frankreich zivil und militärisch das faschistische Regime in Ruanda, welches mit knapp einer Millionen Toten in 100 Tagen den größten Genozid seit dem 2. Weltkrieg betrieb. Die anderen europäischen Staaten stärkten Frankreich den Rücken. Die ethnischen Kategorien Hutu und Tutsi, auf denen angeblich der "Bürgerkrieg" von 1994 basierte, wurden von deutschen Rassekundlern während der Kolonialzeit erfunden und installiert. Die von den USA unterstütze Rebellenarmee RPF definierte sich allerdings nicht nach ethnischen Kriterien und war auch in der Praxis "multiethnisch". Die europäischen Staaten leugnen allerdings bis heute ihre Verantwortung für den Genozid, den sie als Stammeskrieg bezeichnen, der jedoch vielmehr mit europäischer Kolonialgeschichte sowie aktueller Machtpolitik um Einflusszonen zu tun hatte.[39]

Der Jugoslawienkrieg wurde hingegen als völkisches Projekt von Deutschland vorangetrieben. Inzwischen sind die ehemaligen jugoslawischen Republiken zum Übungsplatz für europäische Truppen und Versuchslabor für europäische Protektoratsverwaltung heruntergekommen. Es galt auch hier nicht nur, eine eigene Einflussspähre zu verteidigen oder neu zu ordnen, d.h. rational begründete Außenpolitik zu betreiben, die aus wirtschaftlichen Interessen an einer Stabilisierung einer Region interessiert ist, sondern – im Gegensatz dazu – eine Destabilisierung  nach ethnischen Kriterien zu betreiben, die sich an den alten Verbündeten aus dem 2. Weltkrieg orientierte und gleichzeitig – mit dem Verweis auf Auschwitz im Kosovo – die eigene Geschichte entsorgte.[40]

Damit komme ich zum letzten Punkt, dem deutschen Geschichtsrevisionismus im europäischen Kontext. Deutsche Schuld soll nicht mehr wie früher vergessen gemacht oder verleugnet, sondern in die europäische Geschichte eingebettet und nutzbar gemacht werden für die europäische Identität und eigene Großmachtsambitionen.

Der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau vertrat in seiner Rede beim "Tag der Heimat" 2003 die These, dass den vertriebenen Deutschen "bitteres Unrecht zugefügt worden" sei – und zwar von jenen, "die in Mittel- und Osteuropa erst mit den Deutschen gemeinsam die Juden entrechteten, danach die Deutschen". Rau setzt damit Vertreibung und Holocaust gleich und verteilt die deutsche Schuld an der Vernichtung der Juden gleichmäßig auf alle europäische Nationen. Im gleichen Atemzug jedoch bezichtigt er die anderen Nationen der doppelten Schuld und besonderer Hinterhältigkeit: Erst gemeinsame Sache machen mit den Deutschen gegen die Juden – und dann den Deutschen mit der Vertreibung in den Rücken fallen. So klingt also die moderne staatliche Version der Dolchstoßlegende. Laut Rau seien aber auch die Menschen im antifaschistische Widerstand oder im Exil nicht frei von Schuld, obwohl sie sich nicht am Holocaust beteiligt hatten, womöglich sogar von ihm betroffen waren. Diese planten nämlich schon "jahrelang die Vertreibung ... Hitlers verbrecherische Politik entlastet niemanden, der furchtbares Unrecht mit furchtbarem Unrecht beantwortet hat. Die gesamteuropäische Katastrophe kann aber nur in ihrem Gesamtzusammenhang wirklich verstanden werden. ... Dafür brauchen wir einen europäischen Dialog, und der wird von allen Beteiligten ungeschminkte Selbsterkenntnis verlangen"[41]

Diese "ungeschminkte Selbsterkenntnis" ist in Deutschland mit seiner vorbildlichen Vergangenheitsbewältigung schon weit vorangeschritten – so die Selbstwahrnehmung –, jedoch noch nicht in allen anderen europäischen Ländern. Bemängelt wird der alte und neue italienischen Faschismus oder die Weigerung Polens und Tschechiens, deutsche Besitzansprüche zu befriedigen und sich für die Vertreibung zu entschuldigen. In der FES-Zeitschrift war zu lesen, die Existenz der "Preußischen Treuhand" (dem Kampfinstrument der Vertriebenenverbände zum Einklagen alter deutscher Besitzstände im Zuge der Osterweiterung und mit der Schützenhilfe europäischer Gerichte) sei verständlich, da Polen immer noch kein Restitutionsrecht habe.[42] Das Auswärtige Amt und andere deutsche Organisationen wie das Goethe-Institut intensivieren ihre Arbeit nicht nur im arabischen Raum,[43] sondern auch in den ehemaligen deutschen Gebieten, deren Städte in offiziellen Papieren konsequent mit den alten deutschen Namen bezeichnet werden, als ob sie schon wieder unser wären.

Diese spezifischen deutschen Interessen korrespondieren mit der europäischen Identitätsbildung, die auch in anderen Ländern vorangetrieben und bei der auf die "europäische Katastrophe" des 2. Weltkrieges als ein Gründungsmythos zurückgriffen wird. Es findet dabei eine bewusste Akzentverschiebung statt. Die Rede ist nicht mehr von der deutschen Barbarei, die ganz Europa betraf, auch der Holocaust ist dafür eher hinderlich. Wichtig sind vielmehr das Leiden der Soldaten und der Zivilbevölkerung an allen Fronten und im Bombenterror, das Vergeben der Opfer gegenüber den Tätern bzw. das generelle Verwischen der Täter-Opfer-Dichotomie.[44]

Mark Schneider

Zugabe: Kurze Antworten auf die am häufigsten gestellten Fragen.

Warum gerade jetzt die Kampagne gegen Europa?

So lange es die EU gibt, gibt es eine linke Kritik an ihr. Diese verharrte zwar meist auf niedrigem Niveau; sie kritisierte die "imperialistische Großmachtpolitik", das "Europa der Reichen und Konzerne", das neoliberale Europa samt Sozialabbau, die Festung Europa und die Unterdrückung "ethnischer Minderheiten in Europa" (die Basken, die Nordiren...).[45] Aber immerhin gab es Ansätze von Widerstand und Kritik. Seitdem es wirklich ernst wird mit Europa, d.h. Europa einerseits auf einer politischen Ebene durchstartet, andererseits dies mit identitätspolitischen Offensiven flankiert wird, ist Kritik nicht mehr zu vernehmen. Die größten Teile der Linken beteiligen sich aktiv am Bau des gemeinsamen Hauses Europa, andere verschließen die Augen vor der europäischen Spezifik, wieder andere können aufgrund ihrer Deutschlandfixierung nicht erkennen, dass ihr Hassobjekt jetzt im europäischen Gewand daherkommt. Umso wichtiger ist es, gerade jetzt klar zu machen, dass die neue Heimat Europa zu verraten ist!

Kann nicht Europa nur verraten, wer sich damit identifiziert hat?

Die Aufforderung "Die neue Heimat Europa verraten" richtet sich einerseits gerade an diejenigen, die in der europäischen Einigung die Überwindung nationaler Interessengegensätze sehen und sie deswegen begrüßen. Andererseits konnten wir bislang auch immer "Deutschland verraten" ohne vorher "stolz auf Deutschland" gewesen zu sein. Unser Pass ist deutsch, unsere Staatsbürgerschaft ist jetzt eine europäische. Wer sich indifferent verhält, ist Teil des Kollektivs, in das er oder sie hineingeboren wurde. Wir unterliegen den nationalen Zwängen und profitieren von den uns gewährten Rechten – egal was wir von der Nation halten. Insofern ist ein aktives "Verraten", was auch immer das in der Praxis dann bedeutet, Voraussetzung für die Kritik an Europa.

Ist die Beschäftigung mit Europa angesichts des weltweiten Imperialismus unter Führung der USA nicht irrelevant?

 Wer so fragt, verschließt bewusst die Augen vor den realen Verhältnissen. Erstens ist die USA nicht die Macht, die der ganzen Welt ihren Willen aufzwingen kann. Zweitens existieren sowohl auf der ökonomischen, als auch der politischen und ideologischen Ebene massive Interessensgegensätze zwischen Europa und den USA, die zwar schon während des Kalten Krieges existierten, jedoch erst nach 1989 zum Zuge kommen konnte. Es gibt natürlich immer noch eine Interessenkongruenz zwischen Europa und den USA, das transatlantische Verhältnis besteht – zwar schon leicht angeschlagen – fort. Die westliche Wertegemeinschaft hat noch gemeinsame Feindbilder. Die Sicherung der Verwertung ist das oberste Ziel aller kapitalistischen Staaten. Allerdings zeichnet sich der Kapitalismus gerade durch Konkurrenz aus: Zwischen den einzelnen Unternehmen und den Volkswirtschaften. Diese Konkurrenz ist eine der Triebkräfte des europäisch-amerikanischen Zerwürfnisses. Eine andere ist der tief verankerte Antiamerikanismus. Drittens ist die EU inzwischen zu einer Supermacht geworden, an der niemand mehr vorbeikommt – auch nicht die USA. D.h. selbst wer die Interessenskonflikte zwischen EU und USA als unbedeutender einschätzt als wir, müsste die EU als wohl bald mächtigsten Akteur der Weltgeschichte trotzdem in den Mittelpunkt der eigenen Kritik rücken. Viertens würde es selbst einer Linken in den USA gut zu Gesicht stehen, nicht bedenkenlos den europäischen Antiamerikanismus mit neuer argumentativer Munition à la Michael Moore zu versorgen, sondern den spezifischen Gehalt der europäischer Einigung zu analysieren. D.h. nun nicht, dass sich die amerikanische Linke positiv auf die eigene Regierung beziehen sollte. Jedoch gilt es anzuerkennen, dass gerade da, wo sich Europa den USA überlegen wähnt, sich in der Regel besondere Scheußlichkeiten verbergen, denen die Politik der USA – bei einer rein realpolitischen Betrachtungsweise – vorzuziehen ist.

Sind nicht die Nationalstaaten weiterhin die wichtigen Akteure, denen linke Kritik zu gelten hat?

Einerseits ja. Andererseits: Eine Kampagne gegen Sachsen hätte zwar auch einen gewissen Charme. Aber auch ohne Sachsen wäre Deutschland Scheisse. Wenn sich die politische Macht von einer Ebene auf eine höhere verlagert, dann hat die Kritik diese Entwicklung nachzuvollziehen. Was noch hinzukommt, ist die Tatsache, dass der klassische Nationalismus zumindest in linken und liberalen Kreisen verpönt ist. Die Identifikation mit Europa hingegen gilt als chic. Selbst wenn die Mehrheit der Deutschen noch lieber deutsch als europäisch wären – was ja nicht der Fall ist – hätten wir uns eher mit der europäischen Identität zu beschäftigen, da die bestimmenden gesellschaftlichen Kräfte – die politischen und ökonomischen Eliten und die Zivilgesellschaft – eben auf Europa setzen.

Europa kann doch gar nicht mit einer Stimme sprechen, wie der Irakkrieg gezeigt hat.

Gerade der Irakkrieg hat gezeigt, dass die "europäische Straße" sehr wohl mit einer Stimme zu sprechen vermag. Die Friedensdemonstrationen waren ein gesamteuropäischen Phänomen und wurden nicht umsonst als die neue Avantgarde des old europe bezeichnet. Auch die weitere Entwicklung hat gezeigt, dass der europäische Kitt stärker ist als Solidaritätsbekundungen gegenüber den USA. Die spanische Bastion ist gefallen, Polen hat sich zumindest in der Frage der Verfassung dem deutsch-französischen Druck gebeugt – die entsprechenden Warnungen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Fraglich auch, wie lange sich die italienische Regierung noch halten kann. Großbritannien hingegen laviert schon die ganze Zeit zwischen den USA und der Triade aus BRD, Frankreich und GB. Aber auch Frankreich und Deutschland haben nicht nur Druck ausgeübt, sondern den Konfrontationskurs gemäßigt und sind damit auf die anderen europäischen Staaten einen Schritt zugegangen.

Natürlich wird es auch in Zukunft Konflikte zwischen den einzelnen Staaten innerhalb der EU geben, die EU als solche und die europäische Identität wird damit nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Solche Konflikte schweißen auf lange Sicht zusammen – wenn selbst der 2. Weltkrieg zum positiven Bezugspunkt einer gemeinsamen europäischen Geschichte werden konnte.

Sind die Deutschen nicht eher gegen Europa eingestellt?

Nein. Das sind in erster Linie die Briten, die am meisten am transantlantischen Verhältnis festhalten. Die Deutschen belegen in den Umfragen mittlere Plätze hinsichtlich ihrer Zustimmung und Identifikation mit Europa. Das einzig deutsche Spezifikum besteht darin, dass gerade die Projekte, die mit besonderer Vehemenz von der deutschen Regierung vorangetrieben werden, weil sie im deutschen Interesse sind, bei der deutschen Bevölkerung aufgrund ihrer nationalen Borniertheit am wenigsten Anerkennung finden. Sei es der Euro, der die D-Mark abgelöst hat, sei es die Osterweiterung, die rassistische Ressentiments hervorrief, sei es Kerneuropa und die Abschaffung der Einstimmigkeit, die Befürchtungen von Souveränitätsverlusten hervorrufen oder sei es die Ethnisierung und Regionalisierung, die den Deutschen mit dem Makel des Multikulturalismus behaftet ist – alles zentrale Elemente der deutschen Europapolitik, oft gegen den Widerstand anderer europäischen Staaten durchgesetzt. Die Deutschen hingegen glauben selbst noch nicht an ihre eigene Großmachtrolle und wittern deswegen hinter all dem nur den Ausverkauf gegenüber dem Ausland, anstatt die selbstbewusste Geltendmachung deutschen Einflusses zu honorieren. Allerdings: bei Euro, Osterweiterung etc. gibt es lediglich eine relativ größere Skepsis im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern, von einer Ablehnung kann jedoch keine Rede sein. In zwei Fragen harmoniert übrigens die deutsche Regierung mit ihrem Volk: Die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die Verfassung sind eine Herzensangelegenheit der PolitikerInnen und der gesamten Bevölkerung.[46]

Ist es mit Europa wirklich schon so weit?

Wie weit? Europa ist noch keine Nation. Und wird auch nie eine, wie die uns bekannten. In Europa entsteht ein neues Modell der Vergesellschaftung, welches jedoch viele Elemente der Nationalstaatsbildung integriert. Werden diese als Maßstab genommen, dann ist die "Nation Europa" – wie oben ausgeführt – an manchen Punkten schon fertig, bei anderen irgendwo mittendrin, an wieder anderen steht es erst am Anfang. Und einige Punkte werden keine oder nur eine marginale Rolle spielen (Wehrpflicht, Sprache). Allerdings befinden wir uns gerade an dem Punkt, an dem Europa "nach den Sternen greift" und die meisten dies begeistert anfeuern.

Ist Europa nicht in Wirklichkeit antinational, antirassistisch und antiimperialistisch?

Wer sich in Begriffsverdrehung üben will, kann dies gern behaupten. Europa ist ein nationales Projekt – das wurde ausführlich beschrieben. Da, wo Europa antinational erscheint, ist dies nur Ausdruck der vor allem aus Deutschland stammenden völkischen Politik, mit Minderheiten fremde Staaten zu zersetzen oder mit antisemitischen Argumenten Israel das Existenzrecht abzusprechen. Die völkische Politik ist an sich nicht antinational – vor allem nicht in Bezug auf die eigene Nation –, hat jedoch ein instrumentelles Verhältnis zu anderen Nationen. Der Einfluss völkischer Politik auf Europa sollte allerdings nicht überschätzt werden, da sie in Deutschland nach 1945 eingedämmt wurde und die anderen europäischen Staaten inzwischen nicht unbedingt zu Freunden der deutschen Ideologie geworden sind.

Antirassistisch ist die EU keineswegs. Ganz im Gegenteil: Im Vergleich mit allen anderen Regionen der Welt ist die Festung Europa die am meisten rassistische. Da, wo Europa angeblich antirassistisch argumentiert, geschieht dies aus einer rassistischen Motivation heraus. Die Vielfalt der Völker soll gewahrt bleiben und vor der als amerikanisch verstandenen Globalisierung geschützt werden, sie sollen sich nicht vermischen und emanzipieren können. Auch das ist eine deutsche Tradition. In den "Richtlinien für die kolonialpolitische Schulung" von 1939 hieß es: "Der Nationalsozialismus lehrt jedoch gerade anstatt des Rassenhasses die Rassenachtung".[47] Wer also die Behauptung, weil der "Neger" anders sei, soll er auch anders bleiben, als antirassistisch bezeichnet, mag damit provozieren – es bleibt aber unklar, was dann gleich noch einmal Rassismus war. Etwa die antirassistische Behauptung, alle Menschen sind gleich?

Ähnlich verhält es sich mit dem Antiimperialismus. Der europäische Antiimperialismus entpuppt sich bei genauerer Betrachtungsweise als ein Imperialismus, der sich gegen andere Großmächte zu behaupten versucht. Wer den Begriff Imperialismus auf die USA begrenzen will, der muss natürlich jede Politik gegen die USA als antiimperialistisch bezeichnen. Dieser orwellschen Sprache bedient sich ja gerade Europa, welches sich als friedlich halluziniert, weil die USA kriegerisch sei und man selbst gegen die USA. Um dieser Selbststilisierung nicht auf den Leim zu gehen, ist daran festzuhalten, die EU auch als imperialistisches Projekt zu bezeichnen, welches im Wettstreit mit anderen Großmächten steht und dabei gezielt auf "antiimperialistische" Kräfte setzt, d.h. auf Staaten, "Völker" und Gruppierungen, mit denen gemeinsam der amerikanische (russische, chinesische etc.) Einfluss zurückzudrängen ist. Es gab schon immer verschiedene imperialistische Konzepte. Es macht nun gerade keinen Sinn, das widerlichste von allen, nämlich das deutsche, als antiimperialistisch zu titulieren. Neu ist übrigens auch der vermeintliche Antiimperialismus der Deutschen nicht: "Zur Zeit haben die Deutschen bei den erwachenden Kolonialvölkern das größte Ansehen, gerade weil Deutschland an der kolonialen Ausbeutung fremder Länder nicht mehr beteiligt ist. Das muß sich auch handelspolitisch günstig für Deutschland auswirken", schrieb der sozialdemokratischer Reichskanzler 1927[48], also nach dem Ende deutscher Kolonialpolitik und sechs Jahr vor dem Dritten Reich. Die deutsche Kolonialpolitik, die mit dem Ersten Weltkrieg ihr Ende fand, begann übrigens mit der deutschen Anti-Sklaverei-Bewegung: Die eigenen kolonialen Eroberungsgelüste wurden mit dem Verweis auf das schwere Los der "Neger" in der arabischen Sklaverei kaschiert. Auf die Befreiung vom arabischen Joch folgte für die Menschen in den eroberten Kolonien in Afrika die brutalere Versklavung durch die Deutschen.[49] So antirassistisch, antiimperialistisch und antinational, wie es heute in antideutschen Kreisen gern behauptet wird, waren die Deutschen also schon seit Anfang an.


 

[1] Aufruf und weitere Texte zur Kampagne: http://www.nadir.org/bgr

[2] Daniel Fuß: Jugend und europäische Identität, Resultate aus einem internationalen Forschungsprojekt, S. 11, http://www.fes-online-akademie.de

[3] Die genauen Aufgaben dieser und weiterer Institutionen wurden inzwischen in der europäischen Verfassung fixiert.

[4] Die BRD ist eines der letzten Länder innerhalb der EU, welches bislang noch an der Wehrpflicht festhält.

[5] Eurobarometer 61, Frühjahr 2004. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, S. 10 f., http://europa.eu.int/comm/public_opinion

[6] Vgl. George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Campus: 1993

[7] Wenige Ausnahmen – Länder mit mehreren Amtssprachen – bestätigen die Regel...

[8] "Die Europäische Identität". EG-Dokument der Konferenz von Kopenhagen. In: Heiko Walkenhorst: Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität. Die politische Bedeutung eines sozialpsychologischen Konzepts, Nomos: 1999, S. 291-295

[9] Zum Anteil der Linken an der europäischen Identitätsbildung gab es ein weiteres Referat, was eventuell an anderer Stelle veröffentlicht wird. Siehe dazu auch: http://www.phase-zwei.org, http://www.nadir.org/bgr.

[10] http://www.imi-online.de

[11] http://www.dfg-vk.de

[12] Ausgabe 1+2/2004, Schwerpunkt: EU 2004 – Erweiterung ohne Verfassung, S. 34-39, http://www.frankfurter-hefte.de

[13] http://ue.eu.int/igcpdf/de/04/cg00/cg00086.de04.pdf, Siehe auch Mark Schneider: Wir Europäer. Der identitätsstifenden Bedeutung der Europäischen Verfassung hat die Linke bislang keine Aufmerksamkeit geschenkt, Jungle World 31/2004, S. 13, http://www.jungle-world.com

[14] Ausgabe 1+2/2004, S. 37

[15] ebd., S. 43

[16] Ausgabe 3/2004, S. 8

[17] Vgl. dazu: Eurobarometer 61; Jugend und europäische Identität; Joachim Schild: Europäisierung nationaler politischer Identitäten in Deutschland und Frankreich, http://www.fes-online-akademie.de

[18] F.A.Z. 01.03.2004

[19] http://www.eu-infozentrum-berlin.de/verfassungsgespraeche.htm

[20] Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, 1+2/2004, S. 33

[21] Vgl. dazu: Eurobarometer 61

[22] "Wer sich stark mit Europa identifiziert, der fühlt sich auch mit seinem Land verbunden und vice versa. Nation und Europa fungieren damit als einander ergänzende Quellen persönlicher Identifikation. Von einem Konkurrenzverhältnis oder einer Verdrängung der nationalen Identität durch Europa kann deshalb nicht die Rede sein." (Jugend und europäische Identität, S. 5); Vgl. dazu: Eurobarometer 61: Geringe Zustimmung zu europäischen und nationalen Institutionen in Großbritannien, hohe Zustimmung zu beidem in Deutschland.

[23] Vgl.: Europäisierung nationaler politischer Identitäten in Deutschland und Frankreich

[24] Vgl.: Ulrich Brochhagen: Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Ullstein: 1999

[25] Vgl.: Samuel Salzborn: Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände, ElefantenPress: 2000

[26] Dies hat der damalige Außenminister Kinkel so formuliert, die Drohung wurde 2000 von amtierenden Außenminister Fischer erneuert. (konkret, 7/2000, S. 21-22)

[27] zit. nach: Gerald Oberansmayr: Auf dem Weg zur Supermacht. Die Militarisierung der Europäischen Union, Promedia: 2004, S. 30

[28] Vgl. z.B. den Phase 2-Schwerpunkt: "Wer macht Europa?", 11/2004

[29] Holger Kuhr: Deutsche Europapolitik seit 1989/90, S. 282, in: Buntenbach, Kellershohn, Kretschmer (Hrsg.): Ruck-wärts in die Zukunft. Zur Ideologie des Neokonservatismus, DISS: 1998

[30] Vor dem explizit antiamerikanischen Gehalt der entsprechenden Passagen in der europäischen Verfassung wurde inzwischen sogar in der F.A.Z. gewarnt. (Armin von Bogdandy: Wir Europäer, 27.04.2004)

[31] Deutsche Europapolitik seit 1989/90, S. 285

[32] Gesine Schwan: Freude über den Nachbarn. Die Chancen der EU-Osterweiterung, in: Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, 5/2004, S. 9

[33] Vgl.: Auf dem Weg zur Supermacht, S. 10-24

[34] ebd., S. 108

[35] Europamanifest der SPD vom 16.11.2003, http://www.europakampa.de

[36] Mehrere Großmächte bedeuten eben nicht mehr Frieden, sondern mehr Kampf um Einfluss, mehr Konfliktpotential und häufige Stellvertreterkriege.

[37] Ilka Schröder: Front gegen Israel. Warum die Fraktionsführungen des EU-Parlaments einen Ausschuß zur Untersuchung der EU-Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde verhindern wollen, in: konkret 04/2003; Ilka Schröder: Mit Scheck, Charme und Soldaten. Seit dem Ausbruch der neuesten Intifada fließt mehr Geld als je zuvor an die Palästinenser. Mit europäischer Hilfe will Deutschland die letzten Tabus brechen, in: Jungle World 32/2002

[38] "Die künstliche Teilung der ... Region in verschiedene unabhängige Staaten – größtenteils mit schwacher oder nicht vorhandener historischer Legitimation - ... die ... im Jahre 1920 erfolgte, hat keine stabile regionale Ordnung geschaffen." Strategiepapier des CAP – Centrum für angewandte Politikforschung, zit. nach: http://www.german-foreign-policy.com

[39] Bernhard Schmid: Komplizen des Völkermordes. Frankreichs Rolle beim Genozid in Ruanda, analyse und kritik 483/2004; Michael Neugebauer: Kalkulierter Massenmord. Gegen den Mythos vom Stammeskrieg, iz3w 200/1994; Schwerpunkt Ruanda, Jungle World 16/2004

[40] Vgl.: Matthias Küntzel: Der Weg in den Krieg. Deutschland, die NATO und das Kosovo, ElefantenPress: 2000

[41] Zit. nach: http://www.german-foreign-policy.com

[42] 3/2004, S. 19

[43] Auffallend ist die deutliche Zunahme von arabischen Übersetzungen bei der Internetpräsenz deutscher Institutionen in den letzten Jahren.

[44] Ausführlich dazu im Phase 2-Schwerpunkt: German Gedächtnis – Die Europäisierung der deutschen Geschichte, 9/2003

[45] Vgl.: Europa 1993. Der große Zauber, Unrast: 1992

[46] Vgl. dazu: Eurobarometer 61

[47] zit. nach: Martin Baer, Olaf Schröter: Eine Kopfjagd. Deutsche ist Ostafrika, Ch. Links: 2001, S. 166 f.

[48] ebd., S. 152

[49] ebd., S. 46 ff.

 

subpage last updated: 25. August 2004