Aus CONTRASTE Nr. 171, Schwerpunktthema

TAUSCHRINGE INTERNATIONAL, Teil 1

 

Südfrankreich:

SEL, das Salz im Getriebe

 

Ende Juli 1998 hatte SIKA ESPERANTO zu einem internationalen Tauschring-Treffen in der Nähe von Montpellier, Südfrankreich, eingeladen. Das Treffen fand in dem ökologischen, von Pinienwäldern umgebenen Tagungshaus "Ciepad", in ländlicher Umgebung unweit von uralten Keltengräbern bei großer Hitze statt. Gekommen waren vor allem Mitglieder französischer Tauschringe - der "SEL", aber auch eine Vertreterin der italienischen Zeitbanken und ich - als Abgesandte der deutschen Tauschringe - sowie zahlreiche Esperantisten aus Großbritannien, Madagaskar, Nigeria, den Antillen, aus der Schweiz und aus Japan. Insgesamt nahmenetwa 70 Personen aller Altersstufen an dem Treffen teil.

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von Ricarda Buch, Redaktion Berlin -

SEL bedeutet "Systèmes d'échange locaux", in der deutschen Übersetzung: lokale Tauschsysteme. SEL heißt aber auch Salz und als Salz im Getriebe der Wirtschaft verstehen sich viele der französischen Tauschringe. Anwesend waren ebenfalls VertreterInnen der 450 RERs (réseaux d'échange réciprocre; Netzwerke des gegenseitigen Austauschs; Wissensbörsen), die es Frankreich wesentlich länger als die SEL gibt. 

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SIKA Esperantó - ein Service für alle

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Die OrganisatorInnen des Treffens gehörten einerseits zu der etwa 7.000 Mitglieder zählenden weltweiten Gemeinde der Esperantisten, andererseits aber auch zu den südfranzösischen Tauschringen. Zufällig gibt es in Südfrankreich zahlreiche Tauschring-AktivistInnen, die auch gleichzeitig Esperantó sprechen und zufällig fand das diesjährige weltweite Esperantó-Treffen im Anschluss an den internationalen Tauschring-Kongress ebenfalls in Montpellier statt. So war der Kongress der Tauschringe geprägt durch eine Verquickung der Ziele, die Universalsprache Esperantó zu verbreiten und gleichzeitig einen Austausch über die Entwicklung der Tauschring-Bewegung zustande zu bringen. Jeder Redebeitrag wurde in Esperantó übersetzt, was bei Nicht-Esperantisten teilweise Unwillen erregte. Andererseits bot der Kongress die Möglichkeit, Menschen aus anderen Kulturkreisen, Nur-Esperantisten, mit den Ideen der Tauschring-Bewegung bekannt zu machen und die Tauschring-Akteure wiederum konnten sich über die Ziele und Wertvorstellungen der Esperantisten informieren.

 

Gerade in den Pyrenäen, im Grenzgebiet zwischen Frankreich, Spanien und dem Baskenland ist Esperantó weit verbreitet. Claude Fressonnet, die Vorsitzende von SIKA Esperantó gehört neben Francois Terris zu den GründerInnen des ersten französischen Tauschrings - dem SEL Pyrénéen, der 1994 in Ariège ins Leben gerufen wurde. Esperantó sprechende Reisende, die mit der örtlichen Bevölkerung in den südfranzösischen Pyrenäen in Kontakt kommen wollen, haben es leicht. Sie werden dort von der Esperantó-Gemeinde freundlich aufgenommen und "weitergereicht". Neben der persönlichen Identität von Tauschring-Akteuren und Esperantisten gibt es aber auch inhaltliche Übereinstimmungen, die in einem Papier von SIKA Esperantó folgendermaßen umrissen wurden:

Eine wachsende Anzahl von Personen ist von Erwerbsarbeit, Wohnen, dem Zugang zur Gesundheitsversorgung, etc. ausgeschlossen. Für viele Jugendliche wird der Ausschluss vom Schulssystem, vom Zugang zur Erwerbsarbeit, von Freizeit- und Transportmöglichkeiten, etc. unerträglich. Ihr Protest richtet sich entweder gegen die Gesellschaft oder gegen sich selbst (die Anzahl der Selbstmorde von Jugendlichen hat sich während der letzten zehn Jahren verdoppelt).

Dagegen lehren die Initiativen des nicht-monetären Tauschs zu teilen und sie sind für alle zugänglich. In diesen Zeiten des Ausschlusses, die sich der Zunahme von individuellen, familiären und nationalen Egoismen widerspiegeln, tragen diese Initiativen dazu bei, zahlreichen Personen das Vertrauen zur Überwindung von Problemen und ihre Würde (jenseits von Bettelei und einer karitativen Fürsorgementalität) wieder zu geben. 

Obgleich sich die AnhängerInnen des nicht-monetären Austauschs (SEL, RER, LETS; Local exchange trading schemes, Tauschringe, Banca del Tempo, etc.) vor allem in der regionalen und lokalen Entwicklung betätigen, können sie die, mit der Globalisierung der Finanzwirtschaft und der Politik verbundenen Entwicklungen nicht ignorieren, denn diese betreffen sie persönlich und kollektiv.

Angesichts des Risikos, dass sich eine Denkweise durch die Hegemonie einer Sprache durchsetzt, die die ungerechten menschlichen Beziehungen verstärkt, sind die Gruppen des nicht-monetären Tauschs eine gesunde Reaktion auf anonyme und bedrohliche Machtverhältnisse. Darüber hinaus zeigt sich in der Funktionsweise dieser Gruppen ein neuer Stil menschlicher Beziehungen: mehr gerechte, mehr brüderliche (und schwesterliche, die Autorin) und mehr wahre Beziehungen untereinander.

Da nur eine kleine Minorität Privilegierter Englisch spricht, ist die große Mehrheit (90%) unserer Zeitgenossen von der Teilnahme an internationalen Treffen ausgeschlossen. Weil die Tauschringe offen sind, erscheint es uns logisch, für die Kommunikation auf internationalem Niveau neben Englisch und der Landessprache, Esperantó vorzuschlagen...

 Diesem Vorschlag standen die Nicht-Esperantisten zwar wohlwollend gegenüber, andererseits fühlten sich viele der Tauschring-Akteure aber auch überfordert, nun unbedingt Esperantó lernen zu müssen. Immerhin waren aus ihrer Szene nur drei europäische Länder vertreten und eine Verständigung auf Französisch möglich.

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Tauschringe in Frankreich

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Für mich war es erstaunlich, wie groß die Übereinstimmung zwischen der französischen und der deutschen Tauschring-Bewegung ist: Das erste SEL entstand 1994 in den Pyrenäen. Auch bei uns begann der Boom der Tauschringe 1994. Mittlerweile gibt es in Frankreich - wie bei uns - ca. 300 Initiativen, mit durchschnittlich etwa 100 Mitgliedern. Getauscht wird auf der Basis von Zeit. Die Zeiteinheit heißt "grain" (Salzkorn). Eine Arbeitsstunde entspricht in der Regel 20 Salzkörnern. Die Bewegung ist ebenfalls wie bei uns von unten entstanden. Zum Teil sind die Mitglieder der Gruppen kleine selbständige Bauern und Bäuerinnen, häufig mit einer starken ökologischen Prägung; in den Städten kommen sie vielfach aus dem intellektuellen Milieu, viele sind erwerbslos oder KünstlerInnen und vor allem sind es überwiegend Frauen. Interessant für die süddeutschen Tauschringe ist das SEL von Straßburg. Dort ist das Komitée der Arbeitslosen direkt in den Tauschring involviert und sie sind offen für jede Form der Zusammenarbeit.

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Tauschaktionen

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Getauscht werden häufig landwirtschaftliche Produkte, da die SEL vielfach in ländlichen Gebieten anzutreffen sind. Eine 1996 von Smain Laacher durchgeführte Untersuchung des SEL von Ariège (Pyrenäen) ergab, dass 77,3% der Tauschaktionen Lebensmittel (Käse, Fleisch, Eier, Gemüse, Brot, etc.) waren, 13,2% waren landwirtschaftliche Arbeiten und 9,6% landwirtschaftliche Erzeugnisse (Holz, Mist, Stroh, Heu, Korn, etc.) Die getauschten Lebensmittel sind sehr billig: Käse kostet 52 gds (Salzkörner); Brot 90 gds, Lebensmittel 150 gds, Honig 25 gds. Diverse andere Angebote sind wesentlich teurer, aber immer noch kostengünstiger als auf dem normalen Markt für Konsumgüter: ein Fernseher kostet 450 gds, ein Auto 2.000 gds.

 

 

Neben den landwirtschaftlichen Produkten werden natürlich auch häufig soziale Dienste wie Einkaufshilfen für Senioren oder Babysitting, etc. oder kulturelle Angebote wie Mal- oder Töpferkurse, aber auch gebrauchte Kleider, bzw. das Nähen von Kleidern angeboten und nachgefragt. Im Gegensatz zu den Wissensbörsen (RER; reseaux d'échange réciprocre) werden die einzelnen Tauschaktionen in der Zeitwährung verrechnet. Die Wissensbörsen sind Netzwerke auf Gegenseitigkeit ohne Tauschmedium.

 

Auch in Frankreich zerbrechen sich die Tauschring-Akteure den Kopf darüber, wie die Anzahl der Tauschaktionen gesteigert werden kann. So veranstalten die Tauschring-Mitglieder in Perpignan regelmäßig wechselnde Sonntagsfrühstücke, auf denen Tauschaktionen verabredet und neue auf den vorhandenen Bedarf zugeschnittene Angebote entwickelt werden.

 

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Die Salzstraßen

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Ein Netzwerk der einzelnen Initiativen gibt es in Frankreich bisher nicht. Dessen Sinn wird von vielen nicht gesehen und außerdem wird von vielen eine Hegemonie einzelner befürchtet. Allerdings sind auch die Franzosen dabei, den überregionalen Ausstausch via einer Bettenbörse und Mitfahrgelegenheiten aufzubauen. Die überregionalen Angebote laufen in Frankreich unter dem Motto: Straße der SEL; route des SEL. Zur Zeit gibt es eine Internet-Adresse, die diese Angebote koordiniert und über die Tauschsystem-Nachrichten für Tauschring-Mitglieder zu erfragen ist. Die französischen und die belgischen Tauschringe stehen in engem Kontakt. An einem Austausch mit den deutschsprachigen Tauschringen besteht immenses Interesse. So wurde eine Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Deutschland und Italien bei den überregionalen Angeboten, bei Urlaubsmöglichkeiten und im Bereich des Informationsaustauschs vereinbart. Dabei wies Rosa Amorevole von der Banca del Tempo aus Bologna darauf hin, dass es bereits

eine internationale Bettenbörse, SERVAS, gibt und regte an mit dieser zu kooperieren. Übrigens gibt es in italienischen Tauschringen selbstgemachte Pasta!

Breiten Raum nahm unter den französischen TeilnehmerInnen auch die Diskussion über einen anstehenden Bußgeldbescheid in Höhe von FF 2.000 an einen Handwerker, der auf Tauschringbasis handwerkliche Leistungen verrechnet hatte. Die Anwesenden waren sich einig, bis vor den europäischen Gerichtshof ziehen zu wollen und diesen Vorfall zu einem Musterprozess in Sachen Tauschring zu machen. Auch auf juristischem Gebiet wollten die Anwesenden über die Grenzen der einzelnen europäischen Länder hinweg zusammenarbeiten. Inzwischen wurde das Verfahren aber völlig niedergeschlagen und ein Richter hob den Bußgeldbescheid auf.

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Im Lande der Kartharer

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Im Anschluss an das Treffen konnte ich selbst übrigens die ersten Tauschring-Erfahrungen mit der "route des SEL" machen. Ich verbrachte 10 Tage auf Tauschring-Basis im Lande der Kartharer - dem Langue d'Oc und wurde von Elisabeth und Dedy, zwei Künstlerinnen wunderbar verköstigt und herumgeführt. Ich lernte nicht nur eine historisch sehr interessante Gegend bei 40 Grad im Schatten, sondern auch zahlreiche Mitglieder des dortigen Tauschrings kennen. Getauscht wurden insbesondere Pflanzenableger und Gemüse aus dem eigenen Garten, aber auch Hilfen beim Renovieren, das Ausrichten von schmackhaften französischen Dinèrs sowie

selbstgemachte Chutneys und Konfitüren. In diesem Tauschring sind auch mehrere Winzer und die Gegend ist bekannt für ihren hervorragenden Wein.... Ich besichtigte einen Winzer, der in seinem Verkaufsbereich die Bilder der örtlichen KünstlerInnen zeigte. Der Tauschring machte die Mischung zwischen Galerie und Winzerkeller möglich.

Wir entwarfen während meines Aufenthalts ein ganzes Szenario überregionaler Angebote im Tourismusbereich - Kurse im Bildhauen, Malkurse, Sprachkurse, Kinderbetreuung, Fahrradtouren zu den romanischen Burgen der Albigenser, Einführung in die französische Kochkunst, Wolle von Merinoschafen und natürlich Übernachtungen für Tauschring-Mitglieder. Im Gegenzug - und eigentlich in direktem Tausch besuchte mich Elisabeth in Berlin und auch andere französische Tauschring-Akteure waren bereits hier.

 

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Infos aus Übersee

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Interessant waren auch die Informationen aus Madagaskar: Dort gibt es zwar keine Tauschringe, doch eine starke Tradition der gegenseitigen Hilfe bei der Arbeit auf dem Feld. Diese wurde schon immer gemeinsam geleistet. Es existiert dort aber eine Organisation, die gratis Übernachtungen auf Gegenseitigkeit vermittelt.

Leider konnte ich mich, da ich kein Esperantó spreche, mit der Teilnehmerin aus Japan kaum verständigen. Ich bekam aber mit, dass es in Japan mit unseren Seniorengenossenschaften vergleichbare Angebote gibt: Auf Zeitbasis werden dort private Hilfsdienste für ältere BürgerInnen und Menschen mit Behinderungen angeboten. Diese Leistungen können von den Erbringenden über einen längeren Zeitraum hinweg angespart und später dann selber in Anspruch genommen werden. Ich hoffe, hierzu einmal mehr in CONTRASTE zu berichten.

 

Das Treffen in Südfrankreich hat mir sehr gefallen. Es bot die Möglichkeit, Freundschaften zu knüpfen und vermittelte erstmals Einblick in die französische Tauschringszene, die der unseren so sehr gleicht. Vielen Dank an die Organisatoren Emile Mas, der unermüdlich mit dem Mikrofon in der Hand, der Uhr auf dem Hemdsärmel und der Baseballmütze auf dem Kopf mich mit südfranzösischem Elan zum Esperantó-Lernen animieren wollte und die Tagung zusammen mit Claude Fressonet und René Ballaguy leitete. Dank auch an den sechsjährigen Sohn von Dieter aus der Schweiz, der mir die ersten Worte in Esperantó beibrachte und an die Madagassinnen, die wunderbar sangen und tanzten, an Said vom Tauschring Straßburg, der lyrische Gesänge aus dem Orient vortrug und an alle netten Menschen, die ich dort kennen gelernt habe.

 

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