Demo: "Farbe bekennen
- Faschismus Bennenen" 25.3.00 15Uhr Marktplatz Wriezen !
"Hier ist doch nicht Chicago"
. . . aber das Oderland.
Im kleinen Städtchen Wriezen im brandenburgischen Oderbruch wurde
ein 14-Jähriger von Skinheads fast zu Tode geprügelt. Die Bürger
halten ihre Stadt trotzdem für sicher
aus Wriezen GUNNAR MERGNER
Wenigstens stecken die Schläuche
nicht mehr in seinem Körper. Eduard Seeger (Name geändert) wagt
ein tapferes Grinsen, entblößt eine Zahnspange. Die Augen des
14-Jährigen sind ernst,
unruhig. Ein Pflaster über den Rippen verdeckt die Stelle, wo das
Blut aus seiner gerissenen Lunge gepumpt wurde. Der rechte Arm ist eingegipst,
die Handwurzel gebrochen. Das linke Auge blau unterlaufen. "Es geht mir
gut", sagt er.
Über jenen Freitagabend
vor einer Woche, als er von Skinheads mit dem
Baseballschläger auf
offener Straße verprügelt wurde, möchte der schmächtige
Schüler nicht reden. "Er soll erst mal raus aus dem Krankenhaus",
findet sein älterer Bruder Andreas, ein stadtbekannter Punk. So lange
übernehmen er und seine Freunde, ein Grüppchen Linker zwischen
16 und 29 Jahren, die Anklage der Zustände in Wriezen.
Das Städtchen im Oderbruch
hat 8.600 Einwohner, fünf Angelvereine, einen Marktplatz
und einen Jugendclub namens
Alcatraz. Dorthin gehen nur die "Kleinen", Jugendliche
unter 15 Jahren. Zweistöckige,
erdbraune Häuser mit abblätternden Fassaden und
moosbewachsenen Dächern
vermischen sich mit Plattenbauten. Wriezen, eine Ödnis für Jugendliche.
Seit zwei Jahren sei die
Stadt nicht mehr nur langweilig, sondern auch gefährlich
geworden, erklärt der
22-jährige Lars. Denn auch wenn in Wriezen jeder jeden kennt, ist
das noch lange keine Garantie für gute Nachbarschaft.
Die 15 Jugendlichen, einige
von ihnen arbeitslos, sind meist in ihrem selbst gewählten
Exil anzutreffen, dem Proberaum
der längst aufgelösten Band. Dieser Fluchtpunkt im alten Industriezentrum
jenseits der Bahnlinie, hinter vernagelten Fenstern mit Punkplakaten dekoriert,
gerät aber zunehmend in das Fadenkreuz der Wriezener Skins und der
"Faschos" aus dem Umland: Dreimal tauchten sie in letzter Zeit auf, warfen
Bierflaschen durch die Fenster, traten die Tür ein.
Es gab Pöbeleien, Schlägereien,
nicht einmal Wohnungen seien sicher, erzählen die
Linken. Seit einer der Ihren
einen Rechten bei der Polizei verpfiff, ist das Klima
unerträglich geworden.
Bisher habe man immer versucht, "mit den Rechten zu labern".
Das Scheitern friedensstiftender
Versuche ist jetzt aber nicht mehr zu übersehen. "Allein traue ich
mich nicht mehr durch die Stadt", sagt die 16-jährige Annett.
Lutz Richter, Chef der lokalen
Bürgerwehr und der Solidargemeinschaft "Sicher leben in Wriezen",
kann diese Einschätzung nicht teilen. "Wir sind hier nicht in Chicago",
wiegelt er ab, Wriezen sei eine sichere Stadt. Ärger gebe es mit Einbrechern
in den Kleingärten, aber die Straßen seien ruhig.
An jenem Freitag hatte sich
denn auch eine Schülerschar ganz ruhig auf dem
Minimal-Parkplatz versammelt.
Als die Skinheads kurz nach 19 Uhr mit sechs Autos
anrückten und "Sieg
Heil!" brüllten, stob die Gruppe in alle Himmelsrichtungen
auseinander. "Mein Bruder
war der Langsamste", sagt Andreas. Deswegen hätten sie
gerade ihn "mürbe gemacht".
Zwischen Friedhofsmauer und
ein paar Büschen wurde er eingeholt, mit dem
Baseballschläger und
Stahlkappenschuhen zusammengeschlagen, liegen gelassen.
"Die Bürgerwehr stand
daneben und hat zugeguckt", regt Lars sich auf. Lutz Richter hält
die Hand über seine Leute: "Die waren zu zweit. Was hätten die
denn ausrichten
können?" Die Stadtverwaltung
ist gehalten, gar nichts zu sagen. Statements gebe nur der Bürgermeister,
aber der ist nicht da.
Die entschuldigende Selbstberuhigung
in Wriezen heißt: Das waren keine Wriezener.
"Die Leute, die dort randaliert
haben, gehörten nicht in die Stadt", sagt zum Beispiel Lutz Richter.
Die Lokalzeitung assistiert mit der Aussage, die Tat sei "nicht politisch
motiviert" gewesen.
Für Lars ist diese Haltung
schlichtweg unglaublich: "Sehen die Leute nicht, was hier
abgeht?" Zumindest Staatsanwalt
Christoph Schüler aus Frankfurt (Oder) wird deutlich: "Diese organisierte
Jagd hatte natürlich einen rechtsextremistischen Hintergrund", sagt
er. Die drei mutmaßlichen Täter säßen bereits in
U-Haft. Einer sei 17, die anderen seien 18 bis 21 Jahre alt, alle drei
vorbestraft. Ihnen drohen mehrjährige Haft- oder Jugendstrafen. Gegen
einige andere wird noch wegen Beihilfe ermittelt.
Das Verständnis des
Staatsanwalts allein kann das Leben der Linken in Wriezen nicht
versüßen. Viele
träumen davon, "das Kacknest" zu verlassen. Andreas möchte als
Entwicklungshelfer "nach
Brasilien, Kuba oder Mexiko" gehen.
Sein Bruder wird bald aus
dem Krankenhaus entlassen und muss sich dem ganz
normalen Alltag in Wriezen
stellen.
taz 21.3.2000 |