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Offene Erklärung der AA(M) zum Umgang mit dem Vergewaltigungsvorwurf gegen einen Genossen

Vor kurzem ist der offene Brief eines FrauenLesben Regionalplenums bekannt geworden, in dem der Vorwurf erhoben wird, wir würden einen Vergewaltiger schützen und die betroffene Frau angreifen. Die Verbreitung dieses Vorwurfs geschieht zwangsläufig in Unkenntnis unserer Sichtweise des Sachverhalts, da wir uns aus kriminalisierungstechnischen Gründen bisher darauf beschränkt haben, unsere Sicht entweder mündlich oder auf Anfrage schriftlich zu vermitteln. Rückblickend müssen wir jedoch feststellen, daß unsere Einbehaltung von Informationen es vielen unmöglich gemacht hat, unsere Perspektive kennenzulernen und unser Verhalten zu beurteilen. Die Auseinandersetzung mit dem Fall hat ihre Zeit beansprucht und dauert auch weiterhin an. Diese Zeit war notwendig, um eine gründliche Auseinandersetzung zu ermöglichen.

Wir werden im folgenden unsere Ansprüche an das Thema Patriarchat und unseren praktischen Umgang mit Sexismus darlegen. In unserer Reaktion auf den Vorwurf ging es uns erst einmal darum, die Position der Betroffenen emstzunehmen, ihre Forderungen zu unterstützen und ihr weitestgehend entgegenzukom-men. Darüberhinaus war es für unseren Umgang mit dem Täter notwendig, seine Tat an unseren An-sprüchen an das Verhalten eines Genossen in einer gemischten Gruppe zu messen.

Der Kampf gegen den Imperialismus muß Hand in Hand mit dem Kampf gegen das Patriarchat geführt werden. Das erfordert theoretische wie praktische, öffentliche wie persönliche Anstrengungen. Der Auseinandersetzung mit dem Patriarchat widmet sich bei uns seit Anfang 1992 eine ständige Arbeitsgruppe, in der Frauen und Männer gemeinsam Standpunkte entwickeln und daraus eine Praxis ableiten. Seitdem initiieren wir gemischt eigenständige Veran-staltungen und öffentliche Aktionen gegen das Patriarchat. Darüberhinaus fließen diese Standpunkte in die allgemeinen Theoriepublikationen und Aktionen der Gruppe ein.
Seitdem versuchen wir auch - über moralische Appelle hinaus - interne Maßnahmen zu ergreifen, die das Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen innerhalb der Gruppe verringem sollen.
Da Männer die alltäglichen Profiteure dieses Wider-spruchs sind, tragen sie auch eine besondere Verantwortung für ihre persönliche Veränderung. Auf der Grundlage ihrer faktischen Nutznießerrolle kann das für sie nur heißen, von liebgewonnenen Privilegien Abschied zu nehmen, während Frauen durch die Erkämpfung ihrer Rechte dazugewinnen. Sinn und Zweck solcher Maßnahmen ist es, für Frauen in bestimmten Bereichen einen formellen Machtüberschuß zu schaffen, der das informelle Machtungleichgewicht ausgleichen soll. Zu solchen Maßnahmen gehört beispielsweise die Einführung einer quotierten Redeliste, die geschlechtsspezifischem Redeverhalten Rechnung trägt.
In diesem Zusammenhang steht auch eine Maßnahme zum Umgang mit Sexismus in der Gruppe, die wir
Anfang 1994 eingeführt haben. Da wir uns bewußt gemischt organisieren, unterscheidet sich unser Umgang von dem Umgang von FrauenLesbengruppen mit Sexismus. Unsere Basis bildet das bewußte Eingeständnis von Geschlechterrollen und der Wille, die-se so weit wie möglich abzubauen. Auf dieser Grundlage bedeutet der Umgang mit Sexismus für uns eine ständige Auseinandersetzung und damit die Forcierung einer Weiterentwicklung von Männern und Frauen in der Gruppe. Die gemischte Organisierung bedeutet für die Frauen der Gruppe natürlich auch, in einigen Punkten nicht auf derselben Bewußtseinsebe-ne arbeiten zu können, wie es in einer Frauengruppe möglich wäre. Diesem Zugeständnis der Frauen muß von den Männern der Gruppe Rechnung getragen werden.
Wir verstehen es prinzipiell als unsere Pflicht, einen Vorwurf des Sexismus ernstzunehmen und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen.

Die Regelung für den Umgang mit Sexismus in der Gruppe sieht folgendes Verfahren vor: Nach Bekanntwerden eines Vorwurfs gegen einen Genossen beginnen getrennte Diskussionen in einem Frauen-und einem Männerplenum. In beiden Gruppen soll ein einheitlicher Informationsstand hergestellt werden und eine Bewertung des Ereignisses stattfinden. Die Grundlage dafür biIdet in erster Linie die Darstellung der betroffenen Frau, die auch schriftlich oder über eine Delegierte erfolgen kann. Dabei geht es uns weni-ger um Details als vielmehr um eine grobe Erläuterung des Vorwurfs. Darüberhinaus halten wir es auch für notwendig, daß der Täter vor beiden Plena Rede und Antwort steht. Die grundsätzliche Entscheidung über den Verbleib eines Genossen in der Gruppe liegt bei den Frauen, da Frauen unmittelbar von einem Sexisten betroffen sind. Wenn die Entscheidung zugunsten des Genossen ausfällt, legen die Frauen außerdem fest, welche Bedingungen sie an seinen Verbleib knüpfen. Währenddessen überlegen sich die Männer, wie eine weitere Auseinandersetzung mit dem Genossen im Falle des Verbleibs aussehen könnte. Das Hauptziel der Diskussion unter den Männern soll sein, das gemeinsame Bewußtsein über das Herrschaftsverhältnis zwischen Frauen und Männern weiterzuentwickeln.
Danach findet ein gemischtes Treffen statt, auf dem die Frauen ihre Entscheidung bekanntgeben und begründen. Hier wird eine offene Meinungsäußerung und Auseinandersetzung der Männer zu der von den Frauen getroffenen Entscheidung erwartet.
Wir haben uns bewußt gegen eine Anhörung der Män-ner vor der endgültigen Entscheidung der Frauen ent-schieden, da der Informationsstand der beiden Plena der gleiche ist und in einer derart kritischen Frage die Entscheidungskompetenzen so eindeutig wie möglich sein sollten. Bei dem Entschluß zu dieser Regelung haben wir versucht, Erfahrungen Rechnung zu tragen, die wir bei Vergawaltigungsdiskussionen in der autonomen Szene gemacht haben.
Als gegen einen Genossen der Vorwurf einer Vergewaltigung erhoben wurde. hatten wir also schon eine Orientierung für den praktischen Umgang damit.
Bei diesem Umgang trafen wir dann auf einige Schwierigkeiten
Zum einen erfolgte die Beschuldigung der Vergewaltigung ohne jegliche Erläuterung. Der Artikel wurde von einer Frauen Lesbengruppe geschrieben, die von der betroffenen Frau um Unterstützung gebeten wurde. Die Frau selber war unter keinen Umständen zu einem Gespräch mit Genossinnen unserer Gruppe bereit. Wir verstehen diese Entscheidung und respektieren sie, trotz der daraus resultierenden Probleme auf unserer Seite. Eine der Folgen war eine große Unklarheit unsererseits, da die unterschiedlichsten Versionen über die Tat in Umlauf waren, und auch die FrauenLesbengruppe uns jegliche nähere Erläuterung vorenthielt.
Zum anderen geschah die Bezeichnung der Vergewaltigung aufgrund einer Definition, die die Frauen unserer Gruppe nicht teilen. Doch dazu gleich mehr. Letztlich zwingt uns die Kriminalisierung, in der Öfffentlichkeit sehr sparsam mit Informationen über einzelne Mitglieder umzugehen.

Was die Bewertung des Vorfalls betrifft, war es für uns von größter Wichtigkeit, das subjektive Empfinden der betroffenen Frau emstzunehmen und zu akzeptieren Das hieß erst einmal, die Forderungen zu unterstützen, die die Frau selbst an den Täter stellt. Die ent-scheidendste ist, daß er sich den privaten und öffentlichen Bereichen fernhält, die der betroffenen Frau zuzuordnen sind. An anderen Orten (auch Demos) hat er sich ohne Aufforderung zu entfernen, sobald sie anwesend ist. Entscheidend für unsere Unterstützung dieser Forderungen war, die realen Bedrohungsängste der Betroffenen ernstzunehmen und sie darin zu unterstützen, ihre Grenzen klar zu definieren.

Für unseren eigenen Umgang mit dem Fall erarbeiteten die Frauen der Autonomen Antifa (M) in eigener Auseinandersetzung eine Definition, die als Grundlage für eine Bewertung dienen konnte. Was die Definition betrifft, fängt nach Ansicht der FrauenLesbengruppe Vergewaltigung da an, wo Grenzen mit sexueller Absicht überschritten werden durch psychischen, physischen und sozialen Druck. Wobei die sexuelle Handlung nicht das Ziel ist, sondern das Mittel, um Macht auszuüben. Ebenso wie die FrauenLesben lehnen wir es strikt ab, wenn ein Mann die Grenzen einer Frau überschreitet. Eine Vergewaltigung beginnt für uns da, wo ein Mann gegen den verbal oder nonverbal ausgedrückten Willen einer Frau eine sexuelle Handlung vollzieht oder die Frau zu einer sexuellen Handlung zwingt und sie damit in ihrer kör-perlichen Integrität verletzt. Diese Definition schließt das Vorliegen einer durch psychischen oder physischen Druck des Mannes geschaffenen Atmosphäre ein, in der sexuelle Handlungen von der Frau erpreßt werden, ohne daß sie ihre Ablehnung gegen einen einzelnen Übergriff ausdrückt. Vergewaltigung ist einer der extremsten Ausdrücke des Patriarchats. VergewaItigung steht jeder revolutionären Perspektive entgegen. Eine politische Zusammenarbeit mit einem Vergewaltiger in der Gruppe ist für uns nicht vorstell-bar.

In der Realität befanden wir uns in einem großen Dilemma Auf der einen Seite ein pauschaler Vergewaltigungsvorwurf aufgrund einer Definition, die wir nicht teilen. Auf der anderen Seite fehlte uns jegliche Erläuterung zu dem Vorwurf, um den Vorfall anhand unserer Ansichten zu bewerten. Nach einigen erfolglosen Versuchen einiger Genossinnen, ein Gespräch mit der betroffenen Frau zu erreichen, entschieden sich die Frauen der Autonomen Antita (M), ihre Be-wertung nur auf die Darstellung des Täters zu stützen, obwohl uns klar ist, daß seine Sichtweise nur die ei-gene Wahrnehmung widerspiegeln kann.

Nach der Darstellung des Beschuldigten werten die Frauen der Autonomen Antifa (M) sein Verhalten nicht als Vergewaltigung. Auf Wunsch der betroffenen Frau verzichten wir an dieser Stelle auf eine Wiedergabe der Darstellung des Täters. In unseren Augen handelt es sich vielmehr um ein äußerst kritikwürdiges sexistisches Verhalten in einer Beziehung, die von einer typischen Rollenverteilung geprägt war. Also ein Verhalten, das unter Männern leider recht üblich ist.
Der Täter setzte sich von Anbeginn über den Vorwurf mit Freunden und Freundinnen auseinander. Er ver-suchte, mit der Betroffenen selbst und über Dritte Kontakt aufzunehmen. Sie lehnte jeden Kontakt mit ihm verständlicherweise ab. Er informierte auch die Gruppe von dem Vorwurf.
Der Täter sieht sein Fehlverhalten ein und wurde dafür detailliert kritisiert. Als Konsequenz wurden ihm von uns verschiedene Bedingungen auferlegt: Die entscheidendste ist das Meiden der Bereiche der Betroffenen. Eine weitere, für uns unerläßliche Bedingung ist, daß er sich im Rahmen der Gruppe weiterhin mit dem Geschlechterwiderspruch auseinandersetzt.

Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß unser Vorgehen nicht unangreifbar ist, vor allem aufgrund der fehlenden Darstellung der Betroffenen selbst. Im großen und ganzen hat uns diese gründliche Auseinandersetzung jedoch einen großen Schritt vorangebracht:
Durch die intensiven Diskussionen sind sowohl Frauen wie Männer in der Gruppe bewußter gegenüber dem alltäglichen Sexismus geworden.

Es wäre für uns erheblich leichter gewesen, den Genossen sofort nach dem Bekanntwerden des Vorwurfs aus unseren Augen zu schaffen, um den Eindruck einer weißen Weste zu wahren. Schwarzweißdenken ist gerade wegen seiner scheinbaren radikalen Konsequenz sehr verführerisch. Die Realität stellt sich jedoch oft differenzierter dar. Sexistisches Verhalten von unterschiedlicher Qualität fordert auch unterschiedliche Konsequenzen.
Für den Umgang mit Sexismus gibt es kein Patentrezept, kein Vorgehen ist perfekt und jedes Handeln ist deswegen auch immer angreifbar. Wir stehen auch in Zukunft zu unserem Umgang mit Sexismus, auch wenn wir dabei in Einzelfällen Kritik hinnehmen müssen.

Autonome Antifa (M)
9. November 1995