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»Ende des normalen Alltags« 

Es passiert tagtäglich: Ein Mann vergewaltigt eine Frau — sie kann alt, jung, dick, dünn, intelligent, vorlaut oder zurückhaltend sein. Der Täter kann ein Unbekannter, eine flüchtige Bekannschaft, ein Freund, ihr Lebensgefährte, ihr Vater, Ehemann oder ein Genosse sein. Die meisten der Täter sind den betroffenen Frauen nicht unbekannt. Sie kommen aus deren engeren Bezugsfeld. Es passiert immer wieder — in »ganz normalen« Familien, unter Arbeitskollegen, an der Universität oder nach einer Party — wo auch immer; Vergewaltiger gibt es auch in linken Zusammenhängen. Diese Erkenntnis ist nichts Neues. Selbstkritisch müssen wir anmerken, dass auch das AIB sich höchst unregelmäßig mit dem Komplex »Sexismus/Patriarchat« beschäftigt. Angesichts einer aktuellen Debatte um den Umgang mit Vergewaltigern in der »Antifa-Bewegung« haben wir uns entschieden, unsere eigenen Positionen zur Diskussion zu stellen. Schließlich macht das Patriarchat — also männliche Dominanz und Machtstrukturen — nicht vor »der Szene« oder »der Antifabewegung« — halt.

Im Gegenteil: Mackerverhalten, Dominanz von Männern bei Diskussionen oder Aktionen, interne Gruppenhierarchien, bei denen Frauen sich oft am unteren Ende befinden, sind auch in der Antifabewegung nicht allzu selten. Genauso alltäglich ist es, dass darüber nicht gesprochen wird — es ist Normalzustand. Und wenn Frauen diesen Normalzustand kritisieren, »haben sie ein Problem«, werden sie als »Emanzen« oder »Zicken« abgestempelt. Viele Frauen ziehen es dann vor, den Mund zu halten, sich höchstens untereinander auszutauschen oder organisieren sich nur noch mit Frauen und Lesben. Andere ziehen sich ganz aus politischen Zusammenhängen zurück.

Sexuelle Anmache, Belästigungen und Vergewaltigungen sind Teil des Alltags von Frauen. Damit umgehen zu müssen oder die Folgen einer Vergewaltigung, bestimmen das Leben vieler Frauen. Keine Frau will Opfer werden — keine Frau, vor allem nicht Frauen in linken oder Antifazusammenhängen, will sich als »Opfer« stigmatisieren lassen. Denn Opfer gelten gemeinhin als schwach, haben nicht aufgepasst, sind selber schuld, waren zu langsam, zu unvorsichtig, und haben nicht deutlich genug »NEIN« gesagt.... . Eine Frau, die sagt, sie ist vergewaltigt worden, weiß, was sie danach erwartet: Ihr wird mißtraut. Sie ist diejenige, die sich rechtfertigen muß — in ihrem Freundeskreis — »der Typ ist doch total nett« —, in ihrem politischen Zusammenhang — »der Mann ist doch ein wichtiger Genosse« —, vor Unbekannten, die meinen, dass sie »doch nur eine Schlampe ist, die mit jedem ins Bett geht«. Noch einmal: Keine Frau setzt sich grundlos der Situation aus, sich immer wieder dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie einen Mann, der ihre Grenzen verletzt und überschritten hat, als Vergewaltiger bezeichnet. Sie weiß, dass sie Details dieser Verletzungen darbieten muß — um »glaubwürdig« zu sein, damit andere Frauen und Männer »nachprüfen« können, »ob es wirklich eine Vergewaltigung war«. 

An diesem Punkt unterscheiden sich Frauen aus linken und Antifazusammenhängen im übrigen nicht sonderlich von sogenannten »bürgerlichen« Frauen. Auch im bürgerlichen Alltag haben die wenigsten Vergewaltigungen juristische Konsequenzen. Die meisten vergewaltigten Frauen haben Angst davor, vor Polizeibeamten, Staatsanwälten, Richtern und Verteidigern ihre intimsten Verletzungen zu wiederholen, zerpflückt zu werden und wahlweise als »unglaubwürdig«, »rachsüchtig«, »nuttenhaft« oder »psychisch labil« abgestempelt zu werden. Deswegen werden die meisten Vergewaltigungen nicht bekannt. Sie bleiben »Privatsache« der betroffenen Frau. 

Das Schweigen der Opfer ist die Macht der Täter

Frauen schweigen zu alltäglicher Gewalt, sie schweigen zu Vergewaltigungen: Aus Angst, aus Scham, aus Hilflosigkeit, aus Angst vor sozialer Isolation. Wenn eine Frau aus linken oder Antifazusammenhängen das Schweigen über eine Vergewaltigung bricht, kann das unterschiedliche Gründe haben: Die Frau will sich in einem sicheren Raum bewegen können, in dem sie dem Täter nicht begegnen muß. Sie will Bewegungsfreiheit und einen Raum, den sie bestimmt. Das Outen von Tätern in der Linken und in Antifazusammenhängen hat vor allem einen Grund: Der Schutz der Frauen und ihr Recht auf einen sicheren, selbstbestimmten Raum. Wenn der Täter aus dem politischen Zusammenhang ausgeschlossen wird oder in Kneipen, Wohngemeinschaften oder in Projekten unerwünscht ist und ihm Hausverbot erteilt wird, geht es darum, die betroffene Frau zu respektieren. Das bedeutet auch, sie in ihren Forderungen, wie mit dem Vergewaltiger umgegangen werden soll, zu respektieren. Und es geht darum, dem Vergewaltiger Grenzen aufzuzeigen und ihm die Unterstützung zu entziehen.

Eine Vergewaltigung ist eine Erfahrung, die eine Frau ihr ganzes Leben lang begleitet und bestimmt — keineswegs »nur« in ihrem weiteren Umgang mit Männern. Im Gegensatz dazu ist eine Vergewaltigung für die meisten Täter keine bleibende Erfahrung — entweder, weil sie ohnehin mit Frauen wie mit beliebig verfügbaren Objekten umgehen, oder weil sie »gar nicht gemerkt haben, dass ich da eine Grenze überschritten habe« oder weil sie »das alles gar nicht so schlimm fanden, schließlich ist sie doch mit mir ins Bett gegangen.« Für die wenigsten Täter ist es überhaupt notwendig, sich mit der Vergewaltigung auseinander zu setzen; denn ihr Opfer wird ihnen in den meisten Fällen aus dem Weg gehen und versuchen, den Kontakt abzubrechen. 

Viele Frauen aus linken oder Antifazusammenhängen ziehen es vor, eine Vergewaltigung und den Täter nicht öffentlich zu machen. Einige Gründe dafür sind schon genannt worden. Es gibt noch andere Gründe: Frau fühlt sich schuldig und mitverantwortlich dafür, »dass es dazu kommen konnte«; oder Frau schätzt den Mann nach wie vor als Menschen, will ihm »noch ‘ne Chance geben« und sucht nach einer anderen Form des Umgangs mit der Vergewaltigung und dem Vergewaltiger: Sie bittet ihre Freundinnen oder seine Freunde, sich mit dem Mann auseinander zu setzen; sie fordert, dass der Mann aus ihrem Umfeld verschwinden soll und dass ihre FreundInnen und GenossInnen dafür sorgen sollen, dass der Mann sich daran hält. Sie fordert von dem Mann, dass er sich in eine Therapie begibt und sich mit seinen Täterstrukturen auseinandersetzt ... Oder eine Frau entschließt sich, die Vergewaltigung öffentlich zu machen und den Mann als Vergewaltiger zu »outen«. Was dann passiert, wurde schon geschildert. In den wenigsten Fällen wird der Frau geglaubt, sie muß sich rechtfertigen und endlosen Diskussionen unterziehen. Manchmal passiert dann trotzdem das, was die Frau von Anfang an gefordert hat: Der Mann wird aus politischen Zusammenhängen ausgeschlossen, der Frau wird zugestanden, darüber zu bestimmen, wo sich der Mann aufhalten kann und wo nicht. Doch in den meisten Fällen passiert — außer endlosen Diskussionen, Papierkrieg und Schlammschlachten — gar nichts. Der Mann kann sich weiterhin überall ungehindert bewegen; die Frau ändert ihre Lebenszusammenhänge, steigt aus ihrer Politgruppe aus und verabschiedet sich nach und nach von ihren FreundInnen.

Warum ist es sinnvoll, Vergewaltiger aus politischen Zusammenhängen auszuschließen? 

Einer der Gründe ist Respekt vor der Frau — um ihr einen Raum zu geben bzw. zu lassen, in dem sie nicht mit dem Täter — und damit der Vergewaltigung — konfrontiert ist. Es gibt noch weitere Gründe: Erst dann wenn die Normalität im Alltag des Vergewaltigers durchbrochen wird, wird er ansatzweise in der Lage sein, die Konsequenzen der Vergewaltigung zu erkennen und seine eigenen Strukturen zu bearbeiten. Kein Mann, der einfach »so weitermacht wie bisher« und vielleicht noch schnell ein Papier mit Freunden diskutiert, kann ernsthaft behaupten, er setze sich mit seinen Täterstrukturen auseinander. Ein »Ende des normalen Alltags« ist der Anfang einer Auseinandersetzung. Welche Form diese Auseinandersetzung dann annimmt, kann sowohl von der betroffenen Frau, als auch dem politischen oder sozialen Zusammenhang des Vergewaltiger bestimmt werden. Diese Auseinandersetzungen sind zumeist zeitlich begrenzt: Entweder, weil die Frau oder ihre FreundInnen oder die Freunde des Mannes oder der politische Zusammenhang irgendwann den Eindruck haben, der Mann hat sich tatsächlich mit seinen Strukturen auseinandergesetzt; oder weil der Mann diese Auseinandersetzungen abbricht ... In vielen Fällen werden Vergewaltiger nach Absprache mit den betroffenen Frauen ersteinmal »beurlaubt« — mit der Möglichkeit, nach einer Auseinandersetzung in Absprache mit der betroffenen Frau seinen sozialen und politischen Alltag wieder aufzunehmen. Vergewaltigung ist kein individueller Akt, der sich im privaten Kämmerchen abspielt: Vergewaltigungen spiegeln gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse wieder, in denen Frauen zu Objekten degradiert werden; in denen der Lustgewinn von Männern darin besteht, Macht über einen anderen Menschen zu haben. Denn bei Vergewaltigungen geht es um Macht und Verfügungsgewalt und keineswegs — wie es die bürgerlichen und sonstigen Medien gerne behaupten — um Sexualität. Dementsprechend ist eine Vergewaltigung innerhalb linker Zusammenhänge auch keine private Angelegenheit zwischen der betroffenen Frau und dem Vergewaltiger, sondern betrifft den gesamten Zusammenhang.

Warum wir keine Definition von Vergewaltigung in diesem Artikel geben

Anlaß für diesen Artikel ist auch ein Papier der Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) — »Die neue Sachlichkeit« —, das ein Jahr, nachdem ein Mann, der von der betroffenen Frau als Mitglied der AAB bezeichnet wurde, als Vergewaltiger geoutet wurde, veröffentlicht wurde. Wir empfinden diese Stellungnahme als gravierenden Rückschritt in der Diskussion um patriarchale Strukturen und den Umgang damit in der Antifabewegung. In der Stellungnahme der AAB wird eine »gängige Kopplung von Definitionsrecht [der Frau] und Sanktionsrecht [gegenüber dem Täter, Anm. d. AIB]« abgelehnt. Das Papier enthält keinerlei kritische Auseinandersetzung mit eigenem Verhalten in der Gruppe oder in der Szene. Es ist aufgemacht, als ob es patriarchales Verhalten in der Szene nicht gäbe und das Problem allein darin bestünde, ein formales Verfahren nach einem »bedauerlichen Vorfall« zu entwickeln. Es ist aber eine der wenigen Errungenschaften der feministischen Bewegung der letzten dreißig Jahre, dass in linken und antifaschistischen Zusammenhängen den betroffenen Frauen das Definitionsrecht darüber zugestanden wird, was sie als Vergewaltigung, als Übergriff oder sexistische Anmache definieren. Dieses Definitionsrecht — das sich bewußt nicht am bürgerlichem Gesetzbuch orientiert — ist auch ein Machtzugeständnis an Frauen innerhalb einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft und linken Bewegung. 

Jede Frau hat andere Grenzen — die sich aus ihrer Geschichte, ihren Erfahrungen, ihrem Gefühl zu ihrem Körper etc. bestimmen —, und jede Frau hat ein Recht auf die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen, darauf, dass die Grenzen, die sie setzt, respektiert werden. Um es klar zu sagen: Wenn eine Frau eine Grenzverletzung als Vergewaltigung bezeichnet, weil sie diese als solche empfunden hat, handelt es sich um eine Vergewaltigung. Wer diesen Grundsatz hinterfragt, in Frage stellt oder gar als unsachlich bezeichnet, da keine objektiven Kritieren vorliegen würden, der stellt sich außerhalb eines Konsens, der immer — wenn auch oft uneingelöster — Grundbestandteil gemischter antifaschistischer Zusammenhänge und Praxis war. Um diesen Konsens immer wieder zu ringen, halten wir für absolut notwendig. Zu diesem Konsens gehört auch, dass der Umgang mit Vergewaltigungen und Vergewaltigern aus der Sicht von Frauen bestimmt wird — und nicht aus der Perspektive der Täter. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass in anderen Bereichen von Antifa-Arbeit — beispielsweise in der Jugendarbeit — dieser Konsens, dass Jugendarbeit sich an den Bedürfnissen der potentiell Betroffenen orientiert und nicht zum Täterschutz wird — nicht hinterfragt wird ... 

Sanktionen versus Schutz

In ihrem Papier behauptet die AAB, die Sanktionen, mit denen Vergewaltiger innerhalb linker und antifaschistischer Zusammenhänge bedroht würden, seien mindestens so schlimm wie strafrechtlich sanktionierte Strafen — schließlich drohe den Tätern lebenslanger Ausschluß aus allen politischen und sozialen Zusammenhängen. Einmal abgesehen davon, dass die wenigsten Täter lebenslang aus linken Zusammenhängen ausgeschlossen werden — entweder, weil die betroffene Frau dies nicht fordert, oder weil sie ohnehin nicht ausgeschlossen werden — umgehen viele Vergewaltiger ihnen lästige Auseinandersetzungen einfach dadurch, dass sie in eine andere Stadt ziehen und dort so weitermachen wie vor dem »Outing«. Zum anderen gibt es einen eklatanten Widerspruch im Verständnis davon, warum Vergewaltiger aus politischen Zusammenhängen ausgeschlossen werden. Während die AAB dies als »Sanktion« bezeichnet, bezeichnen wir dies als Schutz für die betroffene Frau. Dem liegt ein fundamental unterschiedliches politisches Grundverständnis zugrunde: Auch antifaschistische Arbeit hat als Kern keineswegs den Sanktionsgedanken für Neonazis und Rassisten; im Vordergrund steht der Schutz der Betroffenen und die Notwendigkeit, Freiräume für nicht-rechte Jugendliche, Flüchtlinge, MigrantInnen etc. zu schaffen — was eine ganze Bandbreite von Aktionsformen miteinschließt.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben nach langen Diskussionen innerhalb der Redaktion entschieden, die Stellungnahme der AAB nicht zu veröffentlichen, da wir kein Interesse an einer Schlammschlacht haben, sondern mit unseren eigenen Standpunkten eine dringend notwendige Diskussion innerhalb der Antifabewegung anschieben möchten. Wer das AAB-Papier »Die neue Sachlichkeit« lesen möchte, kann dies in der interim Nr. 493 tun.

Antifa Infoblatt Nr.50 / Ausgabe 1/2000