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Wieso war der 1. Mai ein AHA-Erlebnis?

                        junge Welt sprach mit Ulrich Klinggräff (Der Berliner
                        Rechtsanwalt Ullrich Klinggräff vertritt Clemens G., der nach der
                        sogenannten Revolutionären-1.-Mai-Demonstration von
                        vermummten Zivilbeamten zusammengeschlagen wurde und bis
                        heute in Untersuchungshaft sitzt)
                        Interview: Rainer Duncker

                         F: Ihr Mandant gehörte am 1.Mai zu den Teilnehmern der
                        Revolutionären-1.-Mai-Demonstration. Was geschah nach Ende
                        der Demo?

                         Mein Mandant ist in den späten Abendstunden des 1. Mai
                        festgenommen worden. Ihm wird der Vorwurf eines schweren
                        Landfriedensbruchs gemacht. Er befindet sich derzeit in der
                        Untersuchungshaftanstalt Moabit. Das besonders Dramatische an
                        diesem Fall ist die Art und Form seiner Festnahme. Er ist in der
                        Nähe der U-Bahn-Station Görlitzer Bahnhof von Zivilbeamten
                        festgenommen worden. Er wurde in ein Zivilfahrzeug verbracht,
                        und dann erzählt mein Mandant folgendes: Mit diesem
                        Zivilfahrzeug ist er etwa fünf Minuten gefahren. Das Fahrtziel
                        konnte er nicht erkennen, weil er die ganze Zeit den Kopf gesenkt
                        halten mußte. Dann kam man an einen etwas verlassenen Ort.
                        Dort wurde er mehrere Minuten lang zusammengeschlagen.
                        Diese Prügelorgie wurde begleitet von Sprüchen wie "Das ist erst
                        der Anfang, danach geht's weiter Mann gegen Mann, wir sind
                        zwölf." Es wurden Sätze gesprochen wie "Wir brechen Dir gleich
                        die Knie, danach kannst Du nicht mehr laufen". Als mein
                        Mandant relativ am Anfang, noch halbwegs fit war, sagte er: "Das
                        ist also euer Verständnis vom AHA-Konzept" (Taktik der Polizei
                        zur Deeskalation, d. Red.). Daraufhin kam die Antwort seitens der
                        Polizeibeamten: "Du wirst gleich Dein AHA-Erlebnis haben."
                        Interessant ist auch, daß einige der Beamten vermummt gewesen
                        sind. Man hat ihn nach dem Akt der Folter zur Erstbehandlung
                        zur Feuerwehrwache in der Wiener Straße verbracht und von dort
                        aus weiter zum Bereitschaftsgericht am Tempelhofer Damm.

                         F: Welche Verletzungen hat Clemens von dieser Attacke
                        davongetragen?

                         Das ganze Gesicht ist übersät mit Verletzungen, insbesondere
                        Schürfwunden, die er davongetragen hat. Er hat überall
                        Hämatome, beide Augen sind angeschwollen. Glücklicherweise
                        hat er keine bleibenden oder sehr ernsthaften Verletzungen
                        davongetragen, es bewegt sich so im Bereich oberflächliche
                        Verletzungen, die natürlich sehr schmerzhaft sind.

                         F: Handelt es sich um einen Einzelfall oder sind Ihnen noch 
                        mehrFälle bekannt geworden, die sich am 1. Mai ereignet 
                        haben?

                         In dieser besonderen Dramatik ist es nach meiner Erkenntnis ein
                        Einzelfall. Als ich aber am 2.Mai, bei der Vorführung vor dem
                        Haftrichter war, hat man sehr viele Leute gesehen, die sichtbare
                        Verletzungen im Gesicht davongetragen haben. Allerdings ist mir
                        kein Fall bekannt, der so drastische Ausmaße angenommen hat
                        wie der meines Mandanten.

                         F: Letztes Jahr gab es Übergriffe auf Journalisten, und danach
                        wurden viele Anzeigen gegen Polizisten gestellt. Die sind
                        unterdessen im Sande verlaufen. Sehen Sie jetzt eine Chance,
                        die Zivilbeamten zur Verantwortung zu ziehen?

                         Das ist natürlich immer so eine besondere Problematik. Wir
                        werden auf jeden Fall Strafanzeige erstatten. Erstes Problem ist
                        bei Polizeibeamten grundsätzlich die Identifizierung und
                        Namhaftmachung. Hier gibt es noch die besondere Problematik,
                        daß die eingesetzten Zivilbeamten vermummt gewesen sind. Ich
                        hoffe trotzdem, daß wir allein auf Grund der vielen Zeugen, die es
                        für die unmittelbare Festnahme meines Mandanten gab, vielleicht
                        doch einen Erfolg erringen können.

                         F: Inwieweit können Sie zu Ihrem Mandanten Kontakt halten?

                         Ich bin als Verteidiger von Clemens bevollmächtigt. Insofern habe
                        ich auch keine Probleme, ihn in der Untersuchungshaftanstalt
                        besuchen zu können. Wir haben - das ist unser nächstes
                        Verteidigungsziel - einen Antrag auf Haftprüfung gestellt. Da geht
                        es dann allein um die Frage, ob er von der Untersuchungshaft
                        verschont wird oder nicht.

junge Welt vom    9. Mai 2000: