Wortmeldungen zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen 25. November 2008

Lara Beilage


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GEWALTIGE REFORMEN, ALLTÄGLICHE GEWALT





INHALT

Seite 1:
Birgit Sauer: Gewaltige Reformen - Alltägliche Gewalt
Editorial von Ariane Brenssell

Seite 2:
Gisela Notz: Warum sind gerade Frauen oft arm?
Christa Wichterich: Pflegedumping macht pflegebedürftig

Seite 3:
Agisra e.V.: Sondergesetze und patriarchale Gewalt
Silke Büttner und Eva-K. Hack: Herausforderungen an feministische Politik
Esra Erdem: Zur Kritik an der Integrationsdebatte

Seite 4:
Anita Eckhardt: Frauenorganisationen kritisieren Anti-Gewalt-Politik vor der UNO
Nachfrage zu CEDAW: "Themen zu setzen ist eine Chance"
Waltraud Schwab: Interview mit Verein Wildwasser zu sexuellem Mißbrauch (Martina Hävernick): Sensation statt Tabu?
Ariane Brenssell: Arbeit gegen sexuelle Gewalt: Immer in Beweispflicht!


EDITORIAL

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VON ARIANE BRENSSELL


Seit 1981 wird am 25. November der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen begangen. Gewalt gegen Frauen und geschlechtsbezogene Gewalt gibt es überall auf der Welt. Deutschland ist keine Ausnahme.


Obwohl die Bundesregierung politische Maßnahmen ergreift, etwa den Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, obwohl es entsprechende Rechte und Gesetze gibt, bleiben auch in Deutschland die Zahlen von Gewalt gegen Frauen hoch.


LARA (LARA e. V. – Verein gegen sexuelle Gewalt, Berlin) nimmt den 25. November zum Anlass, um einige Aspekte struktureller politischer Veränderungen im Zusammenhang mit der alltäglichen Gewalt gegen Frauen zu reflektieren. Der Sozialabbau, die neue Armut, Sondergesetze für Migrantinnen und der Umbau der Gesundheits- und Sozialsysteme – alles Reformen und Entwicklungen der letzten Jahre – zeigen teils antiemanzipatorische Wirkungen. Die mit den Reformen einhergehende Verknappung der finanziellen Ressourcen vergrößert nicht nur die Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, sie zementiert erneut auch ungleiche Geschlechterverhältnisse.


Wir haben andere Frauenprojekte, Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen gebeten, zu skizzieren, wie sie die neuen gesellschaftlichen Widersprüche und Herausforderungen für die Arbeit gegen Gewalt gegen Frauen erleben und wie sie die Bedeutung der gewaltigen Reformen der letzten Jahre für ihre Handlungsmöglichkeiten einschätzen.


Birgit Sauer, Hochschullehrerin an der Universität Wien, argumentiert aus politologischer Sicht, dass unter neoliberalen Verhältnissen Gewaltstrukturen neu gedacht werden müssen, um sie zu erkennen. Gisela Notz, Soziologin aus Berlin, zeigt acht Gründe auf, die die Armutslagen von Frauen trotz aller Gleichheitsbestrebungen strukturell wieder verschärfen. Die Ökonomin Esra Erdem analysiert, wie die Debatte über Gewalt bei Migrantinnen im Zusammenhang mit dem neuen Zuwanderungsgesetz steht. Migrantinnen müssen größere Hürden nehmen, wenn sie sich aus Gewaltverhältnissen befreien wollen.

Mitarbeiterinnen von Agisra, einer Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen aus Köln, zeigen dies an konkreten Beispielen aus ihrer Arbeit. Die Care Economy – der gesamte Bereich der SorgeÖkonomie – ist ganz besonders von Veränderungen betroffen.

Christa Wichterich, Publizistin und Gutachterin von WIDE (Women in Development Europe), zeigt am Bereich der Pflege beispielhaft, wie die Einschnitte dort eine Spirale neuer geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in Bewegung setzt.

Und Frauenprojekte aus dem Antigewaltbereich – LARA (LARA e. V. – Verein gegen sexuelle Gewalt, Berlin), Wildwasser (Verein gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen), die ZIF (Zentrale Information der autonomen Frauenhäuser) und der BFF (Bundesverband der Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen) – geben Einblicke in ihre Arbeit.

Illustriert wurden die Wortbeiträge in der gedruckten Version durch Arbeiten der in Japan geborenen Künstlerin Chiharu Shiota.

LARA möchte mit den vorliegenden Beiträgen Impulse für die weitere Diskussion geben.


» Ariane Brenssell für LARA (LARA e. V. – Verein gegen sexuelle Gewalt, Berlin)



GEWALTIGE REFORMEN - GEWALT GEGEN FRAUEN

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VON BIRGIT SAUER


Der Begriff Reform wurde zu einem Schlüsselwort neoliberaler Politikprojekte. Reform klingt harmlos. Doch was bisher wenig beachtet wurde: Die neoliberalen Reformen verstärken alte geschlechtsspezifische Gewaltstrukturen und bringen neue Formen von Gewalt hervor. Die aktuellen Veränderungen in Staat und Gesellschaft tragen dazu bei, dass die nie wirklich aufgehobenen geschlechtsspezifischen Ungleichheiten mit neuen Ausdrucksformen in den Alltag von Frauen zurückkehren.

Unter dem Label „Reform“ bauen Staaten soziale Sicherungssysteme systematisch ab: Beispielsweise werden Tarifverträge ausgehöhlt, Rentenzugänge erschwert, die Arbeitslosenhilfe wird abgeschafft, Arbeitsschutzrechte werden ausgehebelt und Arbeitszeiten ausgeweitet. So liefert man Menschen der Konkurrenz des kapitalistischen Marktes aus.

Selbstverantwortlichkeit und Selbstvermarktung ist das alles entscheidende Prinzip. Im Zuge dessen werden Frauen im neoliberalen Staatenmodell, wie alle anderen auch, zu „Unternehmerinnen ihrer selbst“ erklärt.

Dabei bleiben Frauen weiterhin mehrfach überbelastet. Denn die Reproduktionsarbeit wird in den neuen arbeitsmarktpolitischen Konzepten weitgehend negiert. Da Frauen in der Regel innerfamiliäre Arbeit wie auch Erwerbsarbeit leisten und damit doppelt belastet und vergesellschaftet sind, laufen sie also Gefahr, zum einen in prekäre private Verhältnisse und Abhängigkeiten zurückverwiesen zu werden und zum anderen durch nicht existenzsichernde Erwerbsarbeitsverhältnisse in ökonomische Krisen zu geraten. Geringfügiges Einkommen, Abhängigkeit von einem Familieneinkommen und mehrfache Arbeitsbelastung – zu der auch die Reproduktionsarbeit gehört – machen Frauen nicht nur besonders „sozial verwundbar“, sondern auch verletzungsoffener für physische Gewalt. Das Zusammenspiel von neoliberalen Gesellschaftsanpassungen und deren individuelle Auswirkungen vor allem auf die Lebensrealität einzelner Frauen ist strukturelle Gewalt. Den Frauen werden Lebenschancen vorenthalten.

Hinzu kommt, dass der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme negative Effekte auf die Sicherheit in den häuslichen vier Wänden hat. Da die Abhängigkeit von Frauen größer wird, werden sie oft in gewaltsame Beziehungen zurückgetrieben oder können sich erst gar nicht aus ihnen lösen, weil ihr (Über-)Leben sowie das ihrer Kinder aufgrund ihrer Erwerbsarbeit alleine nicht sicherbar ist. Studien aus den USA und Kanada, wie sie Morrow, Hankivsky und Varko sowie Brody vorgelegt haben, weisen dies nach. Aus ihnen geht hervor, dass prekäre Arbeitsverhältnisse Heirat wieder zur „bevorzugten Wahl“ für Frauen macht.

Parallel dazu wird der Sicherheitsbegriff neu definiert. Die soziale Sicherheit wird abgebaut und „innere Sicherheit“ mit polizeilichen und militärischen Lösungen gefordert. Begleitet wird dieser Prozess von einer neuen Unsicherheit.

Auch dieses neuliberale Verunsicherungsdispositiv hat frauenspezifische Dimensionen: Frauen werden im Sicherheitsdiskurs fast nur noch als Opfer gesehen. Schutz vor Gewalt wird dabei nicht als Grundrecht und als Stärkung von Frauen betrachtet, sondern als kontrollierendpolizeilicher Eingriff gestaltet. Dies zeigt sich sowohl bei sozialen Bedarfsprüfungsverfahren, aber auch beim Diskurs über Frauenhandel und Prostitution. Auch dies ist eine Form von struktureller Gewalt.

In der öffentlichen Wahrnehmung verschiebt sich der Fokus außerdem vornehmlich auf Kinder, alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen als Gewaltopfer. Der Begriff „häusliche Gewalt“ relativiert die Geschlechtergewalt und negiert die zugrunde liegenden Herrschaftsstrukturen zwischen Frauen und Männern als gesellschaftliches Problem.

Eine weitere Dimension gewalthaltiger neoliberaler Umdeutungen ist die Kulturalisierung von Gewalt, die Migranten Gewalttätigkeit zuschreibt und sie zu kulturell Anderen macht. Gewalt wird damit fast ausschließlich im Kontext von Tradition und Kultur reflektiert.

Die eigentlichen strukturellen Probleme, wie fehlende ökonomische oder aufenthaltsrechtliche Sicherheit, die zur Verwundbarkeit von migrierten Frauen beitragen, werden ausgeblendet.

Neoliberale Reformen sind so betrachtet ein Dispositiv staatlicher Sicherung und Verunsicherung, eine Mischung aus Disziplin und Kontrolle. Sie verknüpfen unter Geschlechterperspektive unterschiedliche Gewaltformen: Zum einen ist die Disziplinierung durch Überlastung mit Arbeit und mit den stetig steigenden Anforderungen des Überlebens zu nennen. Zum anderen entstehen neue Gewaltformen durch strukturelle Verunsicherung und das Vorenthalten von Lebenschancen.

Das dritte Gewalttableau entsteht durch kulturelles „Othering“. In seiner Gesamtheit bereitet dieses Dispositiv die Voraussetzungen für Verletzungsoffenheit, für Unsicherheit, für Abhängigkeit und keineswegs für das Empowerment von Frauen.


» Birgit Sauer ist Hochschullehrerin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien



Unter den EU-15-Staaten (den Mitgliedsländern vor 2004) rangiert Deutschland bei der Einkommensungleichheit auf Platz 15


40 % der bundesweit befragten Frauen haben seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt (durch Partner, Familienangehörige, Bekannte oder Fremde)


47 % der von sexueller Gewalt Betroffenen haben mit niemandem darüber gesprochen


24 % verdienen Frauen weniger als Männer in Deutschland


Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen, deren Geld auf dem Spiel steht, mehr zählen, als die Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht. Und so lange die betroffenen Gemeinschaften und die Menschen, deren Lebensgrundlagen auf dem Spiel stehen, nicht genauso miteinbezogen werden wie diejenigen, deren Geld auf dem Spiel steht, lassen Sie uns nicht von Demokratie reden.

» Medha Patkar, Aktivistin gegen Vertreibung und Großstaudammprojekte, Indien



WARUM SIND GERADE FRAUEN OFT ARM?

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VON GISELA NOTZ

Das bundesrepublikanische soziale Sicherungssystem ist ein Netz mit großen Maschen. Viele Frauen – aber auch zu viele Männer – stehen da, wo das Netz gerade ein Loch hat. In unserem reichen Land geht es allerdings nicht allen schlechter. Die Reichen können einen weiteren Anstieg ihres Vermögens und Einkommens verzeichnen. Fünf Billionen Euro Nettovermögen haben sie inzwischen angehäuft. Ein Zehntel der Haushalte verfügt über 47 Prozent des Reichtums. Reiche Frauen sind allerdings weltweit in der Minderzahl.

Unter den 400 reichsten US-Amerikanern, die 2004 von Forbes aufgelistet wurden, waren 51 Frauen. Ähnlich sah dies in England aus, hier waren unter den 1.000 reichsten Personen 78 Frauen. In Deutschland gehen die Statistiken vom Haushaltsansatz aus, so dass wir nicht wissen, wie das Vermögen zwischen Frauen und Männern verteilt ist.

Über die Vermögensverteilung in den Ländern des globalen Südens ist noch weniger bekannt. Oft ist Vermögen dort mit Landbesitz verbunden. Aktuelle Haushaltsschätzungen in Lateinamerika zeigen, dass in Brasilien unter den Besitzern von Land über 50 Hektar etwa 13 Prozent Frauen waren; den höchsten Wert hat Paraguay. Dort sind 27 Prozent der Landbesitzenden Frauen. In Kenia sind unter den registrierten Landbesitzenden laut Human Rights Watch von 2003 fünf Prozent Frauen. Der Reichtum hat ein Geschlecht. Die Armut auch.


ACHT Gründe, die aufzeigen, warum Frauen in Deutschland eher arm sind als reich:

1
Frauen werden arm, weil es immer noch eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gibt


Das in Deutschland verwendete Haushaltskonzept macht in der Regel Frauen zu Anhängseln von Männern. Das Ehegattensplitting oder die durch Hartz IV eingeführten Bedarfsgemeinschaften manifestieren die Abhängigkeit vom „Familienernährer“. Rollentausch wäre möglich, würde aber nichts an den die Ungerechtigkeit schaffenden Strukturen ändern.


2
Frauen werden arm, weil sie erwerbslos sind


Im April 2008 gab es vier Millionen registrierte Erwerbslose. Wird die Dunkelziffer hinzugerechnet, so fehlen fast 8 Millionen Arbeitsplätze.

Frauen sind im Vergleich zu ihrer Beteiligung am bezahlten Arbeitsmarkt sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern stärker als Männer von Erwerbslosigkeit betroffen.


3
Frauen werden arm, weil sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben


Langzeiterwerbslosigkeit führt zu Verarmung. Mit Inkrafttreten des ALG II, das seit 1. Januar 2005 an erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger- Innen gezahlt wird, erhalten viele Frauen kein ALG II, weil die finanziellen Leistungen nicht auf das Individuum ausgerichtet sind, sondern auf „Bedarfsgemeinschaften“.


Geschätzt wird, dass seitdem etwa 200.000 Frauen ihre Ansprüche auf Arbeitslosenhilfe ersatzlos verloren haben, weil sie mit einem Partner zusammenleben.


4
Frauen werden arm, weil sie mehr unbezahlte Arbeit leisten


Kindererziehungszeiten sind Armutsfallen. Sie halten Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Dasselbe gilt für Frauen, die Familienangehörige versorgen und pflegen.

Sie erhalten überhaupt keinen Lohn, sieht man einmal von völlig unzureichenden und für Männer unattraktiven Entgelten wie Erziehungsgeld und Pflegegeld ab. In den privaten Haushalten werden 70 Prozent des in Deutschland anfallenden Pflegebedarfs geleistet.

80 Prozent aller pflegenden Angehörigen in den Haushalten sind weiblich. Das Pflegegeld liegt je nach Pflegestufe zwischen 205 Euro und 665 Euro im Monat.


5
Frauen werden arm, weil sie in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten


Der jüngste Armutsbericht zeigt, dass die Zahl derjenigen, die arbeiten und trotzdem von Armut bedroht sind, in den Jahren 2002 bis 2005 von 35,5 Prozent auf 36,4 Prozent gestiegen ist. Parallel dazu ist der Zuwachs von Frauenarbeitsplätzen in den letzten Jahren fast ausschließlich auf Teilzeitarbeit, Ein-Euro-Jobs, Mini-Jobs und unabgesicherte Selbstständigkeit zurückzuführen. Um Haus-, Kinder- und Sorgearbeiten mit Berufsarbeit zu vereinbaren, nehmen vor allem Frauen Arbeitsverhältnisse mit kürzeren Arbeitszeiten in Kauf.

Dagegen haben 95 Prozent der abhängig beschäftigten Männer kein Vereinbarkeitsproblem.


6
Selbstständigkeit ist eine Armutsfalle für Frauen


Frauen werden immer wieder aufgefordert, sich selbstständig zu machen. Viele selbstständige Frauen erwirtschaften jedoch kein existenzsicherndes Einkommen.

Frauenbetriebe arbeiten meist mit geringem Kapitaleinsatz und Jahresumsatz, weit überwiegend im Dienstleistungsbereich und im Handel und haben nur wenig Beschäftigte. Die Ich-AG, mit deren Einführung Erwerbslose ihre Beschäftigungs- und Versorgungsperspektiven eigenständig regeln sollten, gibt es nicht mehr, wohl aber ähnliche Existenzgründungsprogramme. Frauenbetriebe halten sich länger als Männerbetriebe, weil sie mit weniger Geld auskommen.

Viele selbstständige Frauen bleiben jedoch abhängig von einem Haupternährer und sind auch im Alter arm. Verstärkt gilt das für die „mithelfenden Familienangehörigen“. Frauen in Landwirtschaft und Handwerk problematisieren diese Situation seit Langem. Ebenso wie die neuen selbstständigen Arbeitsverhältnisse bedeuten sie eine Zunahme der „Working Poor“.


7
Frauen werden arm, weil sie weniger verdienen als Männer


Dort, wo Frauen regulärer Lohnarbeit nachgehen, verdienen sie in Deutschland selbst auf gut bezahlten Arbeitsplätzen durchschnittlich etwa 25 Prozent weniger als Männer, die in vergleichbaren Positionen beschäftigt sind. Die seit Beginn der Industrialisierung andauernde Niedrigbewertung der Frauenarbeit hat sich bis heute kaum verändert und nach der Wiedervereinigung sogar verschlechtert. Die Diskriminierungen bestehen fort, obgleich seit 1955 „Frauenlohnabschlagsklauseln“ als gesetzeswidrig gelten. Dort, wo mehrheitlich Frauen arbeiten, wird die Arbeit insgesamt niedriger bewertet. Hier sprechen wir von einer mittelbaren Diskriminierung. Selbst viele Vollzeit arbeitende Frauen können von ihrem Lohn nicht leben.


8
Frauen werden arm, weil das Rentensystem an ihrer Lebensrealität vorbeigeht


Die Benachteiligung im Erwerbsleben wird im sozialen Sicherungssystem fortgeschrieben: Eine ausreichende Absicherung im Alter, bei Krankheit und Erwerbslosigkeit ist nur bei durchgehender Vollzeiterwerbstätigkeit und bei durchschnittlichem Einkommen gewährleistet.

Trotz formalrechtlicher Gleichstellung werden Frauen strukturell durch das soziale Sicherungssystem benachteiligt, weil die Anspruchs- und Leistungsvoraussetzungen an ihrer Lebensrealität vorbeigehen.


DREI Forderungen, wie der Armut zu begegnen ist.


Die herrschende Arbeitsteilung, die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen sowie die große Differenz in der Bewertung der bezahlten Arbeit führen dazu, dass Frauen besonders von Armut betroffen sind. Für die Zukunft wird weder das Verteilen der Armensuppe reichen, noch wird es ausreichen, mangelnde Gerechtigkeit nur zu beklagen. Vielmehr ist es notwendig, der zunehmenden Ungerechtigkeit durch politisch forcierte, strukturelle Verbesserungen zu begegnen.

ERSTENS
Wenn die Zahl derjenigen größer wird, die „arm trotz Arbeit“ sind, brauchen wir existenzsichernde Mindestlöhne.

Die flächendeckende Einführung derselben ist jedoch bis jetzt am Widerstand der CDU gescheitert.

ZWEITENS
Wenn Armut vor allem mit Erwerbslosigkeit zu tun hat, dann muss die gesellschaftlich notwendige – bezahlte und unbezahlte – Arbeit umverteilt werden. Ebenso ist es notwendig, eine Umverteilung des Reichtums zu erreichen. Mit einer gerechtigkeitsfördernden Steuerpolitik müssen Vermögende sowie Unternehmen und die Bezieher hoher Einkommen stärker an der Finanzierung beteiligt werden.

DRITTENS
Wenn Armut mit dem Abweichen von der sogenannten „Normalfamilie“ zu tun hat, wird es notwendig, dass alle Lebensformen gleiches Recht und gleiche Existenzbedingungen genießen.


» Gisela Notz ist Soziologin und Historikerin in Berlin



PFLEGEDUMPING MACHT PFLEGEBEDÜRFTIG

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VON CHRISTA WICHTERICH


Ein typisches Bild auf der Pflegestation eines Altenheims: Drei Pflegerinnen betreuen 40 „Pflegebedürftige“, waschen und windeln im Akkord, hetzen vom Gebisseinsetzen zur Medikamentengabe, von der Nahrungsmittelaufnahme zu den Ausscheidungen.

Meine Mutter ist neu auf der Station: „Ihre Mutter lässt sich Zeit beim Frühstücken“, wird mir gesagt. Das heißt: Es dauert, bis meine Mutter, die an Demenz erkrankt ist, ihr Brötchen geschmiert und verspeist hat. Am nächsten Tag bekommt meine Mutter ihr Brötchen geschmiert und in Portionshäppchen serviert. Sie wird gekämmt, ihr wird ein T-Shirt über den Kopf gezogen, weil sie lange braucht, um eine Bluse zuzuknöpfen, sie wird gewindelt, anstatt dass der Toilettengang mit ihr geübt wird. „Tut uns leid,“ sagen die Pflegerinnen, „wir haben nicht die Zeit.“ Abends um sieben Uhr werden alle auf der Station bettfertig gemacht, auch meine Mutter, die eigentlich noch nicht schlafen will. Alle müssen „gelagert“ sein, bevor die einzige Nachtschwester zur Schicht antritt.

Wenige Wochen später hat meine Mutter zunehmend Probleme, Knöpfe in Knopflöcher zu schieben und sich selbst ein Butterbrot zu schmieren, sie ist völlig inkontinent, wird immer unselbstständiger und noch verwirrter.

Seit Mitte der 1990er-Jahre unterwerfen Pflegemodule und Budgetierung die Pflege dem Diktat von Effizienz. Seitdem boomen private Anbieter. Dienstleistungen im Minutentakt sollen die Arbeit am Menschen rationell, sprich: schneller, gestalten. Zuwendung nicht inbegriffen. Nur wenn die Pflege „effizient“ ist, lassen sich mit ihr Geschäfte machen.

Effizienz- und Zeitdruck führen jedoch dazu, dass die alten Menschen zunehmend pflegeabhängiger gemacht werden. Die Hilfsbedürftigkeit wird antrainiert.

Demenzkranke verlernen selbst mechanische Tätigkeiten rasend schnell. Krankenkassen lehnen Reha-Anträge bei „Pflegebedürftigen“ ab: „Effizientes“ Pflegen ist billiger als gründliche Diagnostik, Ergotherapie und Krankengymnastik, heißt es in den Begründungen.

Die Kassen zahlen auch keine Hosen mit Hüftpolstern, die bei einem Sturz einen Oberschenkelhalsbruch verhindern könnten, sie zahlen keine Plastikunterlagen im Bett – mit der Folge, dass mehr Bettwäsche gewaschen werden muss. Diese Sparstrategien schaffen neue Risiken, Kosten und neuen Pflegebedarf. Den Preis zahlen die PflegerInnen und die Kranken.

Das Vertrackte an Sorgearbeit ist, dass sie niemals ganz in technischen Verrichtungen, Modulen und Zeittakten aufgeht. Das Menschliche steht quer zu den Marktprinzipien von Effizienz und Gewinn. Essen und Trinken im Turbotempo sind unmöglich, weil die Alten nicht so schnell kauen und schlucken können. So werden Magensonden und Dauerkatheter gelegt, Rollstühle ersetzen das Lauftraining.

Das Effizienzprinzip zielt darauf, dass weniger Pflegekräfte mehr Personen versorgen, sprich: mehr arbeiten müssen, ohne mehr bezahlt zu bekommen. Gleichzeitig jedoch schafft es auch mehr Pflegebedürftigkeit.

Personennahe Dienstleistungen wie die Altenpflege sind sozial typische Frauenarbeiten. Diese werden in unserer überalterten Gesellschaft immer wichtiger. Sie sind aber schlecht angesehen und miserabel bezahlt.

Viele ausgebildete Fachkräfte steigen nach rund 15 Jahren aus dem Beruf aus, weil sie von der psychischen und physischen Schwerstarbeit mit teils depressiven, teils aggressiven, meist dementen alten Menschen überfordert sind. Häufig schaukeln sich der Pflegestress und die Aggressivität von Demenzkranken gegenseitig hoch.

Bereits 2001 hat der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Versorgungsmängel in deutschen Heimen kritisiert: Wegen Personalmangels sind Menschen, die auf Pflege bzw. Assistenz angewiesen sind, unterernährt, ausgetrocknet, wundgelegen.

Es ist das System von Effizienz- und Spardiktat, das voller struktureller Gewalt und Verletzung von Menschenwürde steckt. Mehr Pflegekräfte, gute Qualifizierung, mehr Anerkennung, bessere Bezahlung – das müssten die „Alten“ und die Altenpflege unsere Gesellschaft wert sein.


» Christa Wichterich ist Publizistin und Gutachterin von WIDE (Women in Development Europe) in Bonn


Seite II Pflege- und Sozialdumping, Armut


132.600.000 Stunden arbeiteten im Jahr 2000 Frauen im Kanton Basel-Stadt unbezahlt in Haushalt, Kinderbetreuung und Pflege (andere diesbezügliche Erhebungen sind nicht bekannt)


Drei

Der Umbau der Krankenhäuser bringt einen Statusgewinn für das Management, einen Statusverlust für die ÄrztInnen und größere soziale Unsicherheit sowie zusätzliche Arbeitsbelastung durch Effizienzdruck für die Pflegekräfte mit sich. Von 1995 bis 2004 wurden 12 % der Pflegekräfte abgebaut. Dies geht aus einer Studie von Hagen Kühn u.a. vom Wissenschaftszentrums Berlin hervor (vgl. 2006). Die Studie weist nicht auf die geschlechtsspezifischen Dynamiken hin: Im Pflegedienst der Krankenhäuser, dem Bereich also, in dem der Effizienzdruck am größten ist, arbeiten mehr als 85 % Frauen.



44.000.000.000 Euro wäre die unbezahlte Pflegearbeit Angehöriger wert und sie entspräche 3 Millionen Arbeitsplätzen


75% der Frauen in Bayern verdienen unter 1.000 Euro monatlich


81% der über 80jährigen pflegebedürftigen Menschen sind Frauen



SONDERGESETZE UND PATRIARCHALE GEWALT

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VON AGISRA E. V.


Migrantinnen in Deutschland sind von politischen Reformen und zahlreichen Gesetzgebungen der letzten Jahre betroffen. Dazu gehören Sondergesetze für MigrantInnen und Flüchtlinge – wie die Residenzpflicht und das eheabhängige Aufenthaltsrecht. Außerdem sind Hartz IV und der Abbau sozialer Sicherungen im Erwerbsleben zu nennen. Hinzu kommen spezifische Lebenslagen von Frauen – ihre stärkere Betroffenheit von Armut, sexistischer Diskriminierung und sexualisierter Gewalt.

Die alltägliche Unterstützung und Begleitung von Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen zeigt, dass vor allem für die Frauen, die von Gewalt in Ehe, Partnerschaft und Familie betroffen sind, die Belastungen zunehmen und die Hilfsmöglichkeiten zugleich weiter eingeschränkt werden. Beispiele aus der Beratungspraxis des Vereins Agisra veranschaulichen, warum die gesetzlichen Verbesserungen für von Gewalt betroffene Frauen durch das Gewaltschutzgesetz von 2002 bei Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen nicht greifen können:

In § 56 Abs. 1 AsylVerfG, Räumliche Beschränkung, steht:

Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.“

Frau C. E. trifft dies wie folgt:

Frau E. lebt seit 22 Jahren mit einer Duldung in Deutschland. Ihr Aufenthaltsstatus ist bis heute ungeklärt, da die Ausländerbehörde Frau E.s Angaben zu ihrer Herkunft bestreitet und ihr vorwirft, sie wolle sich ihren Aufenthalt erschleichen. Duldung wird als Aussetzung der Abschiebung definiert. Für Frau E. bedeutet dies, dass sie seit 22 Jahren von Abschiebung bedroht ist und keine eigenständige Lebensperspektive entwickeln kann. Beratung sucht Frau E., weil sie aus einer Gewaltbeziehung geflohen ist, nachdem ihr Mann mehrfach Morddrohungen gegen sie ausgesprochen hat.

Inzwischen droht ihr die ganze Familie Gewalt und Mord an, wenn sie nicht zu ihrem Mann zurückkehre. Sie sucht eine sichere Unterkunft in einem anderen Bundesland. Dies ist ihr jedoch ohne die Einverständniserklärung der zuständigen Ausländerbehörde nicht möglich: Verlässt sie den ihr zugewiesenen Bezirk, um sich in Sicherheit zu bringen, so macht sie sich strafbar, weil sie gegen die mit der Duldung verbundene Residenzpflicht verstößt. Auch ist die Unterbringung in einem Frauenhaus zumeist nur dann gesichert, wenn vom zuständigen Sozialamt eine Kostenzusage vorliegt.

In § 31 Abs. 1 AufenthG, Eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten, steht: „Die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten wird im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, vom Zweck des Familiennachzugs unabhängiges Aufenthaltsrecht für ein Jahr verlängert, wenn 1. die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat [...].“

Frau F. G. trifft dies wie folgt:

Frau F. G. heiratet in ihrem Herkunftsland einen deutschen Staatsangehörigen und folgt ihm nach Deutschland. Hier angekommen enthält er ihr jegliche Informationen über ihre Rechte und Möglichkeiten vor. Sie ist Analphabetin und ohne Deutschkenntnisse; ihr Mann verweigert ihr die Finanzierung eines Deutschkurses, isoliert sie und hindert sie am Aufbau eines eigenen sozialen Netzes. Als Frau G. erkrankt, verbietet er ihr sogar, zum Arzt zu gehen, weil er den Eigenanteil an die private Krankenversicherung nicht entrichten will. Ein halbes Jahr nach der gemeinsamen Einreise will Frau G.s Ehemann die Scheidung einreichen, um eine andere Frau zu heiraten.

Damit wäre aber für Frau G. der Aufenthalt gefährdet, da sie die im Gesetz festgelegte Frist von zwei durchgängig in Deutschland verbrachten Ehejahren nicht erfüllt (§31 AufenthG). Bei einer Rückkehr in ihre Heimat befürchtet Frau G. erhebliche Diskriminierungen und Bedrohungen. Da ihre Familie mit einer Scheidung nicht einverstanden ist, würde sie als „ehrlos“ gelten und ausgestoßen.

Die einzige Möglichkeit für Frau G., eine von ihrem Mann unabhängige befristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, besteht in einer Anerkennung im Rahmen einer Härtefallregelung.

Diese jedoch ist eine Ermessensentscheidung und damit auch für das Innenministerium nicht bindend. Zudem liegt die – schwer zu erbringende – Beweislast bei der betroffenen Frau.

Sondergesetze wie die Residenzpflicht und das eheabhängige Aufenthaltsrecht verletzen für Migrantinnen, die in Gewaltbeziehungen geraten, das im Grundgesetz verankerte Recht auf Gleichberechtigung (§ 3 GG).


Deshalb fordern wir:

Erstens: Die Abschaffung der Residenzpflicht.

Zweitens: Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für EhegattInnen bei der Eheschließung.

Drittens: Gleichberechtigung und Schutz von Bürger- und Menschenrechten müssen in Deutschland auch für MigrantInnen gelten!


» Hannah Salome, Elvira Jakupovic und Behare Dinaj für Agisra e. V., Köln



HERAUSFORDERUNGEN AN FEMINISTISCHE POLITIK

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VON SILKE BÜTTNER UND EVA-K. HACK


Autonomie ist für die Autonomen Frauenhäuser der Bundesrepublik aus zwei Gründen unabdingbar.

Zum einen sehen sie darin die Möglichkeit, die Strukturen innerhalb der Zufluchtsorte selbstverwaltet zu gestalten. Zum anderen beinhaltet der Autonomieanspruch auch, aus diesem Freiraum heraus Einspruch gegen gesellschaftliche Machtverhältnisse oder Unterdrückungsstrukturen zu erheben und feministische Forderungen zu stellen.

Die staatlichen Interventionen der letzten Jahre zur Verbesserung des Schutzes von Frauen vor Gewalt zeigen, dass diese Einsprüche tatsächlich eine staatspolitische Resonanz gefunden haben. Es scheint eine Annäherung in den Positionen zu geben. Die einst so klar geglaubten Fronten zwischen den autonomen Feministinnen hier und dem Staat dort verschwimmen zusehends. Dennoch lassen sich diese Entwicklungen nicht als emanzipatorischer und feministischer Fortschritt feiern.

Zahlreiche frauen- oder genderpolitische Durchbrüche erweisen sich bei genauer Prüfung als überaus zwiespältig. So sind etwa im Gewaltschutzgesetz zum einen die Hürden für offizielle Maßnahmen zum Schutz der Gewaltopfer sehr hoch angelegt. Zum anderen haben die Täter bei Überschreitungen in der Regel strafrechtlich nichts zu befürchten. Parallel dazu wurden im Kindschaftsrecht Veränderungen vorgenommen, die mit den Schutznormen des Gewaltschutzgesetzes kollidieren und sie durch Umgangsund Sorgerechtsregelungen außer Kraft setzen können.

So müssen Mütter einem gewalttätigen Vater mitunter sofort nach der Trennung den Kontakt zu den Kindern ermöglichen, und zwar ungeachtet ihrer eigenen Gefährdung und ungeachtet der Anonymität ihres Schutzortes. RichterInnen und JugendamtsmitarbeiterInnen räumen bei derartigen Entscheidungen dem biologischen Vater bedingungslos das Recht auf Kontakt und Umgang mit dem Kind ein und weisen diesem eine höhere Priorität zu als dem Schutz von Mutter und Kindern vor weiteren gewalttätigen oder sexualisierten Angriffen.

Darüber hinaus steht der symbolischen Anerkennung der Antigewaltarbeit durch die Etablierung des Themas „häusliche Gewalt“ im politischen, wissenschaftlichen und institutionellen Raum auf der einen Seite eine dramatische Kürzung der Zuschüsse für viele Frauenhäuser auf der anderen Seite gegenüber. Zahlreiche Einrichtungen wurden in den letzten Jahren zur Aufgabe gezwungen oder werden über den Stellenabbau auf immer weiter schrumpfende Kernleistungen im Dienstleistungssektor reduziert.

Auch die in den Medien unter den Schlagwörtern „Ehrenmord“ und „Zwangsverheiratung“ hoch emotional geführte Debatte über die Situation von Frauen in und aus islamisch geprägten Ländern und die damit einhergehenden gesetzlichen Veränderungen vermitteln den Eindruck, als bestehe ein aufrichtiges Interesse an der Verbesserung der Situation von Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen – gewaltbetroffen oder nicht. Faktisch jedoch wurde das Unterstützungsnetz finanziell ausgetrocknet, und statt dauerhafter Migrationschancen wurde ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet, das vor allem auf die wirtschaftliche Verwertbarkeit von qualifizierten Fachmännern ausgerichtet ist.

Eine ähnlich paradox anmutende Resonanz hat die feministische Forderung nach den Bedingungen eigenständiger Existenzsicherung und Berufstätigkeit von Frauen gefunden. Flächendeckend sollen nun Krippenplätze eingerichtet werden, um Frauen – und mitunter auch Männern – die lang eingeforderte Entscheidungsfreiheit einzuräumen. Doch zu welchem Preis? Je ausgebauter das System ist, desto mehr gilt der Erwerbsarbeitszwang für alleinerziehende Frauen. Arbeitsagenturen verweigern selbst Frauen mit kleinen Kindern die Leistungen nach ALG I und II, wenn sie nicht bereit sind, einer Erwerbsarbeit – meist im neugeschaffenen Niedriglohnsektor – nachzugehen.

Das staatspolitische Echo auf feministische und antirassistische Kritik ist eben nur ein verzerrter Widerhall. Bei genauem Hinhören schwingen noch immer überkommene Verhältnisse und Vorurteile mit – bei gleichzeitiger Anpassung an die Erfordernisse einer neoliberalen Politik. Kritik zu üben, ist schwieriger geworden.

Dennoch ist auch heute noch ein genaues Ausloten gesellschaftlicher Innovationen und ihren Wechselwirkungen dringend notwendig.

Die gegenwärtigen Veränderungen zu verstehen, ist eine Herausforderung für eine gemeinsame feministische Theorie und Praxis.


» Silke Büttner ist Mitarbeiterin des 1. & 3. Frauenhauses Hamburg

» Eva-K. Hack ist Mitarbeiterin der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) und des Frauenhauses Kassel



ZUR KRITIK AN DER INTEGRATIONSDEBATTE

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VON ESRA ERDEM


Seit zwei Jahren gibt es ein großes öffentliches Interesse an der Problematik der Gewalt gegen Migrantinnen. Unter einigen Feministinnen herrscht aber mittlerweile tiefes Unbehagen über die politische Richtung der Debatte.

Nicht nur, dass die Chance vertan wird, basisdemokratische Netzwerke zur Selbstermächtigung von Migrantinnen auszubauen und interkulturelle Anti-Gewalt- Strategien zu etablieren. Ohne eigene Positionen in die Debatte einbringen zu können, sieht die Frauenbewegung auch dabei zu, wie ihre Anliegen zum Instrument restriktiver Migrationspolitik umgemünzt werden.

Konservative PolitikerInnen haben durch ihre eigensinnige Umdeutung von feministischen Analysen einen bemerkenswerten Coup gelandet.

Sie haben die Ursachen der geschlechtsspezifischen Gewalt in islamisch-patriarchalen Strukturen der Migranten-Community lokalisiert und diese Feststellung mit der Frage verknüpft, ob die Zuwanderung aus islamisch geprägten Ländern grundsätzlich wünschenswert ist.

Mit Soundbites wie „Ehrenmord“ und „Zwangsheirat“ ist es der CDU gelungen, den Ton in der Integrationsdebatte vorzugeben und Verschärfungen im Zuwanderungsrecht durchzusetzen. Als zudem prominente Migrantinnen wie Seyran Ates¸ und Necla Kelek ihr Vertrauen in das Zuwanderungsgesetz als Anti-Gewalt Strategie setzten, wurde die konservative Position politisch nahezu unanfechtbar.

So konnte die Bundesregierung etwa die Einführung des Sprachtests beim Ehegattennachzug dadurch begründen, Zwangsheiraten verhindern zu wollen.

Eine solch eng geführte Fokussierung auf Gewalt als islamisch-patriarchales Phänomen verschließt den Blick für einen Gewaltbegriff, der auch Entrechtungen einschließt, die dadurch entstehen, dass der Aufenthaltsstatus an die wirtschaftlichen Verhältnisse der MigrantInnen geknüpft wird.

Das Aufenthaltsgesetz sieht vor, dass eine Aufenthaltserlaubnis in der Regel nur dann erteilt oder verlängert wird, wenn der Lebensunterhalt ohne Bezug von Sozialleistungen gesichert ist.

Dieselbe Voraussetzung gilt für die Erteilung der (unbefristeten) Niederlassungserlaubnis und für die Einbürgerung.

Damit benachteiligt das Gesetz Migrantinnen mit niedrigem Einkommen.

Nach einer Trennung sind es oft Frauen, die aufgrund von prekären Beschäftigungsverhältnissen und familiären Verpflichtungen auf staatliche Hilfsleistungen angewiesen sind.

Sofern ihnen durch eine Trennung aufenthaltsrechtliche Sanktionen drohen, reduziert dies ihren Entscheidungsspielraum maßgeblich.

Aus der Berliner Beratungspraxis sind mehrere Fälle von alleinerziehenden Migrantinnen bekannt, deren Aufenthaltserlaubnis aufgrund ihres Bezugs von Arbeitslosengeld II nicht verlängert wurde.

Ihnen wurde für drei Monate ein temporärer Aufenthaltstitel, eine sogenannte Fiktionsbescheinigung, erteilt. Binnen dieses Zeitraums sollten sie nachweisen, dass sie sich selbst versorgen können.

Der Europäische Gerichtshof stärkte im Oktober 2008 die Rechte türkischer Staatsangehöriger und urteilte, dass sie nach fünf Jahren Aufenthalt den EU-BürgerInnen gleichgestellt sind und nicht aus ökonomischen Gesichtspunkten abgeschoben werden dürfen.

An der prekären Situation von MigrantInnen aus anderen Drittstaaten ändert das nichts.

Die deutsche Migrationspolitik bietet aus feministischer Perspektive deshalb mehrfach Grund zur Kritik: Sie schränkt die persönlichen Handlungsspielräume von Migrantinnen mit niedrigem Einkommen ein, indem sie aberkennt, dass die von Frauen unentgeltlich geleistete Familienarbeit einen gesellschaftlichen Mehrwert besitzt. Sie ignoriert das strukturelle Einkommensgefälle, das durch sexistische und rassistische Diskriminierungen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt verursacht wird. Sie trägt vielmehr dazu bei, dass migrantische Arbeitskräfte vermehrt auf den Niedriglohnsektor abgedrängt werden.

Und sie billigt, dass politische Teilhabe auch langfristig nach wirtschaftlichen Kriterien ausgerichtet ist und von daher für viele Migranten und Migrantinnen eingeschränkt bleibt. Denn es wird gerne übersehen, dass in Deutschland mindestens zwei Generationen von Menschen leben, die hier geboren wurden, aber zu arm sind, um deutsche Staatsbürger werden zu dürfen. Angesichts dieser Entrechtungen wird es Zeit, dass die deutsche Gesellschaft ihr Verständnis von Gewaltfreiheit und Gleichberechtigung überdenkt.


» Esra Erdem ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Aktivistin in der migrantischen Frauenbewegung, Berlin



Seite III Migrationspolitik, Autonome Frauenpolitik


70 % aller weiblichen Mordopfer weltweit werden von ihren männlichen Partnern ermordet


33.000.000.000 Euro betragen nach einer Studie in England 2004 die direkten und indirekten Kosten der Gewalt gegen Frauen durch Beziehungspartner


Feminismus hat im Laufe der Zeit viel bedeutet – auch viel Überflüssiges. Man kann ihn definieren als einen Standpunkt – in Bezug auf Gerechtigkeit, Würde, Freiheit –, den sich fast alle selbstständigen Frauen zu eigen machen würden, wenn sie nicht die Vergeltung fürchteten, die ein derart anrüchiges Wort regelmäßig provoziert.

» Susan Sontag (1933–2004) war Schriftstellerin in den USA




2/3 der Menschen in Mini-Jobs in Deutschland sind Frauen


81 % Frauen und 3% der Männer üben 2008 noch den Großteil der Kinderbetreuung aus


Seite IV UN-Frauenrechte, Alltagsarbeit gegen sexuelle Gewalt


FRAUENORGANISATIONEN KRITISIEREN ANTI-GEWALTPOLITIK VOR DER UNO

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VON ANITA ECKHARDT


Dieses Jahr haben sich das erste Mal mehr als 25 Frauenorganisationen aus Deutschland zusammengetan, um gemeinsam die Versäumnisse der Bundesregierung in Bezug auf die Abschaffung der Diskriminierung von Frauen aufzulisten. Sie erstellten den CEDAW-Alternativbericht. Am 15. Dezember wird er in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. CEDAW ist die „Convention on the elimination of all forms of discrimination against women“ – auf Deutsch: das internationale „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“.

Im Alternativbericht werden verschiedene Lebensbereiche von Frauen unter die Lupe genommen:

Gewalt gegen Frauen, die Diskriminierung auf dem Erwerbsarbeitsmarkt sowie im Gesundheits- und Pflegebereich sind einige Schwerpunktthemen des Alternativberichts.

Der Bericht der Nichtregierungsorganisationen (NGO) wird von den Vereinten Nationen (UN) angefordert. Er ist ein Arbeitsinstrument der UN, mit dem geprüft wird, ob die Bundesregierung ihren UN-Verpflichtungen beim Abbau geschlechtsspezifischer Gewalt nachkommt.

Die Konvention ist eine von sieben Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen.

Sie wurde 1979 im Rahmen der internationalen Frauendekade der UN verabschiedet. Sie stellt das wichtigste internationale Instrument zur Stärkung und Verwirklichung von Frauenrechten dar. Bis heute haben insgesamt 185 Staaten die Konvention unterzeichnet.

Die Unterzeichnerstaaten sind aufgefordert, alle vier Jahre die staatlichen Maßnahmen zur Umsetzung der CEDAW nachzuweisen. In der Bundesrepublik ist CEDAW seit 1985 unmittelbar geltendes Recht.

Im aktuellen Alternativbericht fordern die bundesdeutschen Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe etwa, dass für das Recht auf uneingeschränkten Zugang zu Unterstützungseinrichtungen für Frauen mit Behinderungen, die Gewalt erfahren haben, auch die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen. Sie machen zudem deutlich, dass Frauenhäuser und Beratungsstellen zu oft von Kürzungen und Schließungen bedroht sind und dass es daher bessere gesetzliche Grundlagen zu deren Finanzierung geben muss.

Die Beispiele stehen stellvertretend dafür, dass in der Bundesrepublik zwar Rechte eingeräumt werden, die staatlichen Gelder für ihre Umsetzung jedoch nicht unbedingt zur Verfügung stehen.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen vielfach Lücken.

Darauf weisen die Alternativberichte hin. Die UN prüft diese, gibt Empfehlungen und fordert die Regierung auf, dem etwas entgegenzusetzen.

Manchmal hilft es schon, die CEDAW als Druckmittel zu benutzen.

So hat sich etwa Ban Ying, die Berliner Koordinations- und Beratungsstelle für Frauen aus Südostasien an das CEDAW-Komitee gewandt. Bereits das Bekanntwerden der Initiative führte dazu, dass mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes alle DiplomatInnen, die in der Bundesrepublik Hausangestellte beschäftigen, diesen einen Mindestlohn bezahlen und Arbeitsverträge schriftlich fi xieren müssen. Vorher konnten sie ihren Immunitätsstatus als Diplomat- Innen gegenüber ihren privaten Angestellten ausnutzen.

Da es bei den Empfehlungen der NGOs keine Sanktionsmöglichkeiten gibt, wenn die Regierungen sie nicht erfüllen, setzen die Frauenorganisationen auf die Öffentlichkeit. Und sie setzen darauf, dass ein von den UN überwachter Dialog über die Umsetzung der Frauenrechts- Konvention Druck im andauernden Kampf gegen Gewalt an Frauen erzeugt. Im Januar 2009 schon muss sich die Bundesregierung beim CEDAW-Ausschuss der UN zu den Forderungen der Frauenorganisationen verhalten.


Weitere Informationen: www.cedaw-alternativbericht.de


» Anita Eckhardt für den Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff)


NACHFRAGE ZU CEDAW


"THEMEN ZU SETZEN IST EINE CHANCE"

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Wenn Staaten die Empfehlungen des CEDAW-Ausschusses nicht umsetzen, folgen daraus keine unmittelbaren Konsequenzen. Was gibt es dennoch für Chancen?


Claudia Lohrenscheit:

Die Bundesregierung ignoriert bestimmte Themen. Sie hat sich bislang zum Beispiel zum Thema Menschenrechtsverletzungen an intersexuellen Personen auf parlamentarische Anfragen hin kaum geäußert. Nachdem intersexuelle Frauen jetzt einen CEDAWAlternativbericht vorgelegt haben, dürfen wir gespannt sein, ob die Bundesregierung darauf reagiert.

Denn am Thema Intersexualität zeigt sich, wie gewalttätig die Norm Geschlecht selbst wirkt. Innerhalb des Gesundheitssystems werden intersexuelle Menschen operiert, um in eins der beiden Geschlechter zu passen. Eine sehr kleine Selbsthilfegruppe von XY-Frauen hat diesen Alternativbericht verfasst, der bereits Mitte Juli in New York und im Dezember in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Wenn es einer NGO gelingt, ein Thema zu setzen, so hat das Rückwirkungen auf das gesamte Menschenrechtsschutzsystem, weil man sich immer wieder darauf beziehen kann.“


» Claudia Lohrenscheit ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin


Link: intersex.shadowreport.org




SENSATION STATT TABU?

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INTERVIEW: WALTRAUD SCHWAB


»Frau Hävernick, Sie arbeiten seit 20 Jahren beim Verein Wildwasser zu sexuellem Missbrauch. Einerseits ist Missbrauch heute kein Tabu mehr, andererseits ist die Gesellschaft sehr stark sexualisiert. Ist die Sexualisierung eine Gegenreaktion auf den Tabubruch?«

Martina Hävernick: Soweit würde ich nicht gehen. Weil heute sexuelle Gewalt aber ein öffentliches Thema ist, ist die Messlatte der Entrüstung sehr hoch. Es muss spektakulär sein, es müssen massive Geschichten sein, es muss schon Amstetten sein, damit sich Politik und Medien damit beschäftigen.

Was täglich in den Familien an subtiler Gewalt und Missbrauch geschieht, das findet kaum Gehör in der Öffentlichkeit. Und noch etwas kommt verschoben daher.

»Was?«

Der Blick auf die Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Durch die Medienberichterstattung werden alle als Traumatisierte wahrgenommen. Traumatisierung, im Fachjargon „posttraumatische Belastungsstörung“ ist eine psychiatrische Diagnose. Da wird also nicht mehr das Opfer einer Gewalttat gesehen, sondern ein kranker Mensch. Natürlich wird mit der Diagnose auch anerkannt, dass sexuelle Gewalt Folgen hat.

»Folgen, die Sie in der Beratung auffangen. Wie wirken sich dabei die sozialen Reformen und die gleichzeitige Verknappung der Zuschüsse auf Ihre Arbeit aus?

Frauen, die jetzt in die Beratung kommen, haben oft einen längeren Beratungsbedarf als früher. Meist ist die Krise, in der die Frauen stecken, noch verbunden mit Arbeitslosigkeit, Hartz-IV-Bezug oder auch Problemen im Job. Da gibt es aber viele Zusammenhänge.

»Welche?«

Wenn ich erlebt habe, dass ich einem Missbraucher ausgeliefert bin und das Gefühl wieder erlebe, wenn ich vor einem Chef oder Sachbearbeiter sitze, dann setzt das alte Mechanismen in Gang. Kommt hinzu, dass wir zunehmend beobachten, dass Frauen aufgrund der Gewalt, die sie erlebt haben, krank werden.

Die Gesundheitsreform hat das psychotherapeutische Angebot aber sehr eingeschränkt.

»So schwer ist es doch nicht, eine Psychotherapie bewilligt zu bekommen.«

Das erlebe ich anders. Frauen, die eine stationäre Traumatherapie suchen, die auf jemanden mit sexuellen Gewalterfahrungen zugeschnitten ist, müssen mit langen Wartezeiten rechnen. Ganz zu schweigen von Plätzen auf Frauenstationen. Zusätzlich aber geht es im Rahmen von stationären Traumatherapien immer häufi ger nur noch um eine Stabilisierung der Betroffenen und nicht um eine therapeutisch begleitete Aufarbeitung des Missbrauchs.

Nach der Stabilisierung werden sie entlassen und landen dann wieder bei uns.


» Martina Hävernick, 46, Wildwasser Berlin.


Zum Weiterlesen:

taz: "Es wird nie so sein als waere mir das nie passiert"



ARBEIT GEGEN SEXUELLE GEWALT: IMMER IN BEWEISPFLICHT!

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VON ARIANE BRENSSELL


Meine Kollegin Sabine G. erzählt auf Geburtstagen oft nicht ganz genau, wo sie arbeitet. „In einer Beratungsstelle“, sagt sie. In was für einer, behält sie für sich, „weil sonst das Schweigen, das folgt, so schwer lastet“. Meine Mutter wiederum sagt zu ihren Bekannten, wenn diese nach meinem Beruf fragen: „Sie arbeitet mit dem Elend in dieser Welt.“ Und in den Redaktionen der Zeitungen, da heißt es, dass keiner mehr die Geschichten von Opfern lesen wolle.

Vergewaltigung, das lässt sich aus diesen Antworten lernen, haften noch immer Vorurteile und Tabus an. Anders aber als bei Opfern von Katastrophen wie einem Erdbeben oder Tsunami bleiben diese vielfach an den von sexueller Gewalt Betroffenen hängen.

Sexuelle Gewalt erschüttert das Vertrauen, das Lebensgefühl, die Wahrnehmungen derer, die sie erleben. Doch die Frauen haben sie überlebt. Sie sind mit den Folgen konfrontiert und sie sind dabei, diese zu verarbeiten.

Die Folgen spüren sie innen und auch außen. Innen sind es die quälenden Bilder der erlebten Gewalt. Es sind wiederkehrende Gefühle von Ohnmacht, Wut, Schuld und Scham. Es sind körperliche Schmerzen, Ängste, Schlafstörungen. Außen wiederum, da sind es die Arbeitgeber, die eigene kleine Firma, die Job-Center, die Angehörigen, die Polizei, die Gerichte, die Krankenkassen, der oder die freien Täter, häufig auch Geldsorgen, Vorurteile und Rechtfertigungsdruck, womit sie zurechtkommen müssen.

Fatal ist das Zusammenspiel. Um vor Gericht Recht zu bekommen, ist die genaue und minutiöse Schilderung der Ereignisse erforderlich. Dabei kommen die Erinnerungen zurück und oft gehen sie danach nicht wieder weg. Die Schilderung muss glaubwürdig sein, kohärent und ohne Widersprüche. Und dass Todesangst Verwirrungen und Gedächtnislücken auslösen kann, steht oft der Beweispflicht entgegen.

Zwar gibt es viele Kliniken und TherapeutInnen. Doch längst nicht alle sind geschult im Umgang mit sexueller Gewalt. Bei denen, die es sind, gibt es meist lange Wartelisten.

Das heißt: suchen, Absagen hinnehmen, Termine machen, Wartezeiten überbrücken, Anträge schreiben, Gutachten von Ärzten einholen und dabei immer wieder das Anliegen erzählen: Das kann retraumatisieren. Auch Existenzfragen fallen zunehmend ins Gewicht.

Eine Pause wäre wichtig. Wie aber kann das gehen? Die Maßnahme von der Arbeitsagentur ablehnen? Sich dem Arbeitgeber oder dem Amt offenbaren und offen über die Vergewaltigung reden? Krankschreibung bei der Arbeitsmarktlage? Und was ist, wenn eine Krankschreibung nicht reicht?

Es ist eine ganz eigene Aufgabe geworden, die spezifischen Bedürfnisse von Frauen in Notsituationen überhaupt gegenüber Ämtern und Entscheidungsträgern zur Geltung zu bringen. So wird es immer öfter erforderlich, in Steinbrucharbeit die dichte Wand anonymer Call-Center von Job- Centern und Krankenkassen zu durchdringen, denn diese sehen nur standardisierte Antworten und Lösungen vor. Immer öfter müssen deshalb Widersprüche für Ämter oder Krankenkassen geschrieben werden, damit überhaupt Einzelfall- Entscheidungen erkämpft werden können. Wenn eine Frau umziehen muss, weil der Täter ihren Wohnort kennt, bedeutet das bei Hartz-IV-Bezug erst einmal einen harten Kampf mit dem Job- Center. Schnelle Veränderungen, die für die Stabilisierung nötig wären, sind so schwer durchzusetzen.

Der Sozialabbau und die neoliberale Umstellung der Gesellschaft auf „Selbstverantwortlichkeit“ machen soziale Probleme zu individuellen Leiden. Sie erhöhen den Leistungsdruck und die Notwendigkeiten, sich zu rechtfertigen. Parallel werden die Unterstützungsnetzwerke ausgedünnt, die eh schon knapp ausgestatteten Projekte geschlossen oder Gelder gekürzt.

Die Anti-Gewalt-Projekte, die aus der Frauenbewegung entstanden sind, verankern den Grundsatz, dass Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich bedingt ist, in der frauenspezifischen Beratungsarbeit.

Bei LARA heißt dies: Wir sind parteilich, wir beraten kostenfrei und auf Wunsch anonym: „Jede Frau hat ein Recht auf Unterstützung nach einer Vergewaltigung.” Es soll keine Nachweispflicht über Bedürftigkeit geben. Jeder Frau werden die Gründe für ihre Wahrnehmungen und Wahrheiten zugestanden. Jede Frau sollte Zeit haben, um ihren Weg und ihre Mittel zu finden, die Gewalt zu verarbeiten. Solche Arbeitsprinzipien berücksichtigen die strukturellen Gewaltverhältnisse und die Widersprüchlichkeit weiblicher Lebenszusammenhänge.

Die amerikanische Autorin Marge Piercy entwirft in ihrem Roman „Frau am Abgrund der Zeit“ eine Gesellschaft, in der es Orte und Zeiten für diejenigen gibt, die eine Auszeit brauchen. Bedürftigkeit ist hier keine Schande, Unterstützung zu brauchen, ist kein Makel. Zeit zum Verarbeiten und dabei versorgt zu werden, ist Grundrecht, zumal nach einer unfassbaren Erschütterung wie nach einer Gewaltbeziehung, einem Missbrauch oder einer Vergewaltigung.

Leider ist das nur Social Fiction. Die Realität ist oft weniger großzügig.

In unserer Gesellschaft gibt es trotz Gesetzen und politischen Maßnahmen weiterhin viele sogenannte Versorgungslücken.

Punktuell werden sie vermerkt, doch ein gesamtgesellschaftliches Gewicht – wie etwa eine Finanzkrise – erhalten sie nicht. Der Umgang mit sexueller Gewalt erfordert daher wieder neue Visionen. Es reicht nicht aus, sexuelle Gewalt als individuelle Katastrophe zu betrachten, es geht um gesellschaftliche Wege aus der Gewalt. Neoliberale Maßstäbe müssen dabei auf den Prüfstand gestellt werden.


» Ariane Brenssell arbeitet bei LARA, Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen in Berlin



IMPRESSUM

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Herausgegeben von:

LARA (Tel. Berlin 030/ 216 88 88)
– Verein gegen sexuelle Gewalt an Frauen e. V. | Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen, Fuggerstraße 19, 10777 Berlin, www.laraberlin.de | V.i.S.d.P. Ariane Brenssell

Alle Zahlen und Zitate sind belegt unter » www.lara-berlin.de/publikationen

Spendenkonto » Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 100 205 00, Kontonummer 3 266 801, Spendenquittung und Infos auf Anfrage

unter Telefon (0 30) 2 16 30 21

Konzeption » Ariane Brenssell

Redaktion » Ariane Brenssell, Christiane Leidinger, Waltraud Schwab

Gestaltung der gedruckten Ausgabe » Yvonne Hagenbach [Visuelle Konzepte], Berlin, www.yvonnehagenbach.de

Bilder » Chiharu Shiota, VG Bild-Kunst

Fotos » Adrienne Gerhäuser, Sunhi Mang, Kenji Taki Gallery


LARA e. V. dankt sehr herzlich:

Für Zusammenarbeit, Diskussion und Ideen: allen Autorinnen, sowie Christine Hahn, Lisa Müller, Adrienne Gerhäuser und Rosemarie Nünning

Für Unterstützung und finanzielle Förderung: filia, Goldrausch, Verein der Bundestagsfraktion Die Linke, Viele e.V. und allen privaten Spenderinnen.



8 % der Opfer erstatteten 2003 nach körperlicher/ sexueller Gewalt mit Verletzungsfolgen in Partnerschaften Anzeige

56-80% der Gewaltbetroffenen haben langfristige psychische Folgebeschwerden wie Schlafstörungen, Ängste, Depressionen, Flashbacks usw.



4762.13200.780.000

4.500.20.06082.000.000

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Besonders hohe Dunkelziffern werden angenommen bei sexueller Gewalt an Frauen mit Behinderungen, in Ehen und Partnerschaften, in Pflegeabhängigkeiten, gegen Lesben/Schwule/Transgender und Flüchtlingsfrauen...



0,0797 % beträgt der Anteil des Frauenhaushaltes 2008 in Berlin