Europäische Soziale Consulta –
Ein Hearing in Tübingen als konkretes Beispiel, wie eine lokale Befragung aussehen kann
Verschiedene politische Gruppen und soziale Initiativen in Tübingen/Reutlingen haben im Februar 2002 ein Hearing organisiert, über die lokalen Folgen dessen, was gemeinhin als „Globalisierung“ bezeichnet wird.
Der folgende Text beschreibt die Ziele des Hearings, die „Methode“, die eingesetzt wurde, die Fragen, die gestellt wurden und umreißt die Ergebnisse. Die Beschreibung kann vielleicht als Beispiel dienen für andere Gruppen, die darüber nachdenken, einen (europäischen) sozialen Consulta-Prozess auf lokaler Ebene in ihrer Stadt oder Region zu beginnen. (vgl. http://www.europeanconsulta.org).
Das Hauptziel und die Idee hinter unserem Hearing war es, eine Diskussion zwischen lokalen Gruppen, sozialen Initiativen und Einzelpersonen über Globalisierung zu beginnen, um zu erkennen, dass wir alle davon betroffen sind und dass es allen Gruppen nützt, sich zusammenzuschließen, ein Netzwerk
aufzubauen, Themen zu diskutieren, Aktionen zu planen. Und dies in dem Sinne zu tun, dass allen ihre Eigenständigkeit erhalten bleibt, dass sich unsere
gemeinsame Stärke aus unserer Vielfalt und dem gegenseitigen Respekt für unterschiedliche Strategien und Aktionen ergibt.
Die Vorbereitungsgruppe des Hearings formulierte sechs Fragen, die an über 60 Gruppen und Initiativen in Tübingen/Reutlingen geschickt wurden (Tübingen
hat etwa 80 000 EinwohnerInnen, Reutlingen 120 000). Auf einem ersten Treffen mit interessierten Gruppen wurde beschlossen, ein Hearing zu organisieren, bei dem allen Gruppen die Möglichkeit geboten werden sollte, ihre Antworten zu präsentieren und wo die Gründung eines lokalen „social forum“ als außerparlamentarische Plattform diskutiert werden sollte.
Die Fragen/Themen, die den Gruppen zur Vorbereitung gegeben wurden:
- 1) Gruppenvorstellung: Name, Arbeitsfeld der Organisation, des Vereins, des Verbands, der Gruppe bzw. Initiative.
- 2) Globalisierung konkret: Welche unmittelbaren und direkten Erfahrungen habt Ihr/ haben Sie mit den Konsequenzen der derzeit vorherrschenden neoliberalen Politik der totalen Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche (Deregulierung, Privatisierung, Umstrukturierung, Kürzungen von Mitteln, Tagessätzen, Erhöhung von Umlagen, Eigenbeteiligungen, Streichung von Leistungen usw.)?
- 3) Sichtbare und versteckte Konsequenzen: Welche praktischen Auswirkungen hat die Ökonomisierung in Eurem/ Ihrem Arbeitsfeld? Was ist davon öffentlich sichtbar? Was bleibt unsichtbar?
- 4) Gegenmaßnahmen im eigenen Arbeitsfeld: Wie geht Eure/ Ihre Gruppe/ Initiative mit den Konsequenzen um? Welche Strategien werden diskutiert? Wie sieht die tägliche Auseinandersetzung damit aus? Was sind die politischen Mittel, mit der Eure/ Ihre Gruppe/ Initiative dabei arbeitet?
- 5) Konkrete Utopie: Unabhängig von den gegenwärtigen vorherrschenden ökonomischen, politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen: Wie sehen Eure/ Ihre Forderungen, Vorstellungen, Hoffnungen und Ideen für eine in Euren/ Ihren Augen sinnvolle und nützliche Arbeit aus, die auf bessere Lebensbedingungen und Lebensqualität im besonderen und eine lebenswerte Gesellschaft im Allgemeinen verweisen?
- 6) Globalisierung von unten: Worin seht Ihr/ sehen Sie eine mögliche gemeinsame Handlungsperspektive, sich gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche lokal zur Wehr zu setzen?
25 Gruppen und Initiativen beantworteten die Fragen und präsentierten ihre Antworten bei einem eintägigen Treffen, dem Hearing. Das Spektrum der beteiligten Gruppen war sehr breit: Gewerkschaften, antirassistische Gruppen, feministische Gruppen, autonome Gruppen, selbstverwaltete Einrichtungen und Kollektive, AIDS-, Behinderten-, und Bioethik-Gruppen, usw. um ein paar Beispiele zu geben.
Das Programm des Hearings bestand aus einem Vortrag („Ökonomische Globalisierung und staatliche Handlungsfähigkeit“), gefolgt von dem tatsächlichen Hearing, mit verschiedenen Präsentationen der Gruppen in einer kurzen und selbstgewählten Form (dabei war ein Zeitlimit vorgegeben), und endete mit einer offenen Diskussion.
Die Hälfte der Präsentationen wurde mündlich gehalten, die anderen wurden als Texte an einer Pinnwand gezeigt. Nach dem Hearing wurden alle Beiträge in einem Reader zusammengefasst (pdf-Version unter: http://www.social-forum.de).
Die Antworten der Gruppen machten deutlich, dass alle in ihrem täglichen Leben von neoliberaler Politik betroffen sind und dass sich alle wünschen, zusammenzuarbeiten. Am Ende des Hearings wurde daher die Gründung des social forum Tübingen/Reutlingen beschlossen. Deutlich wurde dabei auch die
Wichtigkeit des Austausches zwischen Gruppen und Initiativen um politische Analysen zu schärfen und konzentrierte Aktionen und Projekte zu starten.
Seitdem hat sich das Plenum fünfmal getroffen, verschiedene Arbeitsgruppen wurden gegründet (eine beschäftigt sich mit dem sozialen Consulta-Prozess):
Tübingen hat eine seiner größten und buntesten 1. Mai-Demonstrationen erlebt und Mitte Oktober hat die erste Volx-Uni stattgefunden.
Die Grundlagen der Zusammenarbeit im social forum sind: Betonen der gemeinsamen Interessen statt sich abzugrenzen oder sich spalten zu lassen,
jede Gruppe behält ihre Selbständigkeit, offen zu sein für Diskussion und Kritik (siehe http://www.social-forum.de/modules.php?op=modload&name=sfcontent&file=index&sec=1&id=3).
Wir denken, dass das Formulieren von Fragen und das Herantreten an Gruppen (in unserem Fall nicht an die „normale Bevölkerung“ sondern an bereits
aktive Gruppen und soziale Initiativen) und diesen einen Raum zur Verfügung zu stellen, um ihre Antworten und Ideen zu präsentieren, ein gutes Beispiel
für eine „soziale Consulta“ ist. Was uns dabei sehr geholfen hat waren die vielen informellen Kontakte zwischen Gruppen und Initiativen in unserer Region – das reine Versenden der Fragebögen hätte nicht zu einer so breiten Beteiligung und einem so großen Interesse geführt, am Hearing teilzunehmen und den social forum-Prozess zu beginnen. Wir denken, dass jede „Consulta“ der spezifischen lokalen Situation und den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen angepasst sein muss. Und das Vorgehen muss sehr offen, ehrlich und verlässlich sein.
Consulta promoter-Gruppe Tübingen/ Reutlingen, Oktober 2002
Consulta-tuebingen @ gmx.net
Social-forum Tübingen/ Reutlingen: http://www.social-forum.de
Das social forum Tübingen/Reutlingen ist die Plattform der globalisierungskritischen Gruppen und Initiativen in der Region Tübingen/Reutlingen. Im social forum vernetzen sich seit Frühjahr 2002 gewerkschaftliche Gruppen, Sozialinitiativen sowie Gruppen und Einzelpersonen aus der Friedens-, Ökologie-, Anti-Rassismus-, Frauen-, Internationalismus- sowie herrschaftskritischen Bewegung. Das social forum versteht sich als Teil der weltweit wachsenden Bewegung gegen die neoliberale Form der Globalisierung und versucht durch Kooperation und Austausch von Gruppen, konkret vor Ort Möglichkeiten für ein besseres Leben und eine gerechte Welt zu finden und zu erstreiten. Das Plenum des social forum trifft sich alle 4-6 Wochen. Die Teilnahme steht allen Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen offen, die sich mit den Ideen des social forum verbunden fühlen.