euronews, 22.03.2013
Transskript
der Rede von Abdullah Öcalan
Aufgrund der Tragweite
von Öcalans Rede stellt Euronews das gesamte Rede-Transskript ins Netz
Ich gratuliere zum Newrozfest
der Freiheit der Unterdrückten.
Ich grüße die Völker des Mittleren Ostens und Zentralasiens, die Newroz,
den Tag des Erwachens und des neuen Lebens, gemeinsam und in großer Zahl
feiern.
Gegrüßt seien die Geschwistervölker, die Newroz, das Licht und den Beginn
einer neuen Ära, mit Begeisterung und in demokratischer Toleranz feiern.
Gegrüßt seien alle, denen demokratische Rechte, Freiheit und Gleichheit
auf ihrer langen Reise den Weg weisen. Euch grüßen von den Hängen von
Zagros und Taurus, aus den Tälern von Euphrat und Tigris die Kurden, eines
der ältesten der antiken Völker, das in Anatolien und Mesopotamien die
Landwirtschaft, die dörfliche und die städtische Zivilisation hervorgebracht
hat.
Die Kurden haben mit Angehörigen anderer Völker, Religionen und Konfessionen
Tausende von Jahren freundschaftlich und geschwisterlich zusammen in diesen
Zivilisationen gelebt und sie gestaltet. Für sie sind die Flüsse Euphrat
und Tigris die Geschwister von Sakarya und Mariza, die Berge Ararat und
Dschudi sind die Freunde von Pontus und Erciyes. Die Tänze Halay und Delilo
sind die Verwandten von Horon und Zeybek.
Diese großen Zivilisationen, diese verschwisterten Gemeinschaften wurden
durch politischen Druck, Interventionen von außen und Partikularinteressen
gegeneinander ausgespielt. Ordnungen wurden errichtet, die nicht auf Recht
und Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit aufgebaut waren. Die Eroberungskriege
der letzten 200 Jahre, die imperialistischen Interventionen des Westens
und repressives und ignorantes Denken hatten zum Ziel, arabische, türkische,
persische und kurdische Gemeinschaften durch Mikro-Nationalstaaten, künstliche
Grenzen und künstliche Probleme zu ersticken.
Die Zeit der Kolonialregime, des repressiven und ignoranten Denkens ist
abgelaufen. Die Völker des Mittleren Ostens und Zentralasiens wachen endlich
auf. Sie wenden sich einander und ihren Wurzeln zu. Sie wollen nicht mehr
verblendet und in Kriegen aufeinander gehetzt werden.
Die Menschen, vom Feuer von Newroz ergriffen, füllen zu Hunderttausenden
und Millionen die Plätze und wollen endlich Frieden, Geschwisterlichkeit
und eine Lösung.
Durch diesen Kampf, der mit meinem individuellen Aufstand gegen die Ausweglosigkeit,
in die ich geboren wurde, gegen Ignoranz und Knechtschaft begann, wollte
ich ein Bewusstsein, ein Denken, einen Geist gegen jede Art von Zwang
schaffen. Heute sehe ich, wie weit dieser Aufschrei geführt hat.
Unser Kampf war niemals gegen ein Volk, eine Religion, eine Konfession
oder Gruppe gerichtet, das könnte niemals der Fall sein. Unser Kampf richtete
sich gegen Unterdrückung, Unwissen, Ungerechtigkeit und erzwungene Rückständigkeit,
gegen alle Formen von Repression und Knechtschaft.
Heute wachen wir in einer neuen Türkei, einem neuen Mittleren Osten auf
und sehen in eine neue Zukunft.
Jugend, die meinem Ruf folgen will; Frauen, die meine Botschaft in ihr
Herz lassen; Freunde, die meine Worte respektieren; Menschen, die mich
anhören wollen:
Heute beginnt einen neue Ära.
Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase
der demokratischen Politik.
Es beginnt eine Ära, die sich vorwiegend um Politik, Soziales und Wirtschaft
dreht; es entwickelt sich ein Denken, das auf demokratischen Rechten,
Freiheit und Gleichheit beruht.
Wir haben Jahrzehnte unseres Lebens für dieses Volk geopfert und einen
großen Preis gezahlt. Keines dieser Opfer, keiner dieser Kämpfe war umsonst.
Die Kurden habe zu sich selbst zurückgefunden und ihre Identität zurückgewonnen.
Wir sind an dem Punkt zu sagen: Die Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken
und Politik sollen sprechen. Das Paradigma der Moderne von Ignoranz, Verleugnung
und Ausgrenzung ist zerschlagen. Ob Türken, Kurden, Lasen oder Tscherkessen
– die Menschen bluten und mit ihnen blutet das Land.
Vor Millionen von Zeugen, die diesen Aufruf hören, sage ich: Endlich beginnt
eine neue Ära, nicht die Waffen, sondern die demokratische Politik wird
im Vordergrund stehen. Die Zeit ist gekommen, unsere bewaffneten Kräfte
hinter die Grenze zurückzuziehen.
Ich bin der Überzeugung, dass alle, die an unsere Sache glauben und mir
vertrauen, in höchstem Maße auf den sensiblen Charakter dieses Prozesses
Rücksicht nehmen werden.
Dies ist kein Ende, sondern ein Neubeginn. Der Kampf ist nicht zu Ende,
sondern ein neuer, anderer Kampf beginnt.
Ethnisch reine und mono-nationale Gebiete zu schaffen, ist eine unmenschliche
Praxis der Moderne, die unseren Wurzeln und unserer Identität widerspricht.
Um ein Land zu schaffen, das der Geschichte Kurdistans und Anatoliens
würdig ist und das allen Völkern einschließlich der Kurden Gleichheit,
Freiheit und Demokratie bietet, kommt allen eine große Verantwortung zu.
Ich rufe anlässlich dieses Newrozfestes genauso wie die Kurden auch die
Armenier, Türkmenen, Aramäer, Araber und alle anderen Völker dazu auf,
das Licht der Freiheit und Gleichheit, das aus den heute angezündeten
Feuern leuchtet, auch als ihre eigenes Licht der Freiheit und Gleichheit
zu betrachten.
Verehrtes Volk der Türkei,
das türkische Volk, das in der Türkei, dem antiken Anatolien, lebt, soll
wissen, dass das beinahe tausendjährige Zusammenleben mit den Türken unter
der Flagge des Islam auf dem Gesetz von Geschwisterlichkeit und Solidarität
beruht. In diesem Gesetz der Geschwisterlichkeit in seiner wahren Bedeutung
ist kein Platz und darf kein Platz sein für Eroberung, Verleugnung, Zurückweisung,
Zwangsassimilation und Vernichtung.
Die Politik des letzten Jahrhundert
basierte auf Repression, Vernichtung und Assimilation und stützte sich
auf die kapitalistische Moderne. Sie stellte das Bestreben einer kleinen
Machtelite dar, welche die Geschichte und das Gesetz der Geschwisterlichkeit
in ihrer Gänze leugnete, aber nicht den Willen des Volkes repräsentierte.
Heute ist offensichtlich, dass dieses Joch der Tyrannei der Geschichte
und der Geschwisterlichkeit widerspricht. Um es gemeinsam abzuwerfen rufe
ich uns alle als die beiden grundlegenden strategischen Mächte des Mittleren
Ostens dazu auf, die demokratische Moderne in einer Weise aufzubauen,
die unseren Kulturen und Zivilisationen gerecht wird.
Die Zeit des Streits, der Konflikte und der gegenseitigen Verachtung ist
vorbei, die Zeit ist reif für Einheit, Gemeinsamkeit, Umarmung und Vergebung.
Türken und Kurden sind gemeinsam bei Çanakkale gefallen, sie haben den
Befreiungskrieg zusammen geführt, 1920 das Parlament gemeinsam eröffnet.
Die Tatsache unserer gemeinsamen Vergangenheit legt uns nahe, auch unsere
gemeinsame Zukunft zusammen aufzubauen. Der Gründungsgeist der Nationalversammlung
der Türkei erleuchtet auch die neue Ära, die heute beginnt.
Ich rufe alle Vertreter der unterdrückten Völker, Klassen und Kulturen,
die Frauen als älteste Kolonie und unterdrückte Klasse, die Angehörigen
unterdrückter Konfessionen, Glaubensrichtungen und anderer kulturellen
Gruppen, die Repräsentanten der Arbeiterklasse und alle vom System Ausgegrenzten
auf: Das System der Demokratischen Moderne ist die neue Option des Wegs
aus der Unterdrückung. Nehmt Euren Platz darin ein und eignet Euch seine
Mentalität und Form an.
Der Mittlere Osten und Zentralasien sind auf der Suche einer zeitgemäßen
Moderne und einem demokratischen Konzept, das ihrer eigenen Geschichte
entspricht. Die Suche nach einem Modell, welches das freie und geschwisterliche
Zusammenleben aller zulässt, ist zu einem so dringlichen Bedürfnis wie
Brot und Wasser geworden.
Es ist unvermeidlich, dass wieder Anatolien und Mesopotamien, die dortige
Kultur und Zeit, Vorreiter bei seinem Aufbau sein werden.
Es ist, als erlebten wir eine aktualisierte, kompliziertere und verschärfte
Version des Befreiungskriegs, der sich in der jüngeren Geschichte im Rahmen
des Nationalpaktes [1920] unter Führung der Türken und Kurden entwickelte.
Wir arbeiten daran, ein neues Modell aufzubauen, welches trotz aller Fehler
und Defizite der letzten neunzig Jahre von Neuem alle Betroffenen, alle
Völker die schlimmes Leid erlitten haben, alle Klassen und Kulturen einbezieht.
Ich rufe alle diese Gruppen dazu auf, sich auf egalitäre, freie und demokratische
Weise zu organisieren.
Kurden, Turkmenen, Aramäer und Araber, die in Verletzung des Nationalpaktes
geteilt wurden und heute in Syrien und der Arabischen Republik Irak schweren
Konflikten und Problemen ausgesetzt sind, rufe ich auf, gemeinsam auf
einer “Nationalen Solidaritäts- und Friedenskonferenz” ihre Situation
zu diskutieren, ein Bewusstsein zu schaffen und Beschlüsse zu fassen.
In der Geschichte dieser Gegend der Welt spielt der Begriff “Wir” eine
wichtige Rolle. Dieser breite und umfassende Begriff wurde von elitären
Machtcliquen auf ein “Einzig” reduziert. Die Zeit ist reif, dem Begriff
des “Wir” seine frühere Seele und Praxis zu verleihen.
Wir werden uns zusammenschließen gegen diejenigen, die uns spalten und
aufeinander hetzen wollen. Wir werden uns vereinen gegen diejenigen, die
uns teilen wollen.
Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, wandert auf den Müllhaufen der
Geschichte. Wer sich gegen den Strom des Wassers stellt, wird auf den
Abgrund zugetrieben.
Die Völker der Region werden Zeugen einer neuen Morgendämmerung. Die Völker
des Mittleren Ostens sind der Kriege, der Konflikte und der Spaltungen
müde und wollen endlich auf ihren eigenen Wurzeln neu erblühen, Schulter
an Schulter aufstehen.
Dieses Newroz ist für uns alle eine frohe Botschaft.
Die Wahrheiten in den Botschaften von Moses, Jesus und Mohammed werden
heute mit neuen frohen Botschaften lebendig. Die Menschen versuchen, das
Verlorene zurückzugewinnen.
Wir leugnen nicht komplett die gegenwärtigen zivilisatorischen Werte des
Westens.
Wir nehmen ihre Werte von Aufklärung, Freiheit, Gleichheit und Demokratie
und führen sie in eine lebendige Synthese mit unseren eigenen Werten und
universellen Formen des Lebens.
Die Basis des neuen Kampfes sind Gedanken, Ideologie, demokratische Politik
und der Beginn einer großen demokratischen Offensive.
Gegrüßt seien alle, die diesen Prozess und eine demokratische und friedliche
Lösung unterstützen!
Gegrüßt seien alle, die Verantwortung übernehmen für Gleichheit, die Geschwisterlichkeit
der Völker und demokratische Freiheit!
Es lebe Newroz, es lebe die Geschwisterlichkeit der Völker!
Gefängnis Imrali, 21. März
2013 – Abdullah Öcalan
[Übersetzung aus dem Türkischen:
Internationale Initiative “Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan”]
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