Neue Züricher Zeitung, 4.1.2000 Vergessene Vergangenheit in Antiochien Stille Tage in der türkischen Provinz Hatay an Syriens Grenze Auf syrischen Landkarten wird Hatay, die südlichste der türkischen Mittelmeerprovinzen, bis heute als zu Syrien gehörig verzeichnet. Das von den Syrern als Sandschak Alexandrette bezeichnete Gebiet wurde 1939 der Türkei zugeschlagen. In den Gassen der Hauptstadt Antakya, dem ehemaligen Antiochien, wird immer noch arabisch gesprochen. Von Spannungen mit den zugezogenen Türken, die heute die Mehrheit bilden, ist aber nichts zu spüren. Wok. Antakya, im Dezember Die aus dem Boden geschossene Millionenmetropole Adana liegt hinter uns. Die Schnellstrasse führt ostwärts, vorbei am Nato-Luftstützpunkt Incirlik. Vor uns liegt, wie eine gewaltige Schranke, das Bergmassiv Nur Daglari, dessen steile Ausläufer bis an die Küste des Golfs von Iskenderun reichen. Ermüdet vom langen Weg quer durch die Weiten Anatoliens, hält man es kaum mehr für möglich, dass selbst hinter dieser mächtigen Barriere die Türkei noch weit nach Süden reicht, bis zur Grenze wenige Dutzend Kilometer vor der syrischen Hafenstadt Latakiyah. Der Stewart im Bus reicht, wie überall in der Türkei üblich, allen Passagieren die Flasche mit Kölnischwasser. Die leicht lädierte Innenausstattung des bejahrten Vehikels verrät, dass man hier in einer armen Randzone der Türkei unterwegs ist. Die meisten der Mitpassagiere unterhalten sich in Arabisch - oder sie sprechen fliessend Deutsch wie unser Sitznachbar, der wie Tausende seiner Landsleute aus der Provinz Hatay sich den Grundstein für eine eigene Existenz nördlich der Alpen hatte abverdienen müssen. Der Azi als Lebensader Auf dem schmalen Küstenstreifen vor Iskenderun reihen sich Stahlwerke und andere Industriebauten, und man beginnt zu ahnen, warum die Gegend südlich von Adana den gängigen Türkei- Reiseführern nicht einmal eine Zeile wert ist. Die entlang der Strasse führende Eisenbahnlinie ist, in der Türkei eine Seltenheit, elektrifiziert. Bis vor dem Ausbruch der letzten Golfkrise vor zehn Jahren herrschte in der Hafenstadt Iskenderun ein ungebrochener wirtschaftlicher Optimismus. Der Standort in unmittelbarer Nähe des Terminals der Ölpipeline aus dem Irak in Yumurtalik versprach viel und günstige Energie. Doch mit dem Ausbleiben des Öls und wegen der Konkurrenz des neugebauten Containerhafens weiter nördlich in Mersin setzte ein unaufhaltsamer wirtschaftlicher Abstieg ein. In Iskenderun endet auch die neugebaute Schnellstrasse. Die Strasse der letzten Reiseetappe schlängelt sich über das Gebirge und führt südwärts in weiten Kehren hinunter ins Tal des Orontes, der längst Azi heisst, nördlich von Baalbek an den Hängen des Libanongebirges entspringt und auf seinem Weg die gigantischen Wasserräder der syrischen Stadt Hama antreibt. Der stolze Fluss ist auf seinem letzten Wegstück bis zur Mündung bei Samandag, dem Ort der antiken Hafenstadt Seleuca, zu einem traurigen, trüben Rinnsal verkommen; ein eindrückliches Zeugnis der belasteten Beziehung zwischen Damaskus und Ankara. Türkische Hydrologen werfen den Syrern schamlosen Wasserraub vor. Doch ihre Entrüstung hält sich in Grenzen. Sie wissen nur allzu gut, dass die Türkei weiter östlich am Oberlauf von Euphrat und Tigris genau dasselbe tut mit dem nach Syrien abfliessenden Wasser und weit mehr zurückbehält, als je im Bett des Azi geflossen ist. Für manche Bürger der Stadt Antakya, die wir endlich nach einer Fahrt entlang von abgeernteten Baumwollfeldern erreichen, ist der Azi trotz seiner kümmerlichen Dimension immer noch so etwas wie eine Lebensader. Im Herzen der etwa 150 000 Einwohner zählenden Stadt, da, wo die Brücke von der ottomanischen Altstadt hinüber zur Neustadt und zum Hauptplatz mit dem Denkmal Atatürks führt, stehen sie, alte, mittelalterliche und junge Männer, und sie richten ihre Blicke rauchend und schweigend aufs Wasser. Einige angeln in der trüben Brühe, und die andern schauen einfach zu. Vielversprechend kann der Fang unmöglich sein, doch zum Sinnieren gibt der Flussübergang Anlass. Wo die Christen ihren Namen erhielten Im Jahr 307, laut andern Quellen 303 vor Christus entschied der Diadoche Antigonos, dass da, wo heute die schweigenden Männer stehen, der Orontes am einfachsten überquert werden könne, und so gründete er eine Siedlung. Unter Seleukos I., einem ehemaligen General Alexanders des Grossen, erhielt der Ort den Namen Antiochia und wuchs schon bald zu einem bedeutenden Handelszentrum mit gegen einer halben Million Einwohnern. Im Jahre 64 vor Christus nahmen die Römer von der Stadt Besitz. Wohl wegen ihres Reichtums standen die Bewohner im Rufe der Weltoffenheit und verschlossen sich darum auch nicht neuen Ideen, wie jenen der Anhänger Jesu. Diese hatten nach der Kreuzigung Palästina verlassen, um die neue Lehre zu predigen. Und so entstand in Antiochia ein erstes Missionszentrum. Zum Erstaunen der Jünger interessierten sich nicht nur die Juden für die neue Lehre, sondern auch die in der Stadt ebenfalls wohnhaften Griechen. Um die neuen Gläubigen von den Juden zu unterscheiden, erhielten sie den Namen Christen. In einer Grotte, die oberhalb der heutigen Altstadt liegt, soll der Apostel Petrus zu den Gläubigen gepredigt haben. Die etwa tausend Jahre später von den Kreuzrittern mit einer Fassade versehene Höhle gilt als die erste Kirche der Welt. Nach den Römern stritten sich die Byzantiner und die Araber um die Stadt, die im sechsten Jahrhundert von einem Erdbeben völlig zerstört wurde. Die Kreuzritter bauten sie später zu einem Etappenort auf dem Weg gen Jerusalem aus, den die Mamelucken später zerstörten. 1516 ergriffen die Osmanen von dem Ort Besitz. Die Schläfrigkeit der Provinz breitete sich aus, treffend beschrieben in Franz Werfels Monumentalwerk «Die vierzig Tage des Musa Dagh». Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1918 geriet die ganze Sandschak Alexandrette geheissene Provinz als Teil des Protektorats Syrien unter französische Verwaltung. 1937 billigte der Völkerbund dem Sandschak einen beschränkten Autonomiestatus zu; die Aussen- und Finanzpolitik wurde der jungen syrischen Regierung übertragen. Es brachen in der Folge Unruhen zwischen türkisch- und arabischstämmigen Bewohnern aus. Unter internationalem Druck willigte Frankreich im Juni 1939 ein, das ganze Gebiet vollumfänglicher türkischer Souveränität zu unterstellen. Der Akt wird heute noch in Damaskus als Verrat empfunden, und auf allen syrischen Landkarten ist das Gebiet als ein Teil Syriens verzeichnet. In den seither vergangenen 60 Jahren hat die Türkei in der nun Hatay genannten Provinz stets eine aussergewöhnlich hohe Militärpräsenz unterhalten. Auf diesen Umstand angesprochen, zucken türkische Diplomaten mit den Achseln und mimen Erstaunen über das Interesse eines Ausländers an dieser abgelegenen Region. In Hatay gebe es, so lautet in Ankara die Antwort unisono, nicht die geringsten Probleme. Die Provinz gehöre für immer und ewig zur Türkei. Syrien werde sich wohlweislich hüten, den Status quo jemals in Frage zu stellen. Diese Einschätzung hat angesichts der deutlichen militärischen Unterlegenheit Syriens derzeit wohl ihre Richtigkeit. Doch wer mag für diese geschichtsträchtige Region, die schon so manche für sich beansprucht haben, eine gültige Prognose wagen? Kein Interesse an Syrien Unter der intellektuellen Jugend der Stadt jedenfalls ist die Nachbarschaft zu Syrien kein Thema. In einem Kaffeehaus vor dem Tor der örtlichen Universität treffen wir eine Gruppe von Studentinnen. «Wir sind ein Teil Europas», sagt eine der jungen Frauen. Wohl sprächen ihre Eltern zu Hause noch Arabisch, und sie verstehe die Sprache auch. Verwandte von ihr lebten unweit von hier südlich der Grenze, doch bisher habe sie noch nie das geringste Bedürfnis nach einem Besuch in Syrien verspürt. Eine Kollegin, auch sie einer arabischen Familie entstammend, pflichtet ihr bei. Sind wir hier am äussersten Rand der Türkei auf eine Runde von überzeugten Kemalistinnen gestossen? Überhaupt nicht, lachen die Studentinnen. Sie empfinden den Staat als bevormundend und mokieren sich über das an der Universität geltende Kopftuchverbot. Das Verhältnis zwischen Arabern und Türken ist für sie aber schlicht kein Thema. Es plagen sie andere Sorgen. Etwa die Angst, aus dem Schoss der Familie direkt in die Obhut eines Ehemanns getrieben zu werden, ohne zuvor die Chance sozialer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit genutzt zu haben. «So leben wie ihr in Europa», das möchte sie, meint eine, und die andern nicken. Auch die Händler im Basar, die wir auf ihr Verhältnis zu Syrien ansprechen, winken ab. Nicht etwa, dass sie Angst hätten, sich dazu zu äussern. Nein, für sie ist die geographische Nähe zu ihren arabischen Brüdern kein Thema. Wirtschaftlich sei vom Land im Süden gar nichts zu erwarten, sagen sei. Auch die spärlichen syrischen Kunden hätten wenig Geld. Und die politischen Verhältnisse? Es herrsche diesseits und jenseits der Grenze dieselbe Vetternwirtschaft, behauptet einer, der regelmässig zu Verwandten in Syrien fährt. Doch in der Türkei lasse es sich trotz allem besser leben. Diese Meinung vertritt auch der Industrielle George Khoury, der ausserhalb der Stadt über eine Textilfabrik gebietet. Er entstammt einer seit Generationen in Antiochia ansässigen christlichen Familie. Nach der türkischen Übernahme der Provinz 1939 trauten die meisten Christen Antiochias der neuen Obrigkeit nicht, und sie verliessen die Stadt. Die Khourys führten ihre Geschäfte in Libanon weiter. Ihr Besitz in der Türkei blieb unangetastet, und so entschlossen sie sich, trotz allem Misstrauen gegenüber den neuen Herren in Ankara, ihr Geld wieder in der alten Heimat zu investieren. Das Vorhaben gelang. Der Familienbetrieb mit derzeit 600 Angestellten ist bereits der grösste private Arbeitgeber der Region. Dass der junge, in Libanon aufgewachsene Direktor fliessend Französisch, Englisch und Arabisch spricht, Türkisch aber erst noch lernen muss, wird ihm von seinen Angestellten verziehen. Die Fabrik produziert aus lokaler Baumwolle gefertigte Frotteegewebe. Dank dem Zollabkommen zwischen der EU und der Türkei gelangt die Ware hauptsächlich auf den europäischen Markt. Der Direktor rühmt die Standortbedingungen der Region. Dazu zählt er die durchschnittlichen monatlichen Lohnkosten von umgerechnet rund 300 Franken pro Arbeiter und ein, wie er sagt, sehr liberales Arbeitsgesetz. Das soziale Klima bezeichnet er als äusserst tolerant. Tradition der Toleranz Derselben Meinung ist auch der Kapuzinerpater Domenico Bertogli. Als einziger Vertreter Roms in Antakya kümmert er sich um die wenigen Dutzend Katholiken in der Region. Der engagierte Pater hat in einem wunderschön und doch einfach restaurierten Altstadthaus ein kirchliches Zentrum errichtet. In wohltuender Weise hat er sich über innerchristliche Grenzen hinweggesetzt und einen guten Kontakt zur zahlenmässig weit grösseren syrisch-orthodoxen Kirche aufgebaut. Im letzten Jahr begingen die beiden Gemeinden trotz unterschiedlich festgesetztem Datum die Osterfeiern erstmals gemeinsam. Bertogli ist es ein Anliegen, die christliche Präsenz in Antakya zu erhalten. «Denn man hat uns hier vergessen», sagt er ohne Bitterkeit und wundert sich manchmal darüber, dass am Ort, wo immerhin die erste christliche Kirche der Welt steht, der Millenniumsrummel vorbeigegangen ist.
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