Kölner Stadtanzeiger, 4.1.2000 Heftige Kritik an Bau in Erdbebenzone - Greenpeace: Energielücke übertrieben Ankaras Reaktor-Projekt immer wieder verschoben Von Gerd Höhler Ankaras Atomkraftwerkspläne stoßen auf immer neue Schwierigkeiten. Umstritten ist das Projekt vor allem wegen befürchteter Erdbebenrisiken. Pläne zum Einstieg in die Atomkraft schmiedet man in der Türkei schon seit fast drei Jahrzehnten, aber die Verwirklichung verzögerte sich immer wieder. Das jetzt diskutierte Projekt nahe der südtürkischen Ortschaft Akkuyu wurde bereits dreimal ausgeschrieben, zuletzt 1997. Eine Frist zur Auftragsvergabe, die am 15. Oktober 1999 ablaufen sollte, wurde von der türkischen Regierung bis zum 13. Dezember 1999 verlängert. Doch einen Tag vor Ablauf wurde der Termin um einen weiteren Monat hinausgeschoben. Um den Auftrag bewerben sich die britische Westinghouse Electric, die kanadische AECL und das deutsch-französische Konsortium Nuclear Power International (NPI), dem auf deutscher Seite unter anderen die Firmen Siemens und Hochtief angehören. Die Unternehmen müssen dem neuen Aufschub zustimmen. Andernfalls könnte auch diese dritte Ausschreibung platzen. Das Atomkraftwerk soll eine Leistung von 1400 Megawatt oder, alternativ, 2900 MW haben und zwischen 2,4 und 4,5 Milliarden Dollar kosten. Es könnte 2007 ans Netz gehen. Die türkische Regierung begründet das Vorhaben mit der wachsenden Energielücke. 1999 betrug der Stromverbrauch 117 Milliarden Kilowattstunden (kWh); die eigene Kraftwerkskapazität liegt jedoch nur bei 115 Milliarden kWh. In diesem Jahr soll der Verbrauch auf 127 Milliarden kWh steigen. Die Türkei muss deshalb immer mehr Strom aus Iran, Georgien und Bulgarien importieren. Türkische und ausländische Umweltschutzgruppen aber laufen Sturm gegen das Reaktor-Projekt. Sie befürchten unabsehbare Risiken einer nuklearen Katastrophe, weil das Kraftwerk in einer durch Erdbeben gefährdeten Region gebaut werden soll. Nur 20 Kilometer vom geplanten Standort entfernt verläuft eine Erdbebenspalte, der Ecemis-Graben. Während die türkische Atomenergie-Behörde Taek den Standort bei Akkuyu als "geeignet" genehmigte, warnen Wissenschaftler vor dem Projekt. Ohne weitere geologische Studien an dem Vorhaben festzuhalten, sei "unverantwortlich, wenn nicht gar kriminell", meint Professor Atilla Ulug, der Leiter der Abteilung für Geophysik an der Dokuz Eylul Universität. Nach den jüngsten Erdbebenkatastrophen in der Türkei haben auch die Bürgerproteste gegen das geplante Atomkraftwerk zugenommen. Die Experten der Umweltschutzorganisation Greenpeace lassen überdies das Argument der Regierung, der Bau des Kraftwerks sei wegen der Energielücke unumgänglich, nicht gelten. Nach Greenpeace-Berechnungen wird der geplante Atommeiler nur etwa drei Prozent zur Stromversorgung des Landes beisteuern. Mit einer Modernisierung des Leitungsnetzes und besserer Wartung der bestehenden Kraftwerke ließen sich jedoch bis zu 25 Prozent einsparen; überdies, so rechnet Greenpeace vor, nutze die Türkei das vorhandene Potential an Wasserkraft erst zu 30 Prozent, von Wind und Sonne ganz zu schweigen.
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