Frankfurter Rundschau, 4.1.2000 Unter dem Stahltisch liegen Notration und Axt bereit Findige verdienen in der Türkei Geld mit der Angst / Land bereitet sich auf neues Beben vor Von Gerd Höhler (Athen) Ein Land erwartet neue Erdbeben: Immobilien auf erfahrungsgemäß stabilem Boden sind in der Türkei viel Geld wert. Gut im Kurs stehen auch Möbel, die sicheren Unterschlupf bieten sollen. Gemeinden kaufen Leichensäcke und weisen Flächen für Massengräber aus. "Geben Sie Ihrem Leben starke Fundamente", lockt eine Istanbuler Wohnungsbaugesellschaft jetzt in Zeitungsanzeigen. Aber solche Werbesprüche nehmen nur wenige Türken für bare Münze. Seit den verheerenden Erdbeben des vergangenen Jahres ist das Ansehen der türkischen Baubranche schwer ramponiert. 600 Wohnblocks hatte der Bauunternehmer Veli Göcer in den vergangenen Jahre in der Hafenstadt Yalova hochgezogen. Die per Zeitungen angebotenen Wohnungen gingen weg wie warme Semmeln, denn sie waren billig. Doch die vermeintlichen günstigen Gelegenheiten erwiesen sich während des Erdbebens vom August als Todesfallen. 550 der 600 Göcer-Gebäude stürzten ein. Das war kein Einzelfall. Dass bei dem August-Beben und bei dem schweren Erdstoß Mitte November in der Nordwesttürkei tausende Gebäude einstürzten und mindestens 20 000 Menschen ihr Leben verloren, war in erster Linie dem Pfusch am Bau zuzuschreiben. Seither geht in Anatolien die Angst um. Vor allem in der Zehn-Millionen-Metropole Istanbul fürchten die Menschen ein neues Beben. Denn ihre Stadt liegt nur einige Dutzend Kilometer nördlich jener Bruchzone in der Erdkruste, die auch die beiden Katastrophen des vergangenen Jahres auslöste. Istanbul, so rechnen die Seismologen vor, wird etwa alle 100 Jahre von schweren Erdbeben heimgesucht. Eines ereignete sich 1766, ein weiteres, das bisher letzte, 1894. Die Kommunal- und Provinzbehörden arbeiten nun Notfallpläne aus. Das Chaos, das bei den Rettungsarbeiten im vergangenen Jahr herrschte, soll sich nicht wiederholen. Jetzt werden die Schulkinder darauf gedrillt, dass sie sich bei einem Erdbeben sofort unter ihren Bänken zu verkriechen haben. In vielen Stadtteilen werden Landeplätze für Rettungshubschrauber eingerichtet. Die Behörden bestellen transportable Container, die als Notfallkliniken eingesetzt werden können, Arznei- und Lebensmittel werden gelagert. Zu den Vorbereitungen gehört auch, am Stadtrand Flächen für Massengräber auszuweisen und Leichensäcke zu beschaffen. Hausbesitzer in westlichen Stadtteilen wie Avcilar und Yesilköy jammern. Diese Bezirke gelten, so sagen die Geologen, wegen des instabilen Untergrundes als besonders gefährdet. Die Immobilienpreise und Wohnungsmieten sind hier bereits um rund ein Drittel gefallen. Dagegen reiben sich die Hausbesitzer in Tarabya am Bosporus die Hände. Der Prominenten-Vorort im Norden gilt als ziemlich erdbebensicher. Die ohnehin stattlichen Preise stiegen hier um mehr als 50 Prozent. Wann die Erde in Istanbul beben wird, können auch die Fachleute nicht genau vorhersagen. "Vielleicht kommt das Erdbeben in 30 Jahren, vielleicht morgen oder jetzt gleich", meint ein Experte. Lieber nicht so schnell, sagen sich wohl manche Unternehmer. Denn mit der Erdbebenangst lässt sich viel Geld verdienen. Wer zum guten Schlaf nicht nur ein weiches Kopfkissen benötigt, kann in Istanbuler Möbelgeschäften ein Bett mit einem stählernen Baldachin erstehen. Selbst wenn die Betondecke einstürzt, hält das Himmelbett, versprechen die Verkäufer. Auch auf Dinnerpartys braucht man nicht zu verzichten. Die Möbelfirma Kale bietet einen Esstisch an, unter dessen stählernem Skelett die Gäste bei einem Erdbeben Zuflucht suchen können. Unter der Tischplatte ist verstaut, was man zum Überleben braucht: Notrationen, Trinkwasser, Verbandskasten, Taschenlampe, eine Axt, um sich den Weg ins Freie zu bahnen. 70 Exemplare des monströsen Möbels hat der Hersteller schon verkauft.
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