Die Welt, 5.1.2000 Vom Land der Freiheit ins Land der Fürsorge Italien bleibt Europas wichtigster Umschlaghafen für illegale Einwanderer - Kritik an Regierung wächst Von Rose-Marie Borngässer Rom - Stürmisch ist das adriatische Meer in diesen Wintertagen; hoch schlagen die Wellen, und die Wassertemperatur liegt wenig über dem Gefrierpunkt. Doch all dies scheint für die Flüchtlinge, die über das Meer kommen, nicht zu zählen. Sie wagen ihr Leben, um an die italienischen Küsten zu gelangen. Italien ist für sie die Pforte ins gelobte Europa. Die meisten der Flüchtlinge versuchen, nach Deutschland zu gelangen, da in Italien zwar die "Freiheiten" größer sind, es dafür aber an "Fürsorge" mangelt. Bei vielen hält sich hartnäckig die Überzeugung, dass sie in Deutschland während des Asylverfahrens so viel Hilfe erhalten, dass sie sich in der Heimat eine Existenz aufbauen können. Zu Beginn des Jahres sind bereits rund 1000 "Illegale" an den italienischen Küsten gelandet. Laut Küstenwacht sind weitere Schiffe in Richtung Italien unterwegs. So landeten in Kalabrien bei Crotone 300 Kurden. Unterwegs auf hoher See mussten die geschwächten Flüchtlinge das Schiff wechseln und von Bord gehen. Die Mannschaft hatte sie während der 14-tägigen Reise gezwungen, auf einen Dampfer, der unter syrischer Flagge fährt, umzusteigen. Das Szenario, das sich nach der Landung der Küstenwacht bot, spottete jeder Beschreibung: Kniehoch im Müll und Kot fand sie vornehmlich alte entkräftete Menschen, Frauen und 70 Kinder. Darunter waren sogar drei Neugeborene, die während der Überfahrt das Licht der Welt erblickt hatten. Während die Flüchtlinge in Auffangheimen und Krankenhäusern untergebracht wurden, entzündete sich in Italien erneut die Diskussion über das Einwanderungsproblem. Mit der Ankunft in Süditalien haben die Ankömmlinge europäischen Boden betreten und wollen diesen so schnell nicht wieder verlassen, wie auch immer die Vorschriften zu Aufenthaltserlaubnissen und politischem Asyl lauten mögen. Der neue Innenminister Enzo Bianco, kaum im Amt, ist bereits gefordert. So hatten in Trapani auf Sizilien in einem der Auffanglager die dort untergebrachten Immigranten Feuer gelegt, um zu fliehen. Doch die Flucht wurde rechtzeitig entdeckt, drei Menschen verbrannten bei dem Fluchtversuch, zehn wurden mit Brandverletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Immerhin drei Flüchtlingen gelang die Flucht, sie sind untergetaucht. Von den Toten wissen die Behörden bis heute nicht einmal die Namen. Der Bischof von Trapani, Francesco Micciche, klagte nach dem Desaster die Behörden an, dass das Gesetz für die Immigranten nicht funktioniere: "Solche Tragödien müssten verhindert werden". Doch Innenminister Bianco beharrt darauf; dass Italien die Gesetze nicht ändern werde - derzeit können Einwanderer 21 Tage in Italien bleiben, bis dahin wird entschieden, ob sie endgültig im Land verbleiben dürfen. Doch die meisten der Flüchtlinge versuchen schon vorher zu flüchten. Angesichts der jüngsten Todesfälle sind nun auch die Unterbringungen ins Gerede gekommen. Die Heime sind abgeriegelt und bewacht, damit die Flüchtlinge nicht das Weite suchen können. Gegen diese hermetische Abgeschlossenheit der Flüchtlinge protestierten jetzt die Grünen. Die grüne Ministerin für Gleichstellung, Laura Balbo, besuchte inkognito eine Unterbringungsstätte in Mailand und befand die Verhältnisse dort für "nicht akzeptabel". |