DER STANDARD 8./9.1.2000 Ein schwankendes Wirtschaftsgebäude Der Konflikt mit Israel musste in Syrien stets zur Legitimation endloser Sparprogramme herhalten. Die meisten ökonomischen Probleme Syriens sind aber hausgemacht. Es fragt sich, wie sie nach einem möglichen Friedensschluss überwunden werden könnten. Standard-Mitarbeiter Alan George aus Damaskus Im quirligen Souk al-Hamidiya, der Hauptgeschäftsstraße im verwinkelten Alt-Da- maskus, stellen alle dieselben Fragen: Wird es endlich echten Frieden geben mit Israel? Ist es endlich so weit, nach all diesen Fehlstarts? Und was bedeutet das für das Leben hier, für die Wirtschaft? Überall in der alten Stadt fragt man sich das, von den wohlhabenden Gebieten wie Malki oder Abu Rumani bis hinauf auf den Jebel Cassioun, der die syrische Hauptstadt überragt, bis zum übervölkerten Palästinenserlager Jaramanah südöstlich der alten Stadtmauern. Der Enthusiasmus ist fast greifbar. Mit der Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit Israel steigen die Hoffnungen auf eine Einigung, die auch das Ende der Kämpfe im Südlibanon bedeuten könnte. In einem Land, in dem abweichende Meinungen im Namen der "Sicherheit" unterdrückt werden und wo der Konflikt mit Israel dazu dient, endlose wirtschaftliche Sparprogramme zu rechtfertigen, besteht die Neigung, die Vorteile eines Friedensabkommens zu übertreiben. In Wahrheit haben die sozialen und wirtschaftlichen Probleme wenig mit dem Konflikt mit Israel, aber viel mit dem politischen System Syriens zu tun. Die zentrale Frage ist, wie Syrien nach einem Friedensschluss ökonomisch funktionstüchtig werden könnte. Die Wurzel des syrischen Problems ist eine hoffnungslos ineffiziente Wirtschaft, die nicht genügend Arbeit bietet. Syrien hat derzeit 15 Millionen Einwohner, das Bevölkerungswachstum liegt bei 2,4 Prozent jährlich. Zwischen 150.000 und 200.000 neue Arbeitssuchende strömen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt. Der öffentliche Sektor, der die Wirtschaft unverhältnismäßig dominiert, hat immer mehr Arbeitskräfte aufgenommen - obwohl es nicht wirklich Arbeit für sie gab. Die nationalistischen und sozialistischen Regierungen,die seit 1963 an der Macht waren, haben sich hauptsächlich ihrem eigenen Überleben verschrieben. Die Schaffung von Arbeitsplätzen - auch unproduktiven - war ein Kernpunkt der hierfür nötigen Stabilität. In der Vergangenheit wurde dieses schwankende ökonomische Gebäude vom Ostblock und den Golfstaaten finanziert. Heute ist die Sowjetunion verschwunden, und die Hilfe aus den Golfstaaten reicht nicht im Entferntesten mehr aus. Um den Druck etwas zu erleichtern, hat die Regierung eine Reihe inoffizieller Sicherheitsventile geöffnet. Offiziell kontrolliert die Regierung alle Importe. In Wahrheit strömen die Waren steuerfrei nach Syrien - vor allem aus dem Libanon, wo 35.000 syrische Soldaten stationiert sind. Steuerhinterziehung ist weit verbreitet. "Wegen der allgemeinen Verarmung nimmt die Korruption überhand, von ganz oben bis ganz unten", sagt ein Einheimischer. "Das ist ganz normal und wird von allen geradezu erwartet." Derzeit bewegt sich das System am Rande des Zusammenbruchs. Im aufgeblasenen öffentlichen Sektor können die Gehälter - zwischen 1300 und 1700 S pro Monat für einen mittleren Angestellten - nicht mehr gekürzt werden, um die Mittel zu schaffen, dass Gehälter für noch mehr öffentlich Bedienstete gezahlt werden können. Zwei Jobs Um trotz der Erosion der Gehälter leben zu können, haben viele Leute zwei Jobs. Dramatischere Auswirkungen für so eine konservative Gesellschaft wie die syrische hat aber die Tatsache, dass immer mehr Frauen arbeiten gehen müssen, um die Einkommen ihrer Ehemänner aufzubessern. Das verstärkt aber im Gegenzug die Arbeitslosigkeit. Seit Jahren schon wird die Notwendigkeit von Reformen zugegeben. Aber heraus kam ein Flickwerk. Alle großen Entscheidungen liegen bei Staatspräsident Hafiz al-Assad. Aber Assad ist weit mehr an regionalen Themen interessiert als an Wirtschaft. Es scheint, dass er sich im Moment auf die Gespräche mit Israel konzentriert. Wenn alles gut geht, könnte sein Reformwillen angefacht werden, er könnte dem privaten Sektor eine größere Rolle einräumen und eine Liberalisierung des politischen Systems zulassen. Die EU übt starken Druck aus, um Reformen zu fördern. Über ein Abkommen zwischen der EU und Syrien - ähnlich den Abkommen mit anderen Mittelmeeranrainern - wird derzeit verhandelt. Das wird den Export syrischer Güter in den europäischen Markt erleichtern. "Ein Assoziierungsabkommen böte einen Rahmen für Reformen und würde Syrien helfen, seine Möglichkeiten auszuschöpfen", sagt Giovanni di Girolamo, Berater der Delegation der EU-Kommission in Syrien. Wirtschaftsreformen in Syrien sind nur noch eine Frage des Wann, nicht des Ob. Und je länger gewartet wird, umso schmerzhafter wird die Anpassung ausfallen. Wie ein westlicher Diplomat hier sagte: "Die Regierung sagt, dass Reformen die Stabilität bedrohen. Wir sagen, dass das Zuwarten eine viel größere Bedrohung darstellt." |