Tagesspiegel, 12.1.2000 Der Fall Öcalan "Die Türkei wird sein Friedhof sein" Die rechtsextreme MHP will den PKK-Chef hinrichten lassen - die Regierung Ecevit steht beim heutigen Gipfel vor der Zerreißprobe Thomas Seibert In seiner Heimatstadt Osmaniye fand Devlet Bahceli deutliche Worte. Der rechtstextremistische Koalitionspartner des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit suchte sich seinen Geburtsort in Südanatolien als Schauplatz für seine Grundsatzrede in Sachen Abdullah Öcalan aus. "Es kann keine Einigung auf den Verzicht eines von unabhängigen Richtern zum Tode verurteilten Terroristen geben, der das Land in eine Blutlache verwandelt hat", donnerte Bahceli mit heiserer Stimme dem Ministerpräsidenten im fernen Ankara entgegen. Ecevit dagegen betont seit Tagen: "Öcalan ist politisch tot - eine Hinrichtung könnte ihn wieder auferstehen lassen." Elf Monate nach der Festnahme des PKK-Chefs durch den türkischen Geheimdienst hat der Fall Öcalan Ankara in eine Regierungskrise gestürzt. Die zerstrittenen Partner wollen nun bei einem Sondergipfel am Mittwoch versuchen, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen - und damit ihre Koalition zu retten. Nach der Verfassung entscheidet das türkische Parlament über Leben und Tod Öcalans. Doch die Regierungskoalition muss sich zunächst darüber einig werden, ob und wann sie die Akte Öcalan zur Abstimmung an die Volksvertretung weiterleitet. Beide Seiten haben sich in dem Streit sehr weit vorgewagt und können nun nicht ohne weiteres wieder zurück. So weiß Bahceli, dass seine Partei MHP ihren Wahlerfolg vom vergangenen April vor allem ihren lautstarken Forderungen nach der Todesstrafe für Öcalan zu verdanken hat. Zu ihren Anhängern zählen nicht nur knallharte türkische Nationalisten, sondern auch viele Verwandte von im PKK-Krieg gefallenen Soldaten. Als die MHP-Führung vor Wochen einen Verzicht auf die sofortige Hinrichtung des PKK-Chefs andeutete, wurde sie von der eigenen Basis zurückgepfiffen. Bahceli kann es sich also kaum leisten, beim Koalitionsgipfel am Mittwoch ohne weiteres klein bei zu geben. Doch Ministerpräsident Ecevit hat sich auf die Forderung nach einem Verzicht auf die Todesstrafe festgelegt. "Ich glaube, ein lebender Öcalan kann uns keinen Schaden zufügen, dagegen kann ein toter Öcalan uns innen- und außenpolitisch schwer schaden", sagt er. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof bat die Türkei im Dezember, den Rebellenchef zumindest bis zum Abschluss der Verhandlungen in Straßburg nicht aufzuknüpfen - willigt Ankara ein, bedeutet das ein Aufschub um mindestens ein Jahr. Der Dritte im türkischen Koalitionsbunde, Mesut Yilmaz von der konservativen Mutterlandspartei, unterstützt Ecevits Position. Angesichts der gegensätzlichen Positionen in der Koalition ist schon vor dem Treffen vom Mittwoch klar, dass keine der beiden Seiten ihre Vorstellung durchsetzen wird. Seit Tagen wird hinter den Kulissen nach einem Kompromiss gesucht. Das Problem besteht darin, die Balance zwischen außenpolitischer Rücksichtnahme und dem Pochen auf die nationale Souveränität zu finden. Deshalb überlegen die Koalitionäre, die Akte Öcalan nicht im Ministerpräsidentenamt zu "parken", wie es Ecevit gerne hätte, sondern im Rechtsausschuss des Parlaments: Dort soll dann auf die Straßburger Entscheidung gewartet werden. Doch welches Lösungsmodell auch immer angewandt wird - die MHP muss sich entscheiden, ob ihr der Verbleib in der Regierung wichtiger ist als die sofortige Hinrichtung Öcalans. Klar ist, dass der Machterhalt für die Partei sehr bedeutsam ist. Bahceli selbst sandte deshalb nach seiner kämpferischen Rede in Osmaniye auch Signale der Deeskalation aus. In der Öcalan-Debatte sei ein kühler Kopf nötig, ließ er seine Anhänger wissen - und verbot ihnen gleich eine ihrer Lieblings-Parolen, die bei vielen Kundgebungen landauf landab zu hören ist: "Die Türkei wird Apos Friedhof sein." |