Der Bund (CH), 12.1.2000 «Alles wird sich ändern müssen» TÜRKEI / Mit viel Elan wird der Anpassungsprozess an die EU in Angriff genommen. Doch dieser birgt politischen Sprengstoff: Zum Beispiel das Todesurteil gegen Kurdenführer Öcalan, das von der EU nicht akzeptiert wird. Heute entscheidet die Regierung in Ankara, ob dieses aufgeschoben oder dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt wird. BIRGIT CERHA, NIKOSIA Die Rolle des allmächtigen Militärs, die weitere ökonomische Öffnung zum Westen hin, Folterungen durch die Sicherheitskräfte, die Exekution des Kurdenführers Öcalan, Zypern ... - jedes dieser Themen kann in der Türkei heftige emotionale Auseinandersetzungen auslösen. Die Entscheidung des EU-Gipfels im Dezember, die Türkei in die Liste der Aufnahmekandidaten einzuschliessen, bietet dem Land die einzigartige Chance einer gründlichen Selbstüberprüfung. Medien und Politiker haben eifrig damit begonnen. «Wir müssen uns modernisieren, die staatlichen Institutionen ebenso wie die privaten. Vom Verkehr bis zu den Spitälern, alles wird sich ändern müssen», meint ein politischer Kommentator. Es sei «der wichtigste Prozess geistiger Veränderung seit hundert Jahren», der nun begonnen habe - und dieser birgt beträchtlichen politischen Sprengstoff. Öcalan-Urteil als Hindernis Da ist zunächst einmal das vom höchsten türkischen Gericht bestätigte Todesurteil gegen Öcalan. Die Regierung in Ankara will heute darüber entscheiden, ob dieses aufgeschoben oder bereits dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt wird. Die Exekution des Kurdenführers wäre aber ein schweres Hindernis auf dem Weg in die EU. Das Problem erweist sich als schwere Kraftprobe für die Koalition des nationalistischen Sozialdemokraten Bülent Ecevit mit dem rechtsextremen Koalitionspartner, der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP). Letztere beharrt - im Einklang mit vielen Türken - auf einer sofortigen Hinrichtung des «türkischen Staatsfeindes Nummer eins». Doch Ecevit, ein grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe, drängt seine Regierungspartner, die Entscheidung des von den Anwälten Öcalans angerufenen Europäischen Gerichtshofes abzuwarten. Sorge um alte Gewohnheiten Die euphorische Stimmung, welche die Türken nach der heiss ersehnten Entscheidung der EU im Dezember erfasst hatte, wurde unterdessen ein wenig von der Sorge verdrängt, der nötige Anpassungsprozess könnte ihnen vielleicht zu grosse Opfer abverlangen. Tagelang befassten sich die Medien etwa mit der Frage, ob Brüssel das geliebte «Kokorec» - Hammeleingeweide in Suppe oder am Spiess und gebratene Schafsköpfe - als EU-konform akzeptieren werde oder nicht. Oder müssen die Türken vielleicht ihre Fahrgewohnheiten aufgeben? Wer gegen EU-Normen im Verkehr verstösst (etwa ein Rotlicht ignoriert), muss schon ab diesem Jahr mit 50 Prozent höheren Strafen rechnen. Einen Zehntausende von Seiten umfassenden Katalog mit EU-Bestimmungen, in welchem das ganze Themenspektrum von Gesundheit über Telekommunikation bis zu Verwaltungsgesetzen abgehandelt wird, haben die Behörden durchzuackern. Ecevits Elan Doch auf Regierungsebene hat man sich unter der Führung Ecevits mit einzigartigem Elan in die Vorbereitungen für die Beitrittsverhandlungen gestürzt. Schon im Jahr 2004 will man bereit sein. Ecevits Koalition erweist sich als für türkische Verhältnisse ungewohnt stabil und reformfreudig. Seit ihrem Machtantritt im April 1999 peitschte sie 131 neue Gesetze durchs Parlament. Viele davon waren längst überfällig, wie etwa die Reform der Kapitalmarktbestimmungen und der Sozialversicherungen oder die Einschränkung der Immunität für Sicherheitsbeamte, welche der Folter und anderer Verbrechen bezichtigt werden. Kampf der Inflation Bevor Ankara in offizielle Verhandlungen mit der EU treten kann, muss es zudem die Inflation in den Griff bekommen und das hohe Staatsdefizit reduzieren. Ein mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) erarbeiteter Reformplan, der eine radikale Veränderung der Währungs- und Devisenpolitik der Zentralbank vorsieht, löst in der türkischen Geschäftswelt Hoffnungen darauf aus, dass sich die Inflationsspirale endlich brechen lasse. Unabhängige Ökonomen warnen aber vor harten Zeiten. «Viele Menschen», schreibt die liberale «Turkish Daily News», «werden leiden, damit das Land schliesslich gewinnen kann.» Insbesondere die Empfänger niedriger Löhne werden die Hauptlast tragen. Widersprüchliche Signale Auch im Bereich der von der EU geforderten Demokratisierung hat die Türkei noch ein paar harte Brocken zu schlucken. Diplomatische Kreise sind von widersprüchlichen Signalen aus Ankara beunruhigt. Zwar drängt Ecevit auf rasche Reformen, und der Chef der dritten Koalitionspartei Yilmaz betonte bei einem Besuch im Kurdengebiet, der Weg in die EU führe durch Diyarbakir (die «Hauptstadt» der Kurden). Gleichzeitig geht das staatliche Sicherheitsgericht aber der Beschwerde eines Bürgers nach, welcher eine Anklage gegen Aussenminister Cem fordert, weil dieser sich für die Einrichtung einer Fernsehstation in kurdischer Sprache eingesetzt hat. |