Süddeutsche Zeitung, 13.1.2000

Meinungsseite

Europa beschützt Öcalan

Wer hätte das gedacht: Weniger als ein Jahr nach seiner Auslieferung an türkische Behörden ist das Schicksal der Türkei eng mit dem Wohlergehen des kurdischen Parteiführers Abdulah Öcalan verknüpft. Endet der PKK-Chef am Galgen, dann muss auch die Türkei ihre hochfliegenden europa-politischen und wirtschaftlichen Träume begraben; bleibt der Ober-Terrorist am Leben, sieht auch die Zukunft der türkischen Republik im neuen Jahrhundert rosiger aus.

Von allen politisch bedeutsamen Kräften in der Türkei pocht eigentlich nur die nationalistische MHP auf eine Exekution von Öcalan. Die anderen Koalitionspartner möchten die Entscheidung auf die lange Bank schieben, indem sie einen Spruch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abwarten wollen. Doch die MHP-Nationalisten, die bei den letzten Parlamentswahlen nicht zuletzt dank der Stimmen von Angehörigen gefallener Soldaten zur zweitstärksten Kraft wurden, glauben ihrer Klientel den blutigen Racheakt schuldig zu sein.

Aber andererseits haben die Nationalisten kein Interesse daran, die Regierung platzen zu lassen. Schließlich haben es die Erben der "Grauen Wölfe" unter Premier Bülent Ecevit zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu Ministerwürden gebracht. Diese Position gibt man nicht mutwillig preis. Letztlich dürfte deshalb der Machtinstinkt den Ausschlag geben - und der Druck, der auf die MHP ausgeübt wird: Von den Koalitionspartnern, von der Wirtschaft und nicht zuletzt vom mächtigen Militär. Die Generäle haben sich zwar bislang nicht dezidiert zur Causa Öcalan geäußert. Sie haben aber zu verstehen gegeben, dass sie das Schicksal des Landes nicht wegen eines Terroristen gefährden wollen.

ky.