Der Standard (A), 13.1.2000 Der Fall Öcalan als Koalitionsprüfstein Türkei: Regierungsparteien sind uneins, ob Todesstrafe vollstreckt werden soll Istanbul - Die Partner kamen gut gewappnet zum Krisentreffen. Als sich der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit am Mittwochmittag in Ankara mit seinen Koalitionspartnern Mesut Yilmaz und Devlet Bahceli zum Krisengipfel traf, brachten die drei Parteichefs zahlreiche Akten und Dokumente zum Thema Abdullah Öcalan mit. Ecevit und Yilmaz wollten Bahceli mit Hilfe der Unterlagen davon überzeugen, dass ein lebender Öcalan der Türkei mehr nutzt als ein toter; Bahceli von der rechtsextremen MHP warf seine eigenen Dossiers in die Debatte, um das genaue Gegenteil zu beweisen: Die Frage, ob der zum Tode verurteilte PKK-Chef hingerichtet wird oder nicht, ist das schwierigste Problem, dem Ecevits Koalition seit den Wahlen im vergangenen April gegenübersteht. Ecevit sagte vor dem Treffen, die Todesstrafe stehe den Europa-Interessen der Türkei entgegen und müsse abgeschafft werden. Der Ministerpräsident hofft auf einen Kompromiss im Streit mit Bahceli, der unter dem Druck seiner eigenen Parteibasis fordert, Öcalan müsse so rasch wie möglich zum Galgen geführt werden. Gibt es keine Einigung, dann steht die Koalition vor dem Scheitern. Unterstützung erhielt Ecevit kurz vor dem Koalitionsgipfel vom türkischen Geheimdienst MIT. Der Geheimdienst riet der Regierung in einem Bericht, Öcalan leben zu lassen, um mit seiner Hilfe die PKK weiter zu schwächen und ganz aufzulösen. Ecevit hat mit seiner Haltung große Teile der türkischen Öffentlichkeit hinter sich. Selbst nationalistische Zeitungen sind der Meinung, eine Hinrichtung würde aus Öcalan einen Märtyrer machen und die Konfrontation Türkei - PKK neu anfachen. Ohne Wenn und Aber Bahceli hatte in den vergangenen Tagen gemischte Signale ausgesandt. In einer Rede in seiner Heimatstadt Osmaniye forderte er die Hinrichtung des PKK-Chefs ohne Wenn und Aber: "Es kann keine Einigung auf den Verzicht eines von unabhängigen Richtern zum Tode verurteilten Terroristen geben, der das Land in eine Blutlache verwandelt hat." Doch kurz nach seiner Rede in Osmaniye deutete Bahceli an, dass er nicht ohne Rücksicht auf den Zusammenhalt der Regierung auf seiner Position in Sachen Öcalan verharren will. Laut Verfassung entscheidet das türkische Parlament über Leben und Tod Öcalans. Doch die Regierungskoalition muss sich zunächst darüber einig werden, ob und wann sie die Akte Öcalan zur Abstimmung an die Volksvertretung weiterleitet. Während die Koalition versucht, eine Lösung zu finden, bemüht sich die Opposition nach Kräften, auf den Streitigkeiten der Regierungspartner ihr Süppchen zu kochen. Islamisten-Chef Recai Kutan schlug Bahceli ohne Umschweife vor, die Koalition mit Ecevit zu verlassen und mit ihm und Ex-Ministerpräsidentin Tansu Ciller eine neue Regierung zu bilden: Die rasche Hinrichtung Öcalans wäre dann kein Problem. (APA/red) |