SoZ, 8.1.2000 Der Weg zum Frieden führt über die Seidenstraße Geostrategische Interessen des Westens in Kurdistan Auf dem EU-Gipfel in Helsinki haben die Regierungschefs offiziell beschlossen, was längst Konsens unter den Vertragsstaaten war: Die Türkei erhält den Status einer EU-Beitrittskandidatin. Offizielle Beitrittsverhandlungen stehen damit noch nicht auf dem Programm. Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, dass insbesondere die Bundesrepublik die Aufnahme des südöstlichen NATO-Partners in den Staatenbund aktiv anstrebt, wären da nicht noch gewisse Hindernisse zu bewältigen: Krieg, Verfolgung, Vertreibung, Armut, Elend, Unterdrückung, Folter und politischer Mord. Ganz im Duktus der seit Amtsantritt vorherrschenden Menschenrechtsrhetorik wird die Bundesregierung nicht müde zu betonen, letztlich diene alle Politik gegenüber dem Land am Bosporus dessen demokratischer Konsolidierung, die Unterstützung der Beitrittskandidatur ebenso wie die Lieferung von Kriegsgerät, zaghafter Protest gegen Menschenrechtsverletzungen und Krieg ebenso wie Passivität und Schweigen. "Dies ist faktisch die einzige Möglichkeit, auf die Politik der Türkei Einfluss zu nehmen", erklärt Ludger Volmer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, das deutsche und europäische Engagement. Und ganz nebenbei verändert sich die Weltkarte, wird die Europäische Union bis Yüksekova reichen, und ein Teil Kurdistans wird ebenso dazugehören, wie die zur Unkenntlichkeit zerschlagenen Kleinstaaten des Balkan. Auch die USA schlagen neue Töne an, wenn es um die Türkei geht. In seiner Rede vor dem türkischen Parlament forderte Präsident Clinton im Vorfeld des OSZE-Gipfels die Türkei auf, auch den kurdischen Bürgern der Republik volle Gleichberechtigung zu geben. "Die Zukunft, die wir zusammen errichten möchten, beginnt mit den Fortschritten der Türkei, ihre Demokratie zu vertiefen", erklärte Clinton. "Souveränität darf nicht auf Angst basieren," mahnte er, Kemal Atatürk zitierend, die Abgeordneten und warb für das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie kulturelle Freiheiten. Er warb auch für die Mitgliedschaft in der EU. "Europa ist ebenso eine Idee wie ein Ort - die Idee, dass Menschen vereint leben können, ohne einförmig zu sein. Es hat keine fixen Grenzen. Es reicht soweit wie die Grenzen der Freiheit." Erstmals besteht ein tatsächliches Interesse, die Türkei mittelfristig zum regulären Mitglied der Großmacht EU zu machen und damit die direkte europäische ökonomische und militärstrategische Einflussnahme im Nahen und Mittleren Osten zu etablieren und abzusichern - auch in Konkurrenz zum NATO- Bündnispartner USA. Die Interessen der EU an diesem Schritt sind vielfältig. Neben der Ausweitung der geostrategischen Einflusssphäre dürfte vor allem der Zugriff auf die Erdölvorkommen am Kaspischen Meer eine maßgebliche Rolle spielen. Dort liegen Erdölreserven, die mitunter als die zweitgrößten der Welt gehandelt werden. Die einzige nutzbare Pipeline führte zunächst über Russland, von Baku nach Noworossisk an die Schwarzmeerküste. Diese Route bietet jedoch heute, bedingt durch die politischen Entwicklungen im Kaukasus, den dortigen russischen Kontrollverlust und die Kriege in Tschetschenien und Dagestan, bis auf weiteres keine Perspektive für die an der Ausbeutung der Vorkommen interessierten internationalen Konzerne. Im April dieses Jahres wurde eine weitere Pipeline ins georgische Supsa eröffnet, die erstmals nicht über russisches Territorium führt. Die Unsicherheit darüber, ob Russland nach Beendigung des Krieges im Nordkaukasus versuchen wird, weiter in den Südkaukasus vorzudringen, scheint Europa wie den USA jedoch zu groß. Daher ist seit langem auch die Routenführung von Baku in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan im Gespräch. Diese Route scheiterte bisher an den beteiligten Ölkonzernen, für die die Route Baku-Ceyhan mit Abstand die teuerste Trassenführung darstellt, und an der schlichten Tatsache, dass dieser Weg mitten durch Kurdistan und damit ebenfalls durch Kriegsgebiet führt. Während Russland versucht, die Vorherrschaft über den Kaukasus und damit über die Nordroute zurück zu erbomben, wurde auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul nun die Unterzeichnung eines Vertrags für eine neue Pipeline Baku-Ceyhan vereinbart. Die beteiligten Staaten haben die Konzerne so weit von den Kosten entlastet, dass diesen der Bau wieder lukrativ erscheint. Die Türkei bspw. verzichtet zehn Jahre lang auf ihre Einnahmen aus dem Geschäft. Doch nicht alleine der 4 Milliarden Dollar umfassende Pipelinebau rechtfertigt heute das europäisch-nordamerikanische Interesse an einer befriedeten kurdischen Region in der Türkei. Entlang der Trasse sollen Handelsstraßen, Eisenbahnlinien und ein Luftkorridor entstehen, der die unabhängigen Staaten des Kaukasus aus der territorialen Isolierung befreien soll. Dabei geht es vor allem darum, Transport- und Verkehrswege zu erschließen, die weder über Russland, noch über den Iran führen. Auch die im Zuge einer angestrebten Entspannung zwischen Israel und Syrien vorgesehene Wiedereröffnung des Landwegs von Tel Aviv nach Ankara führt über Kurdistan. Mit der Entscheidung, die Türkei mittelfristig als Vollmitglied aufzunehmen und damit die geostrategische Position des Landes zu einer Schlüsselposition der EU zu machen, hat sich die EU direkt nach Beendigung des Balkankriegs dem ehrgeizigen Vorhaben Türkei-Integration zugewandt. Die reguläre Einbindung der Türkei als Mitglied der EU erfordert jedoch die Befriedung Kurdistans sowie Veränderungen in der politischen Verfasstheit der Türkei und deren ökonomische und soziale Stabilisierung. Andernfalls wäre weder die ökonomische Nutzung Kurdistans denkbar, noch die im Sinne der "Festung-Europa" notwendige Kontrolle über mögliche Migrationsbewegungen innerhalb der Union möglich. Dabei macht sich die objektive Konkurrenzsituation zu den USA hinsichtlich der künftigen Hegemonialstellung im Nahen und Mittleren Osten subjektiv derzeit noch kaum bemerkbar. Für beide ist die Demokratisierung der Türkei zum Schlüssel der Befriedung Kurdistans geworden, die beide wollen. Gelegentlich scheint es sogar, als konkurrierten die USA und die EU derzeit darin, wer die Regie über einen Demokratisierungsprozess führen wird und wer sich damit den Einfluss auf die Zukunft sichert. Für die EU hat sich Deutschland in die Schlüsselposition des Neugestaltungs- und Erweiterungsprozesses katapultiert. Mit dem ehemaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Günter Verheugen (SPD), der nun als EU-Kommissar für die Erweiterung der Union zuständig ist, und dem mit Außenminister Fischer eng vertrauten Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit, der in Straßburg im Juli den Vorsitz über die europäisch- türkische Parlamentarierkommission übernahm, besetzt die Bundesregierung zwei zentrale Positionen. Sowohl für die USA als auch für die Europäische Union kann es sich in Zukunft als entscheidend erweisen, wer diesem Prozess seinen Stempel aufzudrücken vermag, sprich wer in der Zukunft seine Vorherrschaft in der Region auszubauen versteht oder zu verlieren riskiert. Daher setzen beide vordergründig einheitlich auf den Demokratisierungsprozess in der Türkei als Schlüssel für die Hegemonie in der Region. Trotz konkurrierender Interessen resultiert daraus ein synergetisches Handeln, das es der Türkei derzeit erschwert, EU und USA wie in der Vergangenheit gegeneinander auszuspielen. Das Rennen um die Demokratisierung hat begonnen - für die EU unter deutscher Regie. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Wege und Ziele, die die EU für die von ihr favorisierte Form der Demokratisierung anstrebt. "Wir wollen die Türkei demokratisch, friedlich, multikulturell und vereint", fasste der griechische Außenminister Papandreou die Rahmenbedingungen der europäischen Integrationspolitik Anfang November zusammen. Diese ergeben sich als Bedingungen aus dem Amsterdamer EU-Vertrag sowie aus den vom Europäischen Rat 1993 in Kopenhagen formulierten Beitrittskriterien. Danach ist Voraussetzung für einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft, dass ein Staat folgende Grundsätze achtet: Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit. Auch eine Lösung des bewaffneten Konflikts in Kurdistan ist formal über diese Kriterien mit erfasst. In einem Briefwechsel mit dem deutschen Bundeskanzler Schröder im Vorfeld des Europäischen Rates Anfang Juni erkannte der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit die o.g. Verpflichtungen und Kriterien als verbindlich für die Türkei an und bekräftigte die Entschlossenheit, entsprechende Reformen durchzuführen. Es gibt auch Zusagen über Gespräche zur Erarbeitung eines "Fahrplans" für die Durchführung von Reformen. Die europäischen Regierungen drängen nicht nur mit Hochdruck auf eine Lösung des Zypernkonflikts. In Straßburg arbeiten europäische Rechtsexperten auch schon an einem Entwurf für eine neue Verfassung der Türkei, die den Kopenhagener Kriterien genügt und das Land auf diesem Gebiet formal integrationsfähig machen soll. In seiner Rede auf der Vorbereitungskonferenz zum Stabilitätspakt für Südosteuropa wies Bundesaußenminister Fischer explizit auf die historischen Vorbilder hin, die der Bundesregierung für die Demokratisierung der Region vorschweben: "Es hat sich wiederholt gezeigt, welch mächtige, friedensstiftende Kraft in der europäischen Idee steckt - bei der Aussöhnung der ,Erbfeinde' Deutschland und Frankreich, bei der Überwindung des Erbes der Diktatur in Spanien, Portugal und Griechenland, zuletzt bei der gesellschaftlichen Transformation und der Überwindung von Minderheiten- und Grenzproblemen in Mittel- und Osteuropa." Gerade in Griechenland nach dem Ende der Obristendiktatur und im postfranquistischen Spanien wurde die Demokratisierung der Gesellschaften allerdings unter Beibehaltung der herrschenden Eliten betrieben. Die juristische Aufarbeitung der von den jeweiligen Diktaturen begangenen Verbrechen kam nur schleppend voran oder fand überhaupt nicht statt. Die Staatsapparate und Verwaltungen, Polizei und Militär blieben bis auf wenige personelle Veränderungen im Kern unangetastet. Der im Frühsommer 1999 auf dem G8-Gipfel in Köln verabschiedete Stabilitätspakt basiert auf der Grundidee, dass eine politische Stabilisierung Südosteuropas im sicherheitspolitischen Interesse der EU liegt. Als Anreiz bietet die EU die stufenweise Integration über Stabilitäts- und Assoziierungsverträge an. Und wenn die Türkei auch nicht explizit unter den für diesen Pakt vorgesehenen Ländern aufgeführt ist, sondern bereits auf einer höheren Stufe des Aufnahmeprozesses gehandelt wird, so gehorchen die Integrationsstrategien doch denselben Gesetzmäßigkeiten. Nach menschlichem Ermessen und nach sorgfältiger Betrachtung von Friedensprozessen in anderen Abschnitten der Geschichte dürfte der gemeinsame Wille der USA und der EU mittelfristig tatsächlich hinreichen, eine demokratische Veränderung der Türkei und Frieden in Kurdistan herbeizuführen. Dieser Wille ist jedoch weder ein Selbstzweck noch an den tatsächlichen Bedürfnissen der kurdischen Bevölkerung oder der demokratischen Kräfte der Türkei orientiert. Er orientiert sich an den geostrategischen Interessen der USA und der EU. Dazu gehört nicht nur, die Türkei weiterhin uneingeschränkt mit jenen Waffen auszustatten, die sie im Rahmen des Bündnisses befähigen, die ihr zugedachte Rolle auch in Zukunft zu erfüllen. Auch die Auslieferung des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, an die Türkei gehörte zu den Schritten einer europäisch-nordamerikanisch-türkischen Lösung der kurdischen Frage. Als Öcalan im vergangenen Jahr in Rom eintraf, war die Verständigung der EU auf eine gemeinsame Außenpolitik gegenüber der Türkei noch nicht abgeschlossen. Diese Verständigung zog sich über mehrere Monate hin und endete in der sorgfältig abgewogenen Auslieferung des PKK- Vorsitzenden. Doch schon in den - teilweise widersprüchlichen - Erklärungen verschiedener Regierungen aus jener Zeit zeichneten sich zentrale Aspekte ab, die sich in der heutigen Demokratisierungspolitik wiederfinden lassen: eine Lösung der kurdischen Frage soll ohne die gestalterische Beteiligung der kurdischen Seite, insbesondere ohne Beteiligung der PKK stattfinden. Man wolle die PKK nicht als "Vertreterin eines politischen Anliegens aufwerten", hieß es noch im Juni in deutlichen Worten aus dem Auswärtigen Amt, und unterscheide "zwischen den berechtigten politischen Anliegen der kurdischen Bevölkerung und dem Terrorismus bzw. Separatismus". Stattdessen setzt die EU auf den sozialen Wiederaufbau des zerstörten Landes, hier auch unter Einbindung der legalen kurdischen Parteien. Die von EU-Seite angestrebte Demokratisierung wird in vielen Bereichen Verbesserungen für die kurdischen und türkischen demokratischen Kräfte mit sich bringen. Es macht real einen großen Unterschied, ob man in Zukunft nicht mehr auf offener Straße willkürlich ermordet oder verhaftet werden kann, ob Menschen nicht länger systematisch abgeholt und in Polizeihaft gefoltert, umgebracht oder "verschwunden" gelassen werden und ob es gelingt, dem Morden in Kurdistan ein Ende zu bereiten. All dies kann aber nicht das Ziel, sondern nur die Ausgangsbasis wirklicher Demokratisierung sein. Letztere wird auch in Zukunft noch weiter politisch erstritten werden müssen - notfalls auch gegen die Interessen der Europäischen Union. Knut Rauchfuss |