Neue Züricher Zeitung, 13.1.2000 Regierungskrise in der Türkei knapp abgewendet Das Todesurteil gegen Öcalan entzweit die Koalitionspartner - Vollstreckung aufgeschoben Das türkische Kabinett hat entschieden, die Vollstreckung des Todesurteils an dem Kurdenführer Abdullah Öcalan aufzuschieben, bis ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg über die Rechtmässigkeit des Verfahrens vorliegt. Dem türkischen Regierungschef Ecevit ist es während einer langen Kabinettssitzung gelungen, seine widerstrebenden nationalistischen Koalitionspartner von dieser Haltung zu überzeugen. lt. Istanbul, 12. Januar Dem türkischen Regierungschef Ecevit ist es am späten Mittwochabend nach einer stürmischen Kabinettssitzung gelungen, eine seit Wochen drohende Regierungskrise im letzten Moment abzuwenden. Die Koalitionspartner haben sich darauf geeinigt, die Parlamentsdebatte über die Vollstreckung des Todesurteils gegen den Kurdenführer Öcalan zu vertagen, bis ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das die Rechtmässigkeit des Verfahrens betrifft, vorliegt. Der Streit zwischen den Partnern der aus drei Parteien gebildeten Koalition entstand über der Frage, ob das Parlament das Todesurteil gegen Öcalan schon jetzt debattieren soll oder ob es auf das Urteil aus Strassburg warten muss. In Wirklichkeit ging es darum, ob Öcalan ungeachtet der Reaktionen im In- und Ausland hingerichtet werden soll. Unnachgiebige Nationalisten Für eine Hinrichtung trat die rechtsextreme nationalistische Aktionspartei (MHP), der stärkste Partner dieser Koalitionsregierung, ein. Der Terrorist Öcalan sei wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden und müsse exekutiert werden, versprach der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli noch am letzten Wochenende seinen Wählern. Regierungschef Ecevit meldete aber bereits seit einiger Zeit Bedenken an. Öcalan sei politisch tot und könne dem Lande nicht weiter schaden, konterte er. Eine Hinrichtung würde Öcalans Mythos politisch wiederbeleben und der Türkei im In- und Ausland viel Schaden zufügen. Der Streit zwischen dem Regierungschef und seinem Stellvertreter spitzte sich in den vergangenen Tagen zu und wurde als der erste grosse Testfall für die Stabilität der Regierung angesehen. Der Kompromiss vom Mittwoch erlaubt vorerst beiden Koalitionspartnern, in den Augen ihrer Wähler das Gesicht zu wahren. In Ankara machte sich am Mittwoch abend Erleichterung breit. Im vergangenen November hatte das oberste Berufungsgericht der Türkei das Todesurteil gegen Öcalan bestätigt, woraufhin der Europäische Gerichtshof Ankara aufforderte, mit der Parlamentsdebatte über das Todesurteil zuzuwarten, bis das Urteil aus Strassburg vorliegt. In Strassburg wird gegenwärtig untersucht, ob im Öcalan- Verfahren gegen europäisches Recht verstossen wurde. Ein Todesurteil muss gemäss türkischen Gesetzen zuerst vom Parlament ratifiziert und dann vom Präsidenten gutgeheissen werden, bevor es vollzogen werden kann. Seit 1984 wurde in der Türkei kein Todesurteil mehr vollstreckt. Gefällte Todesurteile werden dem Rechtsausschuss des Parlaments unterbreitet. Dort warten derzeit, in irgendwelchen Schränken vergessen und verstaubt, insgesamt 53 Todesurteile auf ihre Ratifizierung. Der Fall Öcalan ist politisch brisant und der Druck, das Todesurteil mit Priorität im Parlament zu behandeln, sehr gross. Die öffentliche Meinung in der Türkei ist in zwei Lager geteilt. Auf der einen Seite stehen jene konservativen Kräfte, die jede Intervention von aussen als entwürdigend für die türkische Nation empfinden. Die Türkei sei ein souveräner Staat, sagte unlängst der MHP-Vorsitzende. Niemand habe das Recht, gegen die Entscheidungen der unabhängigen türkischen Justiz zu intervenieren, auch Strassburg nicht. An dieser Position hält Bahceli nach wie vor fest und kann mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung rechnen. Im kollektiven Bewusstsein in der Türkei ist der Begriff «Konzession» mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches eng verbunden und wird mit einer nationalen Niederlage gleichgesetzt. Zum Kreis der Falken hat sich auch die Vorsitzende der Konservativen Partei des Rechten Weges, Tansu Ciller, gesellt. Sie rief unlängst die Regierung auf, den Kurdenführer rasch hinzurichten. Sonst drohe Öcalan, so Ciller, zu einem kurdischen Mandela zu werden. Erstaunlicherweise hat sich auch die islamistische Tugendpartei, die stärkste Kraft im Parlament, auf die Seite der Hardliner geschlagen. Die drei konservativen Parteien verfügen im Parlament über eine klare Mehrheit. Niemand zweifelt deshalb daran, dass dieses Parlament die Hinrichtung Öcalans gutheissen würde. Block der Reformisten Den Nationalisten stehen die Reformisten gegenüber, die eine Öffnung in Richtung Europa herbeisehnen. Sie betrachten die Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs für die Türkei als bindend. Immerhin sei die Türkei ein Gründungsmitglied des Europarates, wird in diesen Kreisen betont. Ferner hat Ankara im Jahr 1992 seinen Bürgern das Recht auf Individualklagen beim Europäischen Gerichtshof eingeräumt. Die Türkei unterliege der Gerichtsbarkeit aus Strassburg, betonte etwa der für Menschenrechtsfragen zuständige Staatsminister Mehmed Ali Irtemcelik. Schrittmacher in der Bewegung der Reformisten sind einige bekannte türkische Juristen. Das Todesurteil gegen Öcalan im Parlament zu behandeln, bevor die übrigen 53 hängigen Urteile zur Sprache gekommen seien, verstiesse gegen geltendes Recht, erklärte der Richter Turgut Okyay. Seine Meinung hat besonderes Gewicht, da er auf der Gefängnisinsel Imrali das Urteil gegen Öcalan gesprochen hatte. Der Regierungschef Ecevit pendelt zwischen den beiden Positionen. Er ist prinzipiell gegen die Todesstrafe, will aber aussenpolitische Interventionen auch nicht dulden. Der altgediente Politiker weiss aber auch, dass Öcalans Schicksal die Zukunft der Türkei beeinflusst. Europäische Institutionen halten den Fall Öcalan für einen Test, der zeigen werde, ob die muslimisch bevölkerte Türkei sich tatsächlich als Mitglied der EU eigne. Portugal, das die Präsidentschaft der Europäischen Union innehat, machte am Mittwoch klar, dass eine Hinrichtung Öcalans den Weg der Türkei nach Europa verbauen könnte. Die Armee gegen eine Hinrichtung Gegen eine voreilige Hinrichtung Öcalans sprechen sich mittlerweile auch gewichtige Kreise in der Armee aus. Sie machen dabei Sicherheitsüberlegungen geltend. Seitdem Öcalan in die Türkei übergeführt wurde, sind die bewaffneten Auseinandersetzungen im kurdischen Südosten stark zurückgegangen. Auf den Ruf ihres Führers hin hat die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zudem die zwei wichtigsten Organe ihrer Guerilla, das militärische und das ideologische Komitee, aufgelöst. Sollte Öcalan hingerichtet werden, davon sind manche Generale überzeugt, würde die Guerilla erneut aktiv. Der seit kurzem spürbare Friede im Südosten wäre somit zu Ende. |