Die Welt, 14.1.2000 Ankara setzt Entscheidung über Öcalan aus Türkisches Parlament stimmt zunächst nicht über Hinrichtung des PKK-Chefs ab - Europa begrüßt den Beschluss Von Baha Güngör Ankara - "Sollen wir, was Gott für passend hält, einfach aufheben? Mit dieser Frage - unter Hinweis auf die Bibel ebenso wie auf den Koran - verband in den 80er Jahren Kenan Evren, der sich 1980 an die Macht geputscht hatte und bis 1989 Staatspräsident der Türkei war, seine Forderung nach dem Verbleib der Todesstrafe in der türkischen Gesetzgebung. Schließlich könne nicht verlangt werden, dass "Terroristen und Mörder lebenslang im Gefängnis ernährt statt hinerichtet werden", sagte er unter dem Beifall der Massen. Doch ebenso wie Evren haben sich viele frühere prominente Befürworter der Todesstrafe inzwischen eines besseren besonnen. Heute ist Evren dagegen, dass der türkische Staatsfeind Nummer Eins, Abdullah Öcalan, hingerichtet wird. Man müsse "die Interessen der Türkei beachten", sagt er. Damit stellt er sich in die immer dichter werdenden Reihen derer ein, die die Vollstreckung des rechtskräftigen Todesurteils gegen den Führer der militanten kurdischen Separatistenorganisation PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans, ablehnen. Angeführt von Staatspräsident Süleyman Demirel und Ministerpräsident Bülent Ecevit ist eine zunehmende Mehrheit dafür, dass vor einer Vollstreckung des Todesurteils die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abgewartet wird. Da sich aber die Straßburger Instanz kaum dafür aussprechen dürfte, die Beendigung des Lebens von Öcalan am Galgen zu billigen, wird dieser den Rest seines Lebens auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer verbringen. Damit würden sich die Hoffnungen kurdischer Extremisten zerschlagen, die einen toten Öcalan gerne zum politischen Märtyrer, erklären würden. Der linksnationalistische Regierungschef Ecevit hat es trotz Unterstützung seines konservativen Koalitionspartners Mesut Yilmaz nicht leicht gehabt, den rechtsextremen dritten Koalitionspartner Devlet Bahceli davon zu überzeugen, dass der Spruch aus Straßburg abgewartet werden müsse, bevor das Todesurteil zur Bestätigung oder zur Ablehnung dem Parlament weitergeleitet wird. Der islamistische Oppositionsführer Recai Kutan an der Spitze der Tugend-Partei hat sich für die Vollstreckung des Todesurteils bei einer entsprechenden Entscheidung der Großen Nationalversammlung ausgesprochen. In der fundamentalistischen Publikation "Akit" wird sogar offen gefordert, dass eine Vollstreckung nicht einmal von der Entscheidung des Parlaments abhängig gemacht werden müsse. Der rechtsextreme Journalist Altemur Kilic spricht sogar von einer "Sünde", mit der sich die türkische Staatsführung belastet habe, weil Öcalan nicht hingerichtet werde. Die konservative Oppositionspolitikerin Tansu Ciller argumentiert taktisch klüger und stellt die Frage, ob die juristischen Instanzen Europas Priorität vor den Gesetzen der Türkei hätten. Das Land signalisiert mit der Aufschiebung der Urteils-Vollstreckung, dass man bereit ist, die Souveränität einzuschränken - eine Notwendigkeit für den EU-Beitritt. Die Türkei, an der Peripherie des Kontinents gelegen, zeigt, dass sie sich politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell den Normen Europas anpassen will. Gerade deshalb reagierte die internationale Gemeinschaft mit Erleichterung auf die Entscheidung, das Öcalan-Todesurteil vorerst nicht zu vollstrecken. Der Europarat in Straßburg begrüßte den Beschluss am Donnerstag als mutigen Schritt. "Wir hoffen, dass dies einen ersten Schritt zur endgültigen Abschaffung der Todesstrafe darstellt", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung vom Vorsitzenden der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Lord Russell-Johnston, und Generalsekretär Walter Schwimmer. Die Entscheidung war Ankara auch deshalb nicht einfach gefallen, weil im Verlauf der militärischen Auseinandersetzung mit der PKK, die seit 1984 für einen separaten, sozialistischen Kurden-Staat auf türkischem Territorium kämpft, immer noch Menschen sterben. Bei jeder Beisetzung von im Kampf gegen die PKK getöteten Soldaten fordern deren Angehörige, dass "das von Terroristen vergossene Blut nicht ungestraft auf dem Boden liegenbleibt". Doch immer mehr Türken sind inzwischen der Überzeugung, dass Hinrichtungen zwar die Volksseele befriedigen mögen. Doch hunderte von Hinrichtungen in der 76jährigen Geschichte der Republik haben Aufstände oder Gewaltverbrechen nicht auf Null reduziert. "Wir haben es bislang nicht geschafft, Ruhe und Glück zu finden, indem wir Menschen hingerichtet haben. Werden wir viel verlieren, wenn wir es mal anders versuchen?" fasst ein Kommentator der nationalliberalen Tageszeitung "Hürriyet" die Lage zusammen. Das türkische Außenministerium im Internet: http://www.mfa.gov.tr Der deutschsprachige Kurdistan-Report mit der Stellung der Pkk im Internet: http://www.nadir.org/nadir/periodika/kurdistan_report/ |