taz, 14.1.2000 Kommentar Türkisches Parlament stimmt nicht über Öcalans Hinrichtung ab: Sieg für Premier Ecevit Vor genau einem Jahr galt der heute 74- jährige Bülent Ecevit, einer der Dinosaurier der türkischen Politik, als absolutes Auslaufmodell. Da er den übrigen, sich gegenseitig heftig bekämpfenden Parteiführern ungefährlich schien, hatte man ihm die Leitung des Übergangskabinetts angedient - und sich auf den Wahlkampf konzentriert. Doch dann kam alles ganz anders. Seit der Verschleppung Öcalans aus Kenia in die Türkei im Februar 1999 hat Ecevit ein politisches Bravourstück vollbracht, das Freund und Feind verblüffte: Er hat die Wahlen im April gewonnen, die rechten Ultras in die Regierung eingebunden - und trotzdem die Türkei an die EU herangeführt und erfolgreich mit dem Internationalen Währungsfonds verhandelt. Ecevit hat in knapp einem Jahr mehr geschafft als etliche seiner Vorgängerregierungen. Am Mittwoch gelang ihm jetzt die schwierigste innenpolitische Operation seit der Regierungsbildung: die vorläufige Zähmung der Grauen Wölfe. Immer wieder hatte die ultranationalistische, in Teilen auch neofaschistische MHP in den letzten Monaten Niederlagen hinnehmen müssen, die die Basis langsam, aber sicher mächtig aufbrachten. So stimmte die Partei einer Verfassungsänderung zum Schutz ausländischer Investoren zu, was sie in der Vergangenheit als Ausverkauf des Landes gebrandmarkt hatte, und schluckte gegen ihre Überzeugung den harten kemalistischen Kurs in der Kopftuchfrage. Der heilige Gral der Partei aber war und ist der Kampf gegen die kurdischen Terroristen und das Böse schlechthin, Abdullah Öcalan. Man muss an diese Vorgeschichte denken, um ermessen zu können, welche Zumutung es für die MHP ist, jetzt auf die Hinrichtung Öcalans zu verzichten und eine Entscheidung in Straßburg abzuwarten, die zwei Jahre dauern kann. Was wird bis dahin passieren? Ecevit hat im Fall Öcalan von Anfang an auf Zeit gespielt, und bisher ist seine Strategie voll aufgegangen. Je länger es dauert, bis das Parlament über die Hinrichtung abstimmt, umso unwahrscheinlicher wird ihr Vollzug. Die Annährung an Europa geht weiter, der Frieden in den kurdischen Gebieten etabliert sich, die Wirtschaft wächst. Wenn Ecevit mit seiner Strategie Erfolg hat, wird die Mehrheit sich künftig kaum einen Racheakt gegen Öcalan wünschen. Das weiß auch MHP-Chef Bahceli, und deshalb wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als die von Ecevit begonnene Zähmung der Grauen Wölfe fortzusetzen, oder die MHP schrumpft wieder zu einer Sechs-Prozent-Partei. Jürgen Gottschlich |