Berliner Zeitung, 14.1.2000 EU begrüßt Aufschub von Öcalans Hinrichtung Türkischer Präsident verteidigt Regierungsbeschluss gegen Kritik der National-Konservativen BRÜSSEL/ANKARA, 13. Januar. Die Europäische Union hat die Entscheidung der türkischen Regierung begrüßt, den zum Tode verurteilten PKK-Führer Abdullah Öcalan vorerst nicht hinzurichten. Die EU-Kommission, der Europarat sowie die Präsidentin des Europaparlaments bezeichneten den türkischen Entschluss, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzuwarten, am Donnerstag als richtigen Schritt. Auch die Bundesregierung wertete den Aufschub positiv. Nach zähem Ringen hatte sich die türkische Regierungskoalition am Mittwochabend darauf geeinigt, dem Bitten der Straßburger Richter um Aufschub nachzugeben und damit ihr Interesse an einem EU-Beitritt über innenpolitische Erwägungen zu stellen. Während sich die türkische Opposition erbost über den Kompromiss zeigte, verteidigte ihn Präsident Süleyman Demirel als "gerechtfertigt". Öcalan, der Gründer und Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), war im vergangenen Februar von türkischen Agenten in Kenia gefasst und im Juni in der Türkei wegen Hochverrats und Separatismus zum Tod am Galgen verurteilt worden. Das Urteil wurde am 30. Dezember rechtskräftig, muss aber vor seiner Vollstreckung noch vom Parlament bestätigt werden. Die Koalition unter Ministerpräsident Bülent Ecevit beschloss nun, die Akte Öcalan bis zur Entscheidung der Straßburger Richter gar nicht erst ans Parlament weiterzuleiten. Ecevit drohte allerdings mit dem sofortigem Ende des Aufschubs, sollte die PKK versuchen, diese Entscheidung auszunutzen. Die EU-Kommission in Brüssel ist nach den Worten eines Sprechers "sehr zufrieden" mit dem Aufschub. Er gehe davon aus, dass "Herr Öcalan auch in Zukunft nicht hingerichtet wird", sagte der Sprecher. Als "kleinen Schritt in die richtige Richtung" bezeichnete die Präsidentin des Europaparlaments, Nicole Fontaine, die Entscheidung. Dies zeige, dass Ankara den "Forderungen der Europäer in Sachen Menschenrechte sensibler gegenübersteht als früher". Vorbedingung für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei bleibe aber die förmliche Abschaffung der Todesstrafe. Auch der Europarat, zu dessen ältesten Mitgliedern die Türkei zählt, begrüßte die "mutige Entscheidung". In Berliner Regierungskreisen hieß es, damit bestätige sich die Richtigkeit der Entscheidung des EU-Gipfels in Helsinki vom Dezember, der Türkei den Kandidatenstatus zu verleihen. Der türkische Präsident Demirel verteidigte den Koalitionsbeschluss mit den Worten: "Ein Staat darf keine Entscheidung auf der Basis von Rache und Hass fällen." Dagegen kritisierte die parlamentarische Opposition, dass eine Entscheidung der gewählten Volksvertreter umgangen werde. Die national-konservative Presse bezeichnete den Koalitionsbeschluss als Kotau vor Europa. "Wenn wir heute der EU zuliebe die Hinrichtung aussetzen, wird es morgen weitere Eingriffe geben", warnte die Zeitung "Türkiye". In den bürgerlichen und liberalen Blättern wurde der Beschluss hingegen als Dienst an den Interessen der Türkei und als "historische Einigung" bewertet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann zwar keine nationalen Urteile aufheben. Die Unterzeichner der Europäischen Menschenrechtskonvention - darunter auch die Türkei - sind aber verpflichtet, die Straßburger Urteile "umzusetzen". Zwar hat die Türkei, ungeachtet zahlreicher Aufforderungen des Europarats und der Europäischen Union, die Todesstrafe bisher nicht abgeschafft. Seit 1984 wurde allerdings niemand mehr hingerichtet. (AFP) |