Neue Züricher Zeitung, 14.1.2000 Aussetzung von Öcalans Strafe weckt Hoffnungen Erleichterung unter den türkischen EU-Befürwortern Die Entscheidung der türkischen Regierung, die Hinrichtung des Kurdenführers Abdullah Öcalan vorerst auszusetzen, wurde am Donnerstag von den meisten türkischen Medien begrüsst. Dieser Beschluss garantiere dem Land politische Stabilität und erlaube der Regierung, wirtschaftliche und soziale Reformen durchzuführen, lautet das Fazit der Presse. it. Istanbul, 13. Januar Der Beschluss der türkischen Koalitionsregierung, das gegen den Kurdenführer Abdullah Öcalan verhängte Todesurteil vorerst nicht zu vollstrecken und den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzuwarten, ist am Donnerstag von der Presse beinahe ausnahmslos mit Erleichterung aufgenommen worden. Der Kompromiss garantiere politische Stabilität und erlaube der Regierung, ungehindert ihr wirtschaftliches und soziales Reformprogramm durchzuführen, war der Tenor verschiedener Kommentare. Auch aus sicherheitspolitischen Überlegungen sei der Regierungsentscheid ein voller Treffer, schwärmte die seriöse Tageszeitung «Milliyet». Denn sollte die kurdische Guerilla ihre bewaffneten Angriffe wiederaufnehmen, werde die Akte Öcalan sofort dem Parlament zur Ratifizierung weitergeleitet. Bedrängte Nationalisten Siebeneinhalb Stunden dauerten die Beratungen des Kabinetts am Mittwoch, bevor der Regierungschef Ecevit und sein rechtsnationalistischer Stellvertreter Bahceli sich im Fall Öcalan einigen konnten. Wie Ecevit nach der stürmischen Sitzung erklärte, soll die Akte Öcalan im Amt des Ministerpräsidenten bleiben, bis der Strassburger Gerichtshof sein Urteil gefällt hat. «Sollte diese Entscheidung aber gegen die Interessen der Türkei verwendet werden, wird das zur Exekution führende Verfahren eingeleitet», fügte er hinzu. Bis der Entscheid aus Strassburg vorliegt, dürften laut Schätzungen etwa 18 Monate vergehen. In dieser Zeitspanne hofft Ecevit die öffentliche Meinung für eine Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei gewinnen zu können. Das Versprechen, die Akte Öcalan beschleunigt zu behandeln, wenn die Interessen der Türkei tangiert würden, war offenbar die einzige Konzession, die Bahceli am Mittwoch erreichen konnte. Der Nationalistenführer hatte bis zuletzt auf einer sofortigen Hinrichtung Öcalans beharrt. Kommentatoren vermuten, dass Bahceli nun in Schwierigkeiten mit seiner Parteibasis geraten wird. Seit der Gründung der Dreiparteienkoalition vor sieben Monaten ist dies seine zweite Niederlage im Kabinett. Zuvor waren die Nationalisten erfolglos dafür eingetreten, das Kopftuchverbot für Studentinnen aufzuheben. Proteste gegen die Regierung In Ankara fand am Mittwoch unweit des Saals, wo die Kabinettsmitglieder tagten, eine Trauerfeier für gefallene Soldaten statt. «Unsere Märtyrer sind kein Handelsobjekt», skandierten die Verwandten von Gefallenen und forderten die Regierung zum Rücktritt auf. Aus Protest gegen den Regierungsentscheid übergossen sich dann am Donnerstag drei Verwandte gefallener Soldaten mit Benzin und zündeten sich an. Sie sollen laut der türkischen Nachrichtenagentur Anatolia schwer verletzt in Kliniken gebracht worden sein. Bei Kämpfen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Guerilleros in der zentralanatolischen Provinz Tunceli sind Anfang der Woche sechs türkische Soldaten umgekommen. In Ankara wird vermutet, dass es sich bei den Kurdenkämpfern um eine Splittergruppe der PKK handelt. Bereits Anfang des Jahres hatte der kurdische Fernsehsender Medya gemeldet, dass eine Guerillagruppe in Tunceli sich weigere, dem Ruf Öcalans nach einem Waffenstillstand Gehorsam zu leisten. Es ist nicht klar, ob diese Gruppe einen Einzelfall bildet oder ob es sich dabei um den Beginn eines grösseren Spaltungsprozesses innerhalb der PKK handelt. |