Tagesspiegel, 15.1.2000 Öcalan-Gnadenfrist führt zu Regierungskrise Türkischer Koalitionspartner MHP wird von Basis ausgebuht Thomas Seibert Abdullah Öcalan weiß, wem er sein Leben zu verdanken hat. Als "Neuanfang" lobte der inhaftierte PKK-Chef die Entscheidung der türkischen Regierung, ihn vorläufig nicht zum Galgen zu führen. In seiner ersten Erklärung zum Beschluss der Koalition versicherte der inhaftierte Rebellenchef der Regierung von Ministerpräsident Bülent Ecevit, sie werde ihre Entscheidung nicht bereuen: "Wir werden unseren Beitrag leisten", betonte Öcalan mit Blick auf den Kurdenkonflikt. Selbst die Warnung Ankaras an die PKK, jeder Versuch, die Milde gegenüber Öcalan für ihre Zwecke auszubeuten, werde dessen sofortige Hinrichtung zur Folge haben, geht für den Todeskandidaten auf Imrali in Ordnung: "Das ist richtig." Öcalan ist über die Haltung Ankaras offenbar so erleichtert, dass er sein eigenes Schicksal in biblischen Dimensionen sieht: "Jesus wurde ans Kreuz genagelt. Ich glaube aber, dass unser Schicksal anders sein wird." Schon früher hatte sich Öcalan mit Stammvater Abraham verglichen, der nach moslemischer Überlieferung durch Gottes Fügung der Todesstrafe entging. Doch nicht nur der Staatsfeind auf Imrali ist froh über den Beschluss von Ankara. "Bravo, Regierung", schrieb eine Leitartiklerin in der nationalistischen Zeitung "Hürriyet". "Die Koalitionschefs sind ihrer historischen Rolle hervorragend gerecht geworden", urteilte der Kolumnist Oktay Eksi im selben Blatt. Die Istanbuler Börse reagierte mit einem neuen Höchststand. Staatspräsident Süleyman Demirel zollte der Regierung ebenfalls Anerkennung: Die Entscheidung gegen eine sofortige Hinrichtung Öcalans sei ein Beitrag zum inneren Frieden im Land gewesen. Von einem Beitrag zum inneren Frieden der rechtsextremen Koalitionspartei MHP kann dagegen keine Rede sein. MHP-Chef Devlet Bahceli muss sich von der Basis und von hohen Funktionären anhören, er sei umgefallen. Schließlich hatten Bahceli und andere Mitglieder der Parteiführung bis zum Koalitionsgipfel vom Mittwoch versprochen, Öcalan werde hängen. Während des siebenstündigen Treffens von Bahceli, Ecevit und dem dritten Koalitionspartner, Mesut Yilmaz, stand das Regierungsbündnis kurz vor dem Scheitern. Bahceli hatte bereits seinen Austritt aus der Koalition erklärt, bevor er von Yilmaz in einem Einzelgespräch doch noch umgestimmt werden konnte. Nun versucht Bahceli, mit patriotischen Parolen innerhalb der Partei für seine Position zu werben: "Zuerst das Land, dann die Partei", gibt er als neue Losung aus. Zudem will die MHP dem ausgewiesenen Todesstrafen-Gegner Ecevit ein wichtiges Zugeständnis abgerungen haben, mit dem der rechte Rand der Wählerschaft ruhiggestellt werden soll: Die Türkei werde Öcalan bis zur Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zwar nicht hinrichten - weil das Urteil aber nur ausgesetzt ist, könne bis dahin auch die Todesstrafe nicht abgeschafft werden, frohlockte MHP-Minister Koray Aydin. |