Die Welt, 15.1.2000 Lagerkämpfe im Iran sind voll entbrannt Die Parlamentswahlen am 18. Februar werfen ihre Schatten voraus: Die Reihen der Kandidaten lichten sich Von Evangelos Antonaros Athen/Teheran - Das dünne Büchlein ist nicht gerade aus dem Stoff, aus dem normalerweise Bestseller gemacht sind. Der Inhalt, die politische Grundsatzrede eines abgehalfterten Politikers, wirkt nicht nur auf den ersten Blick langweilig. Und mit einem Preis von umgerechnet zehn Mark ist es sehr teuer für iranische Verhältnisse. Dennoch sind in wenigen Wochen mehr als 60 000 Exemplare verkauft worden. Der Autor wird allerdings demnächst keine Chance haben, seine Thesen öffentlich zu vertreten oder gar sie politisch umzusetzen. Ex- Innenminister Abdullah Nuri, der seit einigen Wochen wegen Beleidigung der höchsten Autorität im Lande im berüchtigten Evin-Gefängnis sitzt, darf bei den Parlamentswahlen am 18. Februar als Kandidat nicht antreten - und das, obwohl er als besonders enger Vertrauter von Staatspräsident Mohammed Chatami gilt. Gemeinsam mit etwa 70 anderen Vertretern des so genannten Reformlagers ist er vom mächtigen Wächterrat von der Kandidatenliste gestrichen worden. Dieses Gremium aus sechs ranghohen Mullahs und sechs islamischen Rechtsgelehrten überprüft jeden einzelnen Bewerber auf seine islamische Qualifikation. Und sogar beim vagen Verdacht, von der amtlichen Linie abgewichen zu sein, wird jeder Iraner oder jede Iranerin mit einem politischen Betätigungsverbot belegt. So sind neben Nuri und zahlreichen Journalisten auch so prominente Protagonisten der Islamischen Revolution wie Abbas Abdi durchgefallen, der 1979 die Geiselnahme in der US-Botschaft mitorganisiert hatte, aber inzwischen dem Reformlager angehört. Gut fünf Wochen vor dem zweifellos entscheidendsten Urnengang seit dem Sturz des Schah-Regimes läuft die politische Auseinandersetzung auf Hochtouren. Kein günstiges politisches Umfeld für den deutschen Geschäftsmann Helmut Hofer, dem am 20. Januar erneut der Prozess gemacht werden soll. Diesmal wird er wegen angeblicher Verbindungen zu "verdächtigen Elementen" zur Verantwortung gezogen. Die Hardliner, vom geistigen Oberhaupt und Khomeini-Nachfolger Ayatollah Ali Khamenei angeführt, wollen den Status quo erhalten und die eigenen Besitzstände um jeden Preis retten. Ihre Gegner unter Chatami treten hingegen für mehr Freiheiten in allen Bereichen und für eine Liberalisierung der Wirtschaftsstrukturen ein. Auch im Mullah-Lager haben sie mächtige Verbündete, etwa Ayatollah Montaseri, der in Khomeinis letzten Lebensmonaten entmachtet worden war und von Qom aus, wo er unter Hausarrest steht, die Allmacht des "obersten Rechtsgelehrten" als letztinstanzliche Macht im Staat und somit Khameneis Position infrage stellt. "Es geht um erheblich mehr als eine normale Wahlentscheidung", meint ein regimekritischer Journalist. Wie die Verteilung der 290 Sitze im neuen Teheraner Parlament ausfällt, wird letztlich entscheiden, welchen Kurs der Iran für die nächsten Jahre einschlägt. Bleiben die Traditionalisten in der Mehrheit, so wird der 1997 als großer Hoffnungsträger gewählte Chatami weiterhin wenig durchsetzen können. Gewinnen die Reformer, so könnte er einige Erwartungen seiner weitgehend frustrierten Anhänger erfüllen. Die Reformer sind trotz der Verbote, die nicht so dramatisch, wie zunächst von ihnen befürchtet, ausgefallen sind, recht siegessicher. Zahlreiche Zeitungen, die sofort an die Stelle von verbotenen Blättern erscheinen, stärken ihnen den Rücken. Aber auch die Traditionalisten wollen nichts dem Zufall überlassen. Zu ihrem Spitzenkandidaten haben 16 Gruppen Ex-Staatspräsident Haschemi Rafsandschani ernannt, der in den achtziger Jahren das Spitzenamt als vermeintlicher Reformer übernommen hatte. Die Hardliner wollen die Fehler der Präsidentenwahl 1997 nicht wiederholen, als ihr Wunschkandidat, der damalige Parlamentspräsident Natek-Nuri, von Chatami geschlagen wurde. Bei der jungen Generation, die gemeinsam mit den Frauenstimmen wohl den Ausschlag geben wird, kommt Rafsandschani nicht gut an: Eine Umfrage unter Studenten der Schatif-Universität hat ergeben, dass knapp 70 Prozent aller Befragten ihn als Vertreter der alten Garde ablehnen. Präsident Chatami im Internet: http://www.persia.org/khatami/index.html |