Der Bund (CH), 15.1.2000 DAS AKTUELLE BUCH Stellt sich die Türkei? WALTER LÜTHI Wie ein Damoklesschwert hängt die Armenienfrage über den künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei. Zwar ist ihre Aufnahme - Ankara ist seit Dezember EU-Kandidat mit besonderem Status - nicht expressis verbis mit der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern verknüpft. Aber gerechtigkeitshalber sollte diese Forderung ebenfalls offen gestellt werden. Die Türkei müsste den Untergang der einst grössten christlichen Gemeinschaft im Osmanischen Reich historisch objektiv aufarbeiten: sich der Geschichte stellen und den Völkermord im Ersten Weltkrieg anerkennen, den nicht die Republik, sondern das jungtürkische Regime begangen hatte. Weitgehend verdrängt Im Sammelband «Die armenische Frage und die Schweiz» hat der in Deutschland lebende türkische Historiker Taner Akçam die Tabuisierung des Völkermordes von 1915 und der Massaker unter Sultan Abdulhamid psychoanalytisch gedeutet. Akçam, der seine kritische Haltung in der Türkei mit Gefängnis büsste, spricht von Gedächtnislücke und Trauma: «Wir haben uns nicht damit abgefunden, von einem Imperium, das sich auf drei Kontinente ausbreitete, zu einer kleinen Republik zu schrumpfen, die zwischen zwei Kontinente eingeengt wurde.» Wollten Staat und Gesellschaft genesen, so brauchte die Türkei eine «historiographische Therapie»: «Die verlorene Geschichte muss erneut ins Bewusstsein gerufen werden», fordert Akçam. Vor dem aktuellen geistigen Klima und den Machtverhältnissen in Ankara bleibt Akçams Forderung leider Wunschdenken - aus mehreren Gründen: Die Gründung der Republik wird als «Stunde null» aufgefasst; mit der Vertreibung der Armenier durch die Jungtürken wurde Anatolien «sunnitisch homogenisiert», was dem aggressiven Nationalismus der Republik Vorschub leistet und die Lösung der Kurdenfrage erschwert. Und diese wiederum ist, wie Hamit Bozarslan in seinem brillanten Essay aufzeigt, eng mit der armenischen Frage verzahnt - bis hin zu Berg-Karabach. Nach Bozarslan war der kurdische Nationalismus zuerst eine Antwort auf den armenischen, bevor er sich mit dem türkischen Nationalismus konfrontiert sah (und sieht). Akçams psychoanalytische Sicht der Verweigerungshaltung der Türkei bleibt wahrscheinlich auch deshalb folgenlos, weil das Schicksal der Armenier nach wie vor auf internationaler Ebene weitgehend verdrängt wird. Im Schatten des Völkermords Dass dem nicht immer so war, machen die wissenschaftlich untadeligen, deshalb nur einen kleinen Kreis ansprechenden Beiträge mehrerer Historiker über die Hilfsbereitschaft in der Schweiz deutlich. Während sich der Bundesrat neutral verhielt, der «Bund» sich zur philarmenischen Bewegung kritisch äusserte, setzten sich vor allem kirchliche Kreise, ausgehend von der Westschweiz, zugunsten der verfolgten Armenier ein. «Wohl zum ersten Mal seit dem Sonderbundskrieg (1847) und den Gehässigkeiten im Umfeld der Judenemanzipation (1860er-Jahre) engagierten sich weite Kreise der protestantischen, katholischen und jüdischen Schweiz unisono für eine Sache», bilanziert Hans-Lukas Kieser. Auslöser waren die Massenmorde von 1894 bis 1896 unter Sultan Abdulhamid, die allzu lange vom Völkermord «überschattet» wurden. Hier schliesst die Forschungsarbeit von Jelle Verheij eine wichtige Lücke. Die Massaker sind laut Verheij, verkürzt, die Folge der Reformen, die von den damaligen Grossmächten diktiert wurden, der Missionierung amerikanischer Protestanten und der Entmachtung der kurdischen Stammeschefs. Die armenische Frage und die Schweiz (1896-1923). Herausgeber Hans-Lukas Kieser. Chronos-Verlag, Zürich 1999. 300 Seiten. Fr. 48.-. |