Süddeutsche Zeitung, 20.1.2000 Ein gefährliches Fragespiel Brüssel gibt illegal im Land lebenden Ausländern eine Chance - doch sie riskieren die Abschiebung Von Cornelia Bolesch Brüssel, 19. Januar - Kukaj Ndue ist 33 Jahre alt. Er ist aus Albanien geflohen, weil er als Gewerkschafter Ärger mit der Regierung bekam und auch, weil er nicht wusste, wie er mit dem kargen Gehalt eines Bergarbeiters über die Runden kommen sollte. Seit sieben Jahren lebt Kukaj Ndue in Belgien. Seine beiden Kinder, zwei Jahre und sechs Monate alt, sind hier geboren. Er hat Arbeit bei einer Baufirma gefunden und belgische Freunde. In seiner Freizeit arbeitet er als Übersetzer für die Behörden. Ganz offiziell. Dabei trägt er seit drei Jahren die staatliche Aufforderung in der Tasche, das Land sofort zu verlassen. Denn Kukaj Ndue ist ein Sans-Papiers, einer von schätzungsweise 70 000 Menschen ohne Papiere, die sich illegal in Belgien aufhalten. Ganz unterschiedliche Schicksale verbergen sich hinter dieser Zahl. Es gibt "Illegale", die seit Jahren von der Hand in den Mund leben, in Verstecken, immer in der Angst vor Entdeckung. Andere wohnen bei Angehörigen, die sich legal im Land aufhalten. Wieder andere leben fast so wie die meisten Belgier. Sie haben Arbeit, ein Bankkonto und sie zahlen ihre Strom- und Fernsehgebühren. Ein Sans-Papiers wie Kukaj Ndue zum Beispiel hat "nie eine Maske getragen" und ist dennoch nie in Abschiebehaft gekommen. Bereits dreimal habe ihn die belgische Polizei aufgefordert, das Land zu verlassen. Er habe geantwortet, er wisse nicht, wohin er gehen solle. Da hätten sie ihn in Ruhe gelassen, erzählt er den Journalisten. Frist bis Ende Januar Der Albaner Kukaj Ndue möchte künftig ohne die schlummernde Angst vor der Ausweisung leben. Wie viele Schicksalsgenossen hat er sich nun bei seiner Kommune gemeldet. Er nimmt Teil an der Aktion der Regierung zur Legalisierung der Illegalen. Er wird den Behörden vier Fragen beantworten und dann möglicherweise die Erlaubnis bekommen, auf Dauer zu bleiben. Kukaj Ndue hat gute Chancen, den Test zu bestehen. Für andere illegal in Belgien lebende Ausländer birgt die großzügige offizielle Geste ein hohes Risiko. Denn wer sich mit seiner Adresse "geoutet" hat, aber nicht mindestens eines der vier Kriterien erfüllt, dem droht die Ausweisung. Anspruch auf den legalen Status hat, wer länger als vier Jahren in Belgien darauf gewartet hat, dass sein Asylgesuch beantwortet wird. Ebenso, wer begründen kann, dass die Rückkehr in sein Heimatland "unmöglich" ist, oder wer schwer erkrankt ist. Doch es ist das vierte Kriterium, das unter den Illegalen, die jetzt zu hunderten Rat bei Flüchtlingsorganisationen suchen, die meisten Hoffnungen und Unsicherheiten provoziert. Da wird nämlich der Nachweis "dauerhafter Bindungen" im Land verlangt. Dies gilt als erfüllt, wenn jemand belegen kann, dass er länger als sechs Jahre im Lande gelebt hat. Für Menschen, deren Existenz davon abhängt, nicht aufzufallen und keine Spuren zu hinterlassen, ist das oft keine leichte Aufgabe. Bis Ende Januar haben die Illegalen Zeit, die nötigen Unterlagen zu besorgen. Eine unabhängige Kommission soll dann im Auftrag des Innenministers die Fälle beurteilen. In der Regierung rechnet man damit, dass am Ende der Aktion mindestens 20 000 Anträge auf Legalisierung eingegangen sein werden. Die Flüchtlingsorganisationen fordern bereits, dass die Frist verlängert wird. Es gebe unter den Ausländern noch großen Informationsbedarf und große Unsicherheit. Drohungen und Demonstrationen des rechtsradikalen Vlaams Blok gegen die Legalisierungspolitik der Regierung haben etliche Ausländer zusätzlich eingeschüchtert. Es ist nicht das erstemal, dass Belgien den Illegalen eine Chance gibt. 1974 haben bei einer ähnlichen Aktion rund 7000 Menschen Papiere bekommen. In den Jahren davor wurden noch ganz legalspanische, italienische und türkische "Gastarbeiter" ins Land geholt. Doch mit den wachsenden wirtschaftlichen Problemen wurden auch in Belgien die Grenzen dicht gemacht. Asyl wird nur in wenigen Fällen gewährt. Dann aber erstickte im Oktober 1998 die Nigerianerin Semira Adamu bei einer Abschiebeaktion, als Polizisten ihr ein Kissen auf Mund und Nase drückten. Ihr Tod löste landesweit Proteste aus, führte zu Kirchenbesetzungen und brachte die Forderung nach einer dauerhaften Perspektive für die Illegalen auf die politische Tagesordnung. Erst die im vergangenen Jahr neugewählte belgische Regierung aus Sozialisten, Liberalen und Grünen unter Guy Verhofstadt leitete eine neue Ausländerpolitik ein. Sie hat zwei Gesichter: ein liberales und ein restriktives. Einerseits sollen die Asylverfahren beschleunigt und die bereits in Belgien lebenden Einwanderer besser integriert werden. Andererseits sollen abgelehnte Bewerber schneller abgeschoben werden. Diese härtere Seite der Ausländerpolitik zeigt sich auch während der Aktion für die Illegalen. Seit einheinhalb Wochen werden an den belgischen Grenzen wieder Autos und Züge kontrolliert. Innenminister Antoine Duquesne verteidigte die Maßnahmen. Kriminelle Schlepperbanden müssten abgeschreckt werden, die versuchen würden, Flüchtlinge gerade wegen der Aktion zugunsten der Sans-Papiers ins Land zu schleusen. Die belgischen Kontrollen sind kein Verstoß gegen EU-Recht. Das Schengen-Abkommen, das offene Grenzen propagiert, gibt jedem Land die Möglichkeit, für eine begrenzte Zeit wieder Kontrollen einzuführen, wenn es die nationale Sicherheit oder das öffentliche Interesse verlangt. Allerdings wird in dem Abkommen keine Frist definiert. Innenminister Duquesne hat in einem Interview bekräftigt, dass die Grenzkontrollen eine vorübergehende Maßnahme seien. Gleichzeitig aber forderte er "grundlegende Lösungen" gegen die illegale Einwanderung. Rund 5000 Ausländer hätten im vergangenen Dezember in Belgien einen Asylantrag gestellt. Davon seien weniger als 200 mit dem Flugzeug ins Land gekommen, die anderen seien über die Grenzen geschleust worden. Nun fordert der Minister "eine europäische Offensive gegen die Schlepperbanden". |