junge Welt, 22.1.2000 Der Hilferuf wurde nicht erhört Offenbar Flüchtlingsboot in Adria gesunken. Schwere Vorwürfe an Behörden Mit aller Wahrscheinlichkeit sind in der Nacht vom 30. zum 31. Dezember 1999 im Kanal von Otranto in der Adria 59 Bootsflüchtlinge ums Leben gekommen. Bemerkt hat den Vorfall offenbar niemand. Am vergangenen Montag jedoch waren Reste eines Schlauchbootes mit einer Frauenleiche vor der albanischen Küste gefunden worden. Die Aussagen von Angehörigen, die vor drei Wochen das Verschwinden des Bootes gemeldet hatten, erhielt so eine Bestätigung. Die tote Frau sei laut Autopsie vor zehn bis zwölf Tagen gestorben. Die Brüder Sheptim und Entela Lumani, die gemeinsam mit der Mutter in Italien leben, erwarteten mit dem Flüchtlingstransport einen Cousin aus Albanien. Am Neujahrstag gegen 17 Uhr meldeten die beiden das Verschwinden des Schlauchbootes bei der Küstenwache Bari. Nach und nach kamen dann die Einzelheiten heraus. Nach Rekonstruktion der Tragödie starteten zwei Schlauchboote in derselben Nacht aus dem albanischen Hafen Vlora und sollten sich im Golf von Tarent treffen, der weiter im Süden der üblichen Flüchtlingsroute liegt. Am Morgen des 31. Dezember nahm ein türkisches Schnellboot 29 Schiffbrüchige des einen Schlauchbootes auf; vom anderen und seinen 59 Passagieren dagegen gab es keine Spur. Nach Angaben der italienischen Presse war das rund zwölf Meter lange Boot hoffnungslos überladen, brach im hohen Wellengang schon wenige Seemeilen nach dem Auslaufen völlig auseinander und riß die Menschen vor der albanischen Küste ins kalte Meer. Nun stellt sich die Frage, ob die Menschen nicht gerettet werden konnten, hätten die Behörden sofort auf den Alarm reagiert. Tagelang war die Nachricht über das verschwundene Schlauchboot sowohl auf italienischer als auch auf albanischer Seite als Falschmeldung abgetan worden. Der neue Staatssekretär im italienischen Innenministerium, Alberto Maritati, hatte den von der apulischen Lokalzeitung Quotidiano di Lecce veröffentlichten Artikel über das Unglück mit fast allen Namen der Passagiere sogar als »unbegründet« zurückgewiesen. Nach der Bergung der Frauenleiche vom Montag konnte jedoch niemand mehr die Tatsachen abstreiten. »Das ist eine ignorierte Tragödie«, kritisiert Entela Lumani, der am Neujahrstag die Vermißtenanzeige bei der Küstenwache Bari erstattet hatte und vergeblich versuchte, die italienischen Behörden vom Kentern des Bootes zu überzeugen. »Wissen Sie, was man mir geantwortet hat, als ich vom Unglück berichtete? Sie sagten mir, daß das keine wichtige Nachricht sei.« Niemand habe sich um ihre Hinweise geschert. Staatssekretär Maritati verteidigt sich jetzt damit, daß er keine Möglichkeit gehabt habe zu überprüfen, ob das Boot auch tatsächlich ausgelaufen sei. Die italienische Regierung steht nun unter Erklärungszwang wie am 28. März 1997, als ein Schiff der italienischen Marine den albanischen Frachter »Katar I Rades« rammte und 86 Menschen in den Tod riß. Italiens neuer Innenminister Enzo Bianco, der zuvor Bürgermeister der sizilianischen Stadt Catania war, schiebt die Schuld am Unglück allein auf die albanische Polizei. Und den Flüchtlingsschleppern erklärte er den Krieg. Cyrus Salimi-Asl, Neapel |