Berliner Zeitung, 25.1.2000

Kein Pass, keine Rechte: 100 000 leben illegal hier

von marlies Emmerich und Marijke Engel

Bis zu 100 000 Menschen leben nach Schätzungen von Wohlfahrtsverbänden und des Erzbistums "illegal", das heißt ohne Papiere und Aufenthaltsrecht in Berlin. Ihr Alltag ist geprägt "von Angst, Willkür und Schutzlosigkeit", sagte die Migrationsbeauftragte des Erzbistums, Schwester Cornelia Bührle, am Montag. Zu der großen Gruppe der Betroffenen gehören ihren Angaben nach in erster Linie abgelehnte Asylbewerber, Flüchtlinge vor allem aus Südamerika und Osteuropa oder mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockte Frauen.

In einer von der katholischen Kirche herausgegebenen Studie "Illegal in Berlin - Momentaufnahmen aus der Bundeshauptstadt" wird beklagt, dass in all diesen Fällen Gesundheitsversorgung, Arbeitsmöglichkeiten und Schulbildung völlig ungeklärt seien. Die Autorin des 130 umfassenden Buches, Bettina Hartmann, spricht von "de facto rechtlosen, postmodernen Vogelfreien". Weil Menschen ohne Pass sich nirgendwo wehren könnten, entstünden oft "ausbeuterische Abhängigkeitsverhältnisse". So könne keiner der Betroffenen gegen nicht eingehaltene Lohnzusagen der Arbeitgeber juristisch vorgehen. Nach Angaben von Schwester Bührle liegt es im Ermessen der Schulleitungen Kinder ohne Papiere unbürokratisch aufzunehmen: "Diese Entscheidung ist enorm schwierig."Zugleich wies die Migrationsbeauftragte darauf hin, dass die breite Öffentlichkeit kaum Interesse an den Schicksalen der "Illegalen" zeige. Viele Berliner würden diese Männer und Frauen ohne Nachdenken als Putzfrauen, Babysitter, Kellner, Küchenhilfen oder als Bauarbeiter akzeptieren und von ihrem Einsatz profitieren.

In der Studie des Erzbistums nehmen erstmals Richter, Ärzte und Mitarbeiter der "Arbeitsgruppe Ausländer" der Polizei Stellung. Der Chef der AG Ausländer in Kreuzberg/Neukölln, Klaus Röchert, schreibt über seine Arbeit: "Sagen wir mal, in der Straße X hat eine Moschee aufgemacht. Und dann gibt es irgendwann Ärger. Dann fragt man sich, kann man die Lage schon im Vorfeld klären. Oder müssen wir dort mit einem riesigen Polizeiaufgebot aufmarschieren?"

Kritik an "Ausländersituation"

Röchert beklagt auch die "ganze Ausländersituation": "Der oder die kann heute festgenommen werden und morgen schon wieder nicht. Nach Jugoslawien gibt es zum Beispiel zur Zeit wieder Abschiebungshindernisse." Würden jedoch Menschen aus diesem Gebiet ohne Visum aufgegriffen, müssten sie als Illegale festgenommen werden. Nach Ansicht von Röchert kann in seiner Gruppe keiner Dienst tun, der Ausländern gegenüber eine negative Einstellung habe. "Es kommt vor, dass jemand nach einem Vierteljahr sagt, das halte ich nicht durch", schreibt Röchert.

ILLEGALE

11 000 ungeklärte Fälle

Etwa 33 000 abgelehnte Asylbewerber bilden unter den "Illegalen" die vermutlich größte Gruppe (Stand: 1998). Vor dem Gesetz zählen alle jeder, der kein Aufenthaltsrecht besitzt als "illegal".

Mehr als 11 000 Menschen in Berlin sind der Ausländerbehörde unter den geschätzten 100 000 Illegalen als so genannte ungeklärte Fälle bekannt. 1 400 Menschen können oder wollen keine Angaben zur Herkunft machen. Fast 2 500 Staatenlose gehören ebenfalls zu denjenigen, deren Status ungeklärt ist.

30 000 Flüchtlinge leben mit einer Duldung in Berlin. Das ist ein Aufenthaltspapier, das meist nur für eine Frist von wenigen Monaten ausgestellt ist. Arbeiten ist Geduldeten fast immer nicht erlaubt. Auch sie gelten als "Ilegale", die abgeschoben werden können.