Neue Züricher Zeitung, 26.1.2000 Die Türkei im Banne einer grausamen Mordserie Staatliche Zerschlagung des türkischen Hizbullah Die Aufdeckung einer Serie von grausamen Morden erschüttert seit einer Woche die Türkei. Die Untaten wurden vom türkischen Hizbullah begangen, der im Kampf des Staates gegen die kurdischen Rebellen im Südosten des Landes während Jahren eine düstere Rolle gespielt hat. Landesweite Polizeirazzien gegen Anhänger des Hizbullah lassen vermuten, dass Ankara den schmutzigen Krieg in Südostanatolien beenden möchte. it. Istanbul, 25. Januar Seit einer Woche halten schockierende Bilder von Massengräbern, von schlimm verstümmelten, nackten Leichen und von landesweiten Polizeirazzien gegen Mitglieder der radikalen Untergrundorganisation Hizbullah - auf arabisch die Partei Gottes - die türkische Öffentlichkeit in Atem und wirken wie ein kollektiver Albtraum. Dabei fing am Montag vor einer Woche alles noch wie ein spannender Krimi an. Fernsehsender wurden damals, offenbar von Polizeiquellen, über eine bevorstehende Razzia im Istanbuler Viertel Beykoz informiert, zu welcher die Kameramänner aufgerufen waren, live dabeizusein. Nach einem kurzen Feuergefecht erklärte der Polizeichef den versammelten Medienvertretern das erfolgreiche Ende der Operation. Dabei seien der Vorsitzende der Untergrundorganisation Hizbullah, Hüseyin Velioglu, umgekommen und zwei weitere Islamistenführer festgenommen worden. Zwei Tage danach hat die Polizei, offenbar auf die Geständnisse der Verhafteten zurückgreifend, zehn verstümmelte Leichen im Kohlenkeller eines Istanbuler Slumgebäudes entdeckt. Weitere Leichenfunde folgten in Ankara, in Konya in Zentralanatolien, an der südlichen Mittelmeerküste bei Mersin sowie in Adana. Bis am Montag wurden insgesamt 33 Leichen entdeckt. Aufgezeichnete Morde Der türkische Hizbullah hat offenbar die barbarischen Folterungen seiner Opfer detailliert auf Videokassetten und Computerdisketten festgehalten. In dem von der Polizei sichergestellten Material ist zu sehen, wie die vor rund 18 Monaten entführte islamistische Feministin Konca Kuris ihre Peiniger um Vergebung bittet, weil sie vom Weg Allahs abgekommen sei. Kuris, die in den letzten Jahren öffentlich für Reformen im Islam aufgerufen hatte, wurde vor ihrem Tod während über 30 Tagen von den ruchlosen Islamisten schwer misshandelt. Weitere ähnlich haarsträubende Berichte riefen in der Bevölkerung Abscheu und Angst hervor. Es sei wie ein nicht endender Horrorfilm, erklärte der Politiker Altan Öymen. Der Regierungschef Ecevit kündete bereits an, man müsse sich auf weitere grauenhafte Funde gefasst machen, solange die Ermittlungen noch anhielten. Der türkische Hizbullah, der jahrelang scheinbar Bewegungsfreiheit genoss, rückte auf einmal ans Rampenlicht. Die ersten offiziellen Berichte über den Hizbullah stammen aus den späten achtziger Jahren. Eine parlamentarische Untersuchungskommission, die sich damals mit den blutigen Vorgängen im kurdischen Südosten befasst hatte, hielt in ihrem Bericht fest, dass die Mitglieder des Hizbullah in iranischen Lagern ausgebildet würden. Die Untergrundorganisation rekrutiere ihre Mitglieder, wie auch die Kurdische Arbeiterpartei PKK, im kurdischen Südosten und beabsichtige, einen unabhängigen kurdischen Staat zu gründen. Das Schicksal des Hizbullah ist mit dem der PKK in seltsamer Weise eng verflochten. Während die Partei Gottes mit ihrem Ruf nach Einführung der islamischen Gerichtsbarkeit in der Bevölkerung kaum Gehör fand, wurden Teile des Sicherheitsapparates auf die ruchlosen, islamistischen Kämpfer aufmerksam. Die Mitglieder des kurdischen Stammes der Habizbin, die für ihren religiösen Eifer bekannt sind und in der Provinz Batman sowie in Gercüs leben, wurden als Dorfwächter angestellt. Sie erhielten vom Staat Lohn und neue Waffen und wurden laut Presseberichten gar in Kasernen der Gendarmerie ausgebildet. Der umgekommene Hizbullah-Führer Velioglu gehörte auch zum Stamm der Habizbin. Im Jahr 1993 spaltete sich der Hizbullah. Während die eine Gruppe das Morden unter Kurden ablehnte, trat die Gruppe um Velioglu für eine Fortsetzung des Kampfs gegen die PKK ein. Sie wurde deshalb im Volksmund Hizbullah-Kontra genannt. Ein Monstrum des Staates Dieser Flügel des Hizbullah ist in den neunziger Jahren hauptsächlich zu einem Instrument der Sicherheitskräfte gegen den rasch wachsenden Aufstand der Kurden im türkischen Südosten geworden und hat mit dem islamischen Radikalismus im Nahen Osten, wie mit dem Hizbullah in Libanon, ausser dem Namen nichts gemeinsam. Die türkische Presse ist über das Ausmass der Untaten empört. Der Hizbullah sei ein vom Staat kreiertes Monstrum, um die angeblichen Staatsfeinde zu bekämpfen. Doch es sei wie ein Krebsgeschwür ausser Kontrolle geraten, kommentierte die Zeitung «Turkish Daily News». Überrascht dürfte in den Redaktionsstuben allerdings niemand sein. Im letzten Jahrzehnt wurden im kurdischen Südosten laut Angaben des türkischen Menschenrechtsvereins rund 4000 kurdische Persönlichkeiten kaltblütig umgebracht. Sie machten faktisch die geistige Führung im Südosten aus. Keiner dieser anonymen Morde wurde bisher aufgeklärt. Das türkische Justizministerium nannte in der vergangenen Woche andere Zahlen. Gemäss einer an die Presse versandten Liste sind bis Ende 1998 rund 17 500 Fälle anonymer Morde gemeldet worden. Davon hätten sich 12 000 in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der Kurden, ereignet und weitere 3000 in der Stadt Van. Angehörige der Opfer machten für eine Mehrheit der Morde den Hizbullah verantwortlich. Bisher wurden allerdings keine der Hizbullah-Anhänger zur Rechenschaft gezogen. Die Regierung solle ungeachtet aller politischen Kosten sich explizit von solchen Praktiken distanzieren, forderte unmissverständlich die Tageszeitung «Sabah». Politischer Wandel Regierungschef Ecevit versprach, die Operation gegen den Hizbullah fortzusetzen, bis diese mörderische Organisation liquidiert sei. Noch wird in Ankara darüber gerätselt, wie diese Entschlossenheit, die einem politischen Kurswechsel gleichkommt, zu erklären ist. Experten sind sich darüber einig, dass der Hizbullah nach der Festnahme des PKK-Führers Öcalan und der allmählichen Auflösung der kurdischen Guerilla keine Funktion mehr hatte. Die Organisation musste demnach eliminiert werden, meint der Terrorismus-Fachmann Emin Gürses. Die islamistische Zeitung «Zaman» mutmasst, dass aus diesem Grund die Organisation versucht habe, ihr Aktionsgebiet aus dem kurdischen Südosten in die türkischen Metropolen zu verlegen. Allein während der letzten zwei Monate wurden im Grossraum Istanbul 41 islamistische Geschäftsleute, allesamt Kurden und Mitglieder der gemässigten islamischen Nurcu-Sekte, entführt, offenbar um Geld zu erpressen und die kurdische Geschäftswelt Istanbuls einzuschüchtern. Solche Praktiken wurden aber in der westlichen Türkei nicht einfach hingenommen. In den letzten Tagen sind nach Angaben der Polizei nun 285 Anhänger des Hizbullah festgenommen worden. Die prokurdische Hadep-Partei hat öffentlich die Aufklärung aller anonymen Morde gefordert. Die staatliche Zerschlagung des Hizbullah ist für die Kurden der Türkei das erste klare Zeichen dafür, dass der schmutzige Krieg, während dessen ihre Heimat mit der Duldung eines Teils der Sicherheitskräfte zum Aktionsfeld von rechtsextremen Killern, Heroinhändlern und ruchlosen Gotteskriegern wurde, allmählich zu Ende geht.
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