Stuttgarter Zeitung, 26.1.2000 Straßburger Richter bereiten der Türkei Kopfzerbrechen Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist bereits völlig überlastet - Die meisten Klagen gegen Moskau und Ankara Weniger als drei Prozent der Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind erfolgreich. Aber wenn die Kläger Erfolg haben, verändern sie zugleich die Politik und die Lebensbedingungen in ihrem Heimatland. Von Stefan Geiger Die praktische Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird noch immer unterschätzt. Dabei sind die Straßburger Richter längst zu Hoffnungsträgern geworden, gerade für Menschen in autoritär regierten Staaten. Anders als der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, dessen Tätigkeitsbereich sich auf die Europäische Union beschränkt, beteiligen sich inzwischen insgesamt 41 Staaten am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - und unterwerfen sich damit formal der Kontrolle durch dieses Gericht. Darunter sind auch Staaten, bei denen elementare Menschenrechte im praktischen Alltags keineswegs immer gesichert sind - beispielsweise Albanien, Russland, die Ukraine und die Türkei. Der Menschenrechtsgerichtshof, der 1999 erstmals als ¸¸Vollzeit-Gericht'' arbeitete, ist inzwischen völlig überlastet. Im vergangenen Jahr wurden 8396 neue Klagen registriert, rund 2400 mehr als 1998. Insgesamt lagern in Straßburg inzwischen 12635 Klagen. Aber nur 4427 Fälle konnten 1999 abgeschlossen werden. Und nur in 120 Fällen stellten die Richter einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention fest. Diese Statistik alleine belegt die Bedeutung des Gerichts noch nicht. Denn darunter sind Fälle von ganz unterschiedlichem Gewicht. Am häufigsten, nämlich 44-mal verurteilt wurde 1999 Italien, meist wegen der vergleichsweise lässlichen Sünde einer überlangen Verfahrensdauer vor Gericht (eine Rüge, die sich auch das Bundesverfassungsgericht schon gefallen lassen musste). In der Sache aber urteilten die Straßburger Richter am härtesten über die Türkei, die achtzehn Mal gerügt worden ist. Ein schwarzer Tag für die politisch Verantwortlichen in Ankara war der 8. Juli des vergangenen Jahres, an dem gleich drei Urteile gegen die Türkei gefällt wurden. Im Fall ¸¸Ogur v. Turkey'' bescheinigt der Gerichtshof Ankara eine Verletzung des elementarsten Menschenrechts, nämlich des Rechts auf Leben. Der Nachtwächter Musa Ogur sei 1990 illegal und ohne jede Rechtfertigung von türkischen Sicherheitskräften getötet worden. Außerdem hätten die türkischen Behörden sich geweigert, den Fall aufzuklären. Den Fall des von Sicherheitskräften getöteten Arztes Zeki Tanrikulu konnten die Straßburger Richter zwar im Nachhinein nicht mehr hinreichend aufklären, die Türkei entging knapp einer weiteren Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf Leben, nicht aber der Rüge wegen unterlassener Aufklärung. Gleich dreizehn türkischen Staatsbürgern bescheinigte der Gerichtshof am 8. Juli, dass ihnen in der Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung genommen sei, darüber hinaus sei sieben von ihnen das Recht auf einen fairen Prozess verweigert worden. Das Straßburger Gericht, das, wenn es sein muss, in der Türkei selbst recherchiert, arbeitet streng an der Sache und damit ohne die sonst oft übliche politische Rücksichtnahme. Wenn es in der Türkei Fortschritte in Sachen Menschenrechte gibt, hängt das nicht zuletzt mit den Aktivitäten des Europäischen Gerichtshofs zusammen. Noch lagern beim Menschenrechtsgerichtshof 655 Fälle aus der Türkei, darunter die Klage des PKK-Chefs Abdullah Öcalan. An der Spitze, was die Zahl an Klagen, auch an gewichtigen Klagen, angeht, steht aber inzwischen Russland mit 972 Fällen - vor allem wegen nicht bezahlter Löhne, Verstößen gegen Religions- und Meinungsfreiheit und gegen ein faires Gerichtsverfahren. Da steht noch einiges bevor: Die Straßburger Mühlen mahlen langsam, aber gründlich. Die Bundesrepublik Deutschland übrigens, deren Bürger durchaus beschwerdefreudig sind (534 neue Klagen), wurde 1999 nicht verurteilt.
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