Neue Luzerner Zeitung, 28.1.2000 Grauzone zwischen Mördern und Staat Türkei: Der Staat zerschlägt die Extremistenorganisation Hisbollah Die Polizei entdeckt immer neue Opfer der Hisbollah. Der Staat steht im Zwielicht, zumindest was sein früheres Verhältnis zu den Mörderbanden betrifft. VON BIRGIT CERHA, NIKOSIA Die Türkei steht unter Schock. Die Bilder verstümmelter Leichen, nackt in der Erde verscharrt oder in Kohlenkellern versteckt, versetzen die Menschen in helle Aufregung. Seit einer Woche halten immer neue Berichte von bestialischen Quälereien die Bevölkerung in Atem. 33 Opfer wurden bisher ausgegraben. Der Schrecken begann in der Vorwoche, als die Polizei in Istanbul ein von der mörderischen Untergrundorganisation Hisbollah geführtes Haus stürmte und den Chef der Gruppe, Hüseyin Velioglu, tötete. Zwei andere Hisbollah-Führer wurden festgenommen. Immer mehr «Friedhofshäuser» Fast 370 Militanten erging es in den letzten Tagen gleich, seit der Staat eine Kampagne zur Zerschlagung dieser islamischen Extremistenorganisation führt. Angeführt von gesprächigen Hisbollah-Gefangenen, entdecken die Ermittler immer mehr «Friedhofshäuser», in denen die Terroristen ihre Opfer zu Tode quälten. Allein in Konya sollen laut Angaben geständiger Terroristen mehr als hundert Tote verscharrt sein. Wie viele Menschen ums Leben kamen, lässt sich nicht abschätzen. Ministerpräsident Ecevit bereitet die Bevölkerung auf noch viel Schlimmeres vor: «Solange die Untersuchungen andauern, bin ich sicher, dass noch andere Brutalitäten ans Tageslicht kommen.» Mysteriöser Aktionsspielraum Sein Koalitionspartner Yilmaz fürchtet gar: «Wir stehen erst am Anfang dieser Affäre. Noch sprechen wir nicht vom (kurdischen) Südostanatolien. Dort werden wir die Haupttaten der Hisbollah entdecken.» Die völlig unerwartete Aktion der Sicherheitskräfte wirft ein Schlaglicht auf die militante Organisation. Wiewohl Hisbollah offen die Errichtung eines islamischen Staates erstrebt, verschonten die Behörden sie lange bei ihrem Kampf gegen islamistische Organisationen. Ihre Ursprünge sind in einen Schleier des Geheimnisses gehüllt. Vermutlich wurde die Hisbollah, wie ihr libanesischer Namensvetter, in der Folge der islamischen Revolution im Iran gegründet. Während jedoch hohe iranische Geistliche im Libanon persönlich Pate standen, lässt sich im Fall der türkischen Hisbollah ernsthaft daran zweifeln. Hätte der Iran aus dem Hintergrund die Organisation gesteuert, wären die äusserst effizienten türkischen Sicherheitskräfte der Gruppe längst energisch zu Leibe gerückt. PKK als Hauptfeind Die Hisbollah konzentrierte ihre gewaltsamen Aktivitäten auf den überwiegend kurdischen Südosten. Sie rekrutierte ihre Mitglieder weitgehend aus der armen kurdischen Bevölkerung und wählte sich bald die marxistische kurdische Guerillagruppe PKK als Hauptfeind. 1993 spaltete sich die Organisation, da ein Teil der Gruppe nicht die Waffen gegen Kurden erheben wollte. Ab wann der radikalere Teil der Bewegung begann, im Kurdengebiet die Interessen des Staates zu verfolgen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Mindestens 4000 Morde Türkische Quellen sind davon überzeugt, dass die Sicherheitskräfte Ende der Achtzigerjahre, als die PKK weite Gebiete Kurdistans unter ihre Kontrolle gebracht hatte, die Hisbollah für diesen schmutzigen Krieg einsetzten. Berichte, laut denen die «Gotteskämpfer» in Kasernen der für den Kampf gegen die PKK spezialisierten Gendarmerie ausgebildet und dort auch ausgerüstet wurden, zogen sich durch türkische Medien. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden in den vergangenen Jahren mindestens 4000 kurdische Persönlichkeiten unter mysteriösen Umständen ermordet. Kein einziger dieser Morde wurde bis heute geklärt. Ein grosser Teil der Gewalttaten dürfte auf das Konto der Hisbollah gehen. Auch rechtsradikale Mafiabanden trieben in diesem schmutzigen Krieg im Dienste des Staates ihr Unwesen. Keiner dieser Mörder wurde bisher zur Rechenschaft gezogen. Präsident Demirel und der Generalstab der Streitkräfte wiesen Anschuldigungen, der Staat habe das «Monster selbst grossgezüchtet», energisch zurück. «Der Staat verübt keine Morde», meint Demirel. Yilmaz und gesprächige Hisbollah-Gefangene vertreten jedoch die gegenteilige Meinung. Durch Zusammenarbeit mit Beamten dürfte es Hisbollah auch gelungen sein, staatliche Institutionen zu infiltrieren. Zudem fällt auf, dass die Terroristen niemals ihre Waffen gegen Sicherheitskräfte und staatliche Institutionen erhoben. Hisbollah hat ausgedient Türkische Medien rätseln über die Gründe, die den Staat nun bewogen haben, dem grausigen Monster zu Leibe zu rücken. Kein Zweifel, der Freiraum, den Hisbollah genoss, liess die Organisation zu einer höchst gefährlichen Verbrecherbande anwachsen. Zudem hat sie mit der Schwächung der PKK seit Öcalans Festnahme in der ihr zugedachten Rolle ausgedient. An der Schwelle zur EU, so meinen türkische Kreise, wolle die Türkei nun ihr eigenes Haus säubern. Ankara hofft vor allem, ausländische Investitionen für zahlreiche Grossprojekte anzulocken. Terrorbanden unter Kontrolle zu bringen ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Doch ob der Staat zur vollen Aufklärung dieser schmutzigen Machenschaften bereit ist, bleibt zweifelhaft.
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