junge Welt, 29.1.2000 Hat sich die Lage in der Türkei entspannt? Der Lehrer Ahmet Demir ist Vorsitzender der prokurdischen Partei der Demokratie des Volkes HADEP. jW sprach mit ihm F: Wie beschreiben Sie die momentane Situation in den kurdischen Gebieten der Türkei? Können die Mitglieder Ihrer Partei frei arbeiten? Man kann sagen, daß sich die Lage in den letzten Monaten etwas entschärft hat. Es ist kein Vergleich zur Lage in den Jahren zuvor. Doch noch immer herrscht in den kurdischen Provinzen der Ausnahmezustand, und davon sind auch die Nachbarprovinzen betroffen. Unterdrückung und Repression gibt es nach wie vor, und das betrifft leider auch unser Volk und unsere Partei. In den vergangenen Wochen wurden immer wieder Funktionäre unserer Partei festgenommen. Die Öffentlichkeit des Landes erwartet eine demokratische Veränderung in der Türkei, und das erfordert eine friedliche Lösung des kurdischen Problems. Wir sehen durchaus einige positive Veränderungen. Aber wir können leider noch nicht von einem veränderten Staat sprechen. Nehmen wir z. B. die jüngsten Äußerungen von Bülent Ecevit. Er drohte unserer Partei ganz offen, wir sollten mit unseren Äußerungen und Aktivitäten aufpassen und dürften die Grenze nicht überschreiten. F: Wie steht es um den Versuch, die demokratischen Kräfte in der Türkei zu vereinen? Die demokratischen Kräfte des Landes sind zersplittert. Es ist nötig, alle an einem Tisch zu bringen, um zusammenzuarbeiten, und erst dann ist es möglich, auch Fortschritte in der demokratischen Entwicklung der Türkei zu erzielen. Die Entwicklungen in dieser Richtung waren nicht schlecht in der letzten Zeit, wir hoffen, daß sie sich noch bessert. Daran arbeiten wir derzeit sehr hart. F: Was meinen Sie, wie wird in diesem Jahr in Kurdistan das Newroz-Fest gefeiert werden? Auch in der Vergangenheit, als Repression und Unterdrückung sehr stark waren, hat die Bevölkerung das Newroz-Fest ihren Traditionen gemäß gefeiert. Auch in diesem Jahr wird das so sein, um so mehr, als das Klima etwas entspannter ist. Die Bevölkerung wird massenhaft auf den Straßen sein. Vom Staat und von der Regierung erwarten wir, daß sie ihrerseits das Klima nutzt und die Feierlichkeiten nicht angreifen wird. F: Es gibt Bemühungen seitens Europas, die Schritte zu einer Demokratisierung der Türkei bzw. in Kurdistan zu unterstützen. Wird Ihre Partei von den europäischen Regierungen auch als Ansprechpartner gesucht? Unsere Partei hat immer die europäische Integration der Türkei unterstützt. Das werden wir auch in Zukunft tun. Es gehört mit zu unseren ersten Forderungen, daß die europäischen Standards auch in der Türkei Geltung erhalten. Um den europäischen Werten zu entsprechen, muß die Verfassung der Türkei geändert werden. Alle demokratischen Rechte, die Menschenrechte müssen anerkannt werden. Es müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen sich eine demokratische Republik überhaupt entwickeln kann. Dabei ist es vorrangig, daß ein friedlicher Weg zur Lösung der kurdischen Frage eröffnet wird. Auch Europa selbst sollte ein Interesse haben, daß sich diese Werte in der Türkei etablieren. F: Was, meinen Sie, wäre das Wichtigste, was sich im kommenden Jahr in den kurdischen Gebieten der Türkei verändern muß? Der Ausnahmezustand muß aufgehoben, das Dorfschützersystem aufgelöst werden; außerdem geht es um Vorkehrungen, damit die vier Millionen Vertriebenen in ihre Heimatdörfer zurückkehren können. Das heißt konkret, Gelder müssen zur Verfügung gestellt und die Rückkehr muß ermöglicht werden. Vor allem aber muß sich die Demokratisierung in der kurdischen Gesellschaft, aber auch in der ganzen Türkei entfalten können. Interview: Karin Leukefeld, Istanbul
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