junge Welt, 31.1.2000 Türkei: Erdbebengebiet amtlich verlegt Stromabschaltungen sollen Bevölkerung AKW-Bau schmackhaft machen Im November 1999 gingen in verschiedenen Groß- und Kleinstädten der Türkei die Lichter aus. In einigen Gegenden ist man zwar daran gewöhnt, daß zu bestimmten Uhrzeiten für ein bis zwei Stunden der Strom ausfällt, aber solche Ausfälle werden vorher angekündigt und gehören zu den regulären Energiesparmaßnahmen. Die Stromausfälle im November kamen allerdings überraschend und sie waren unbegründet. Sogar Staatspräsident Süleyman Demirel beschwerte sich darüber. Er meinte, daß in Cankaya gar sechsmal am Tag der Strom ausfällt. Der Meister der Demagogie wollte mit seiner »Beschwerde« ein Zeichen setzen. Unmittelbar nachdem bekannt wurde, daß der Staatspräsident seine tägliche Arbeit vermeintlich bei Kerzenlicht verrichtet und nicht fernsehen kann, begann auf der höchsten Ebene die Debatte um das »Energieproblem der Türkei«. Am 2. Dezember trafen sich die Vorsitzenden der Parteien der Regierungskoalition. An erster Stelle wurde über das AKW-Projekt in Akkuyu an der Mittelmeerküste diskutiert. Man entschied sich bei dem Treffen endgültig für den Bau des ersten Atomkraftwerks im Nahen Osten. Ein paar Tage später sagte der Vorsitzende der rechten Mutterlandspartei ANAP, Mesut Yilmaz, gegenüber Journalisten: »Gut, daß der Strom ausgefallen ist, so hat das Verständnis für das Energieproblem unseres Landes zugenommen.« Das Energieproblem der Türkei wird aber nicht von allen so gesehen wie von der Regierung und der Atomlobby. Zum Beispiel widerspricht die angesehene Kammer der Elektroingenieure der Behauptung, daß es einen grundsätzlichen Energiemangel gäbe. Viele Kraftwerke arbeiten demnach mit nur 50 bis 60 Prozent ihrer Kapazität. Der Vorsitzende der Kammer, Ali Yigit, meint: »Die meisten Probleme mit der Energieversorgung entstehen durch die maroden Stromnetze. Es entstehen etwa 30 Prozent Verlust durch die Anlagen und Leitungen.« Viele politische Beobachter sind daher der Meinung, daß die Entscheidung für Atomstrom eher politisch als energiepolitisch motiviert ist. Die Türkei will in den nächsten Jahren insgesamt zehn Atommeiler an drei Standorten bauen. Neben Akkuyu an der Mittelmeerküste liegen die anderen beiden Standorte an der Schwarzmeerküste in Sinop und in der Gegend von Igneada an der bulgarischen Grenze. Dieses abenteuerliche Vorhaben macht die Türkei für die Firmen, die Atomkraftwerke bauen, sehr attraktiv. Die Türkei ist Schauplatz eines Kampfes zwischen den Atomriesen geworden. Neben der US- amerikanischen »Westinghouse Electric Corporation« und der kanadischen »Atomic Energy of Canada« gehört die deutsch- französische »Nuclear Power International« (NPI) zu den Gladiatoren, die um den 4,5 Milliarden Dollar schweren Auftrag in Akkuyu kämpfen. Die Entscheidung darüber, welches der drei Bewerber- Konsortien den Zuschlag bekommt, ist auf den morgigen Dienstag verschoben worden. Bis zum vergangenen Sommer galt die von den Siemens AG geführte NPI als Favorit für den Auftrag. Aber seit dem Türkei-Besuch des US- amerikanischen Energieministers im August macht auch die bis dahin unscheinbare Westinghouse von sich reden. Die Kanadier, die einen CANDU-Schwerwasserreaktor verkaufen wollen, sind seit einigen Jahren in der Türkei aktiv. Nach einem Treffen der türkischen Regierung mit den Experten der staatlichen Elektrizitätswerke TEAS bekamen sie jetzt starken Rückenwind von den Ministern der rechtsextremen MHP. Da sich das in den Schwerwasserreaktoren verwendete natürliche Uran für den Bau von Atomwaffen besser eignet, favorisiert die Rechtsaußenpartei einen kanadischen Atommeiler. Wie ein Großteil der Türkei ist auch das für das erste AKW des Landes ausgesuchte Akkuyu Erdbebengebiet. In den Jahren 1987 bis 1990 untersuchten Geologen der »Dokuz Eylül Universitesi« in Izmir die Gegend und stellten fest, daß 20 bis 25 Kilometer entfernt von Akkuyu eine Bruchlinie der Erdplatten, der Ecemis-Graben, verläuft. Die staatlichen Stellen bestreiten beharrlich, daß der Ecemis-Graben aktiv ist, was die Experten der Universität Dokuz Eylül widerlegten. Sie stellten auch fest, daß keine seismischen Untersuchungen im Meer vorgenommen wurden, als die Lizenz für den Standort erteilt wurde. Wo ein nuklear-politischer Wille ist, ist auch ein Weg. Diesen Weg fand auch der Ecemis-Graben: Er wanderte einfach weit weg. Verkehrsminister Enis Öksüz (MHP) behauptete vor der Presse einfach, daß der Graben 162 Kilometer entfernt von Akkuyu verlaufe. Und er fügte hinzu, daß die Gegner des Atomkraftwerks von den Kohle- und Ölkonzernen bezahlt würden. Orhan Calisir
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