junge Welt, 1.2.2000 Die Qual der Wahl Kandidatennominierung für Parlamentswahlen im Iran abgeschlossen Die Nachricht kam einigermaßen überraschend. Weniger als zehn Prozent der über 6800 Kandidaten, die sich für die Zulassung zur Parlamentswahl am 18. Februar beworben haben, hat der Wächterrat abgelehnt. Dieses Gremium ist laut Verfassung für die Vorauswahl der Kandidaten zuständig. Es untersucht die Rechtgläubigkeit und die Einstellung der Kandidaten zum politischen System der Islamischen Republik. Der Wächterrat ist fest in Händen des konservativen Establishments. Seine zwölf Mitglieder werden zur Hälfte vom geistlichen Führer, Ali Khamenei, ernannt. Die übrigen sechs Mitglieder sind vom Parlament gewählt, in dem derzeit noch die »Konservativen« dominieren. Im Vorfeld war erwartet worden, daß der Wächterrat wesentlich mehr Bewerber ablehnt. Vor allem Kandidaten aus dem Reformlager fürchteten, dem Auswahlverfahren zum Opfer zu fallen. Und mit dem ehemaligen Innenminister Abdollah Nouri - derzeit in Haft - und Abbas Abdi, einem geläuterten Anführer der US-Botschaftsbesetzer von 1979, verweigerten die Wächter jetzt auch prominenten »Reformern« die Zulassung. Trotzdem überstanden erstaunlich viele »Reformer« das Auswahlverfahren. Die Ablehnungsquote unter zehn Prozent ist gemessen an der vorherigen Parlamentswahl niedrig. Vor vier Jahren war noch über ein Drittel der Kandidaten abgelehnt worden. Was ist passiert? Fügen sich jetzt auch die Hardliner innerhalb des Regimes dem Wunsch vieler Iraner nach mehr Freiheit? Getragen von diesem Wunsch errang der liberale Mohammad Khatami vor drei Jahren einen überwältigenden Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. In seiner Amtszeit hatte er jedoch immer wieder Schwierigkeiten mit dem von den »Konservativen« beherrschten Madschlis - dem iranischen Parlament. Die vorläufige Entscheidung des Wächterrates - die endgültigen Kandidatenlisten werden erst in den kommenden Tagen veröffentlicht - nährt bei vielen Iranern die Hoffnung auf ein reformorientiertes Parlament. Und damit auch auf bessere Chancen für Präsident Khatami, seine Politik der vorsichtigen Liberalisierung durchzusetzen. Die Stimmung im Land deutet auf einen klaren Wahlsieg der »Reformer« hin. Das wissen auch die »Konservativen«, doch sie wollen sich nicht kampflos geschlagen geben. Deshalb haben sie ihre Strategie geändert. Wenn die Niederlage schon nicht zu vermeiden sei, dann solle sie wenigstens glimpflich ausfallen, heißt es in ihren Reihen. Also wollen sie verhindern, daß sich die breite Zustimmung für das gegnerische Lager in einer klaren Parlamentsmehrheit der Liberalen niederschlägt. Dieses Ziel versuchen die Traditionalisten mit Verfahrenstricks zu erreichen. So hatte der konservative Abgeordnete Mohammadreza Bahonar Anfang Januar vorgeschlagen, statt zwei Wahlgängen nur noch einen durchzuführen. Nach dem bislang gültigen Wahlrecht mußte ein Kandidat im ersten Durchgang ein Drittel der abgegebenen Stimmen seines Wahlkreises auf sich vereinigen, um direkt ins Parlament einzuziehen. In der Hauptstadt Teheran, in der 30 Sitze zu vergeben waren, gelang dies bei den Wahlen 1996 nur zwei Bewerbern. Für die verbliebenen Kandidaten gab es einen zweiten Wahlgang, eine Art Stichwahl, bei der die einfache Mehrheit der Stimmen ausreichte. Hinter der Forderung nach nur einem Wahlgang steckt Kalkül: Die »Konservativen« hoffen, ihre Anhänger - schätzungsweise 25 Prozent der Bevölkerung - besser zu mobilisieren, wenn es nur einmal an die Urnen geht. Zwar ist Bahonars Vorhaben mittlerweile gescheitert, dennoch konnte er einen Teilerfolg für sein Lager verbuchen. Das Parlament reduzierte das Quorum für ein direktes Mandat im ersten Wahlgang auf ein Viertel der abgegebenen Stimmen. Diese Entscheidung nutzt eher den »Konservativen«. Denn voraussichtlich haben zahlreiche Reformkandidaten im ersten Durchgang mit Streuverlusten zu kämpfen. Die Auswahl für ihre potentiellen Wähler ist nämlich erstaunlich groß - und das, obwohl ihre prominentesten Reformer nicht zugelassen wurden. Für sie rücken jetzt sehr viele relativ unbekannte Kandidaten nach. Und einigen davon dürfte es schwerfallen, gleich auf Anhieb 25 Prozent der abgegebenen Stimmen zu erreichen. Dagegen hoffen die »Konservativen«, mehrere der 290 zu vergebenden Mandate direkt im ersten Wahlgang zu gewinnen. Sie setzen darauf, daß ihnen weniger Stimmen dadurch verlorengehen, daß sich die Wähler nicht für einen einzelnen Bewerber entscheiden können. Nicht zuletzt deswegen schicken sie weniger Kandidaten ins Rennen als die »Reformer«. Die Traditionalisten wissen genau: Bei einer Stichwahl haben ihre Parteigänger kaum eine Chance, deswegen konzentrieren sie sich voll auf den ersten Durchgang. Die »Konservativen« verfolgen diesmal also keine Strategie, mit der sich die Wahlen gewinnen lassen. Statt dessen setzen sie auf Schadensbegrenzung. Aus ihrer Sicht geht es eigentlich nur noch darum, eine überragende Parlamentsmehrheit der »Reformer« - sogar eine Zwei- Drittel-Mehrheit scheint derzeit möglich - abzuwenden. Dieses Ziel wollen sie erreichen, indem sie die Sympathisanten des gegnerischen Lagers bei der Stimmabgabe vor die Qual der Wahl stellen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Entscheidung der Wächter, so viele Reformkandidaten zur Wahl zuzulassen wie noch nie, in einem anderen Licht. Mehrdad Amirkhizi |