Neue Züricher Zeitung, 2.2.2000 Die Türkei im Kampf gegen die Inflation Unterstützung des IMF für die Regierung Ecevit In einem umfassenden Programm hat die türkische Regierung der Inflation den Kampf angesagt. Fiskalpolitische Massnahmen sollen die Defizite der öffentlichen Hand abbauen und damit die Hauptursache der Inflation beseitigen helfen. Strukturreformen flankieren die Konsolidierung. Eine vorgegebene, schrittweise Abwertung der türkischen Lira dient dem Abbau der Inflationserwartungen als «Anker». Auf Grund der breiten Mehrheit der Regierung werden dem Programm Erfolgschancen eingeräumt. ey. Istanbul, im Januar Das Defizit im türkischen Staatshaushalt ist nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IMF) 1999 von 7,7% auf 12,1% des Bruttosozialprodukts (BSP) gestiegen, der Fehlbetrag der gesamten öffentlichen Hand von 8,6% auf über 14% des BSP. Die öffentliche Verschuldung nahm damit von 48,5% auf 60,5% des BSP zu. Gleichzeitig stabilisierte sich die Inflation, die im Durchschnitt der neunziger Jahre um 80% gelegen hatte, bei 68%. Grosse Erwartungen Um die Inflation zu drücken und die Wirtschaft auf den Pfad eines gleichgewichtigen Wachstums zurückzubringen, hatte der IMF kurz vor Weihnachten einem dreijährigen Beistandsabkommen mit der Türkei von 4 Mrd. $ zugestimmt. Ihm liegt ein Programm der Regierung Ecevit zugrunde, das dem IMF als «Absichtserklärung» zugestellt worden war. Der Druck auf die Türkei ist gross, dieses Programm erfolgreicher umzusetzen als die fünf Pläne zur Inflationsbekämpfung in den neunziger Jahren. Hält die Regierung diesmal ihre Politik nicht durch, so dürfte sie das Vertrauen des IMF einbüssen und könnte nicht mehr auf die ausländischen Kapitalmärkte zurückgreifen. Dann müsste sie sich an den inländischen Märkten bedienen, wo die Zinsen rasch steigen würden, so dass die Schuldenlawine das Schatzamt früher oder später überrollen würde, sagen Analytiker in Istanbul. Rezessionsfolgen Den letzten, erfolglosen Stabilisierungsversuch hatte Anfang 1998 die damalige Regierung Yilmaz eingeleitet. Er führte zu einem Rückgang der Inflation von 100% auf 70% und im Juli 1998 zum Abschluss eines für die Türkei unverbindlichen «Staff Monitored Program» mit dem IMF. Dieser Anlauf scheiterte, als nach der Russland-Krise die Zentralbank zugunsten der türkischen Valuta intervenieren musste und die Zinsen stiegen. Darauf setzte eine Rezession ein, und die Regierung lockerte ihre strikte Fiskalpolitik, so dass 1999 der Primärüberschuss des Haushalts (ohne Zinszahlungen) von 3,6% auf 0,9% des BSP zurückging. Gleichzeitig schrumpfte das BSP nach ersten Schätzungen um 2% bis 4%. Nach dem Rezessionsjahr 1994 war 1999 damit das zweitschlechteste der vergangenen fünf Jahre. Der IMF ist zuversichtlich, dass das eingeleitete Stabilisierungsprogramm 2000 zu einem realen Wachstum von 5,6% führen werde. Ferner werde das Programm es ermöglichen, den Schuldenstand bei 60,1% des BSP zu stabilisieren und das Defizit des Staatshaushalts bei 12,6%. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Primärüberschuss des Haushalts - ohne die Privatisierungserlöse - von 0,9% auf 3,9% des BSP zunimmt und sich das Primärdefizit der gesamten öffentlichen Hand von 2,7% in einen Überschuss von 2,2% des BSP umkehrt. Strikte Fiskalpolitik Mit den Ende November verabschiedeten «Erdbebensteuern» könnte der Primärüberschuss sogar noch stärker zunehmen. Wichtigster Teil dieses Pakets ist eine Quellensteuer auf Zinserträgen aus Staatsanleihen, die rückwirkend eingeführt wurde und vor allem die türkischen Banken als Hauptabnehmer der Anleihen mit schätzungsweise 3 Mrd. $ belastet. Diese Quellensteuer habe zwar der Glaubwürdigkeit der Regierung geschadet, sagt Laura Papi, Türkei-Expertin bei der Deutsche Bank Research in London. Sie unterstreiche aber die Entschlossenheit der Regierung, auch vor radikalen Massnahmen nicht zurückzuschrecken. Dass sich die Regierung bei den Ausgaben zu keinem gefälligen Populismus hinreissen liess, bezeichnet Adil Rizvi, Ökonom bei der türkischen Demirbank, als ermutigend. Die Löhne für den öffentlichen Dienst wurden für das erste Halbjahr in Einklang mit der unterstellten Inflation um nur 15% erhöht, und die Ankaufpreise für Baumwolle wurden von Ankara lediglich um 12% nach oben korrigiert. Strukturreform und Wechselkursgarantie Mit der Verabschiedung von Strukturreformen, die der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen dauerhaften Erfolg bescheiden sollen, hatte die Regierung Ecevit bereits im Sommer begonnen. In einem ersten Schritt wurden zur Entlastung der staatlichen Sozialversicherungen, deren Fehlbetrag auch im vergangenen Jahr 3% des BSP erreichte, die Pensionierungsgrenzen auf 58 bzw. 60 Jahre hinaufgesetzt. Jetzt sollen Renten- und Krankenversicherung getrennt sowie private Pensionsfonds eingerichtet werden. Erstmals will eine türkische Regierung das System der Agrarsubventionen, die mit steigender Tendenz bei 8% des BSP liegen, beschneiden. Das Subventionsgestrüpp soll zugunsten direkter Einkommensbeihilfen an die Landwirte beseitigt werden. Zudem will die Regierung die Banken-Konsolidierung wieder vorantreiben und bei der zuletzt wieder stockenden Privatisierung bis zu 8 Mrd. $ erlösen. Die Regierung will den Staatshaushalt transparenter machen und dem Zugriff der Patronage entziehen. So sollen die Ausgaben ausserhalb des Haushalts eingeschränkt und die staatlichen Banken derselben Buchprüfung wie private Banken unterworfen werden. Künftig werden sie aus der Staatskasse - wie die anderen defizitären Staatsbetriebe - weniger Zuwendungen zur Begleichung ihrer Defizite erhalten. Statt dessen sollen sie sich am Zinsniveau der Staatsanleihen orientieren und bei ihren Ausleihungen 5 Prozentpunkte draufschlagen. Allein die beiden Banken Ziraat und Halk hatten 1999 patronagebedingt ihre Verluste auf umgerechnet 17,9 Mrd. $ nahezu verdoppelt, das heisst auf 9% des BSP. Die fiskalpolitischen Massnahmen und die Strukturreformen sollen es ermöglichen, dass der Finanzierungsbedarf der öffentlichen Hand abnimmt und damit Inflation und Zinsen zurückgehen. In diesem Sinn hat die Zentralbank in Abstimmung mit dem IMF für jeden Tag des Jahres 2000 einen Wechselkurs der türkischen Lira gegenüber dem US-Dollar festgelegt. Im Juli 2001 soll gegenüber dem Dollar und dem Euro ein Wechselkursband eingeführt werden, dessen Breite sich bis Ende 2000 auf 22,5% erweitert. 2000 wird die Lira um 20% abgewertet. Die Regierung hat sich gegenüber dem IMF verpflichtet, dass der Anstieg des Indexes der Grosshandelspreise 2000 auf 20% zurückgeht, in den beiden folgenden Jahren auf 5%. Der Index der Konsumentenpreise soll nur noch um 25% (2000) bzw. 12% (2001) und 12% (2002) zunehmen. Politischer Reformwille Trotz der Skepsis gegenüber derart hochgesteckten Zielen wird der Regierung Ecevit ein Durchbruch bei der Inflationsbekämpfung zugetraut, sind doch die drei Parteien, die die Regierung bilden, aufeinander angewiesen und haben zur bestehenden Koalition keine Alternative. Laura Papi sieht gute Erfolgschancen, die Inflation 2000 auf einen Wert knapp über 30% zu senken. Da die Regierung lange aufgeschobene Reformvorhaben nun endlich angepackt habe, hätten die internationalen Finanzmärkte Vertrauen geschöpft. Dass die Türkei jetzt den politischen Willen zu Reformen habe, führt Papi auf die Krise der Emerging markets zurück, welche die internationalen Anleger wählerischer habe werden lassen. Beschleunigend hätten zudem das Erdbeben vom 17. August und die Vergabe des Kandidatenstatus durch die EU gewirkt. Gleichzeitig habe die Regierung Ecevit erkannt, dass die Senkung der Inflation sich innenpolitisch nutzen lasse. Sinkende Zinsen Bei der letzten Auktion von festverzinslichen Wertpapieren erreichten die Zinsen am 4. Januar den fast schon historischen Stand von noch 37%. Nach dem Erdbeben hatten sie bei 130% gelegen. Zekeriya Öztürk von der Demirbank erwartet, dass sich das Zinsniveau im Januar zwischen 32% und 40% einpendeln wird. Weiter sinken werde es erst, wenn die Refinanzierungskosten der Banken zurückgingen. Ausreichende Liquidität werde dazu vorhanden sein, erwartet Öztürk, denn das Schatzamt werde im ersten Quartal gegenüber dem Anleihenmarkt einen Primärüberschuss von 3,6 Mrd. $ erzielen. Im vergangenen Jahr hat die Türkei für Eurodollar-Anleihen noch 12,5% zahlen müssen; die Zinsdifferenz türkischer Eurobonds zu Libor habe im Durchschnitt 572 Basispunkte betragen, sagt Öztürk. Gegen Jahresende bildete sie sich auf nur noch 350 Basispunkte zurück. Einen weiteren Rückgang auf 200 bis 220 Basispunkte erwartet er im zweiten Quartal, wenn voraussichtlich die Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit der Türkei höher bewerten werden. Klippen für das Programm Eine mögliche Klippe für das Sanierungsprogramm erkennt Laura Papi für den Fall, dass es zu lange dauern sollte, bis sich Stabilisierungserfolge einstellten. Damit die Akzeptanz für ihre Politik erhalten bleibe, benötige die Regierung ein Wachstumsjahr. Die Chancen dafür stünden indessen gut, denn zum einen folge in der Türkei einem Rezessionsjahr meist ein solches mit hohem Wachstum, zum anderen beseitige der Rückgang des Zinsniveaus Finanzierungsengpässe. Getragen werde das Wachstum voraussichtlich von der Beseitigung der Erdbebenschäden, den Investitionen und vom privaten Konsum. Ein weiteres Risiko liegt in der Einkommenspolitik: Viele Tarifverträge laufen zwei Jahre, für das zweite Jahr aber schreibt man die Anpassung der Löhne um die Inflation des Vorjahres vor. Ein dritter Risikofaktor ist die voraussichtliche Aufwertung der türkischen Lira, da die Inflation wohl über deren Abwertung um 20% liegen wird. Das wird den Export treffen, den Import aber verbilligen, so dass sich die Handels- wie die Leistungsbilanz verschlechtern könnten.
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