Neue Züricher Zeitung, 4.2.2000 Schauplatz Türkei Bescheidene Forderungen - unmenschlicher Preis Leben und Sterben einer «islamistischen Feministin» Ende Januar wurden bei einer Razzia gegen den türkischen Hizbullah die Leichen von oft auf grausamste Weise zu Tode gebrachten Mordopfern in den Verstecken der Organisation entdeckt (vgl. NZZ 26. 1. 00). Besonderes Aufsehen erregte der Tod von Konca Kuris, die als gleichzeitig orthodoxe und kritische Muslimin das Paradox einer «islamistischen Feministin» verkörperte. Viel ist in der Türkei während der vergangenen zwei Wochen über die Opfer der radikalen türkischen Untergrundorganisation Hizbullah gesagt und geschrieben worden. Aber ein einziges Bild kann manchmal mehr aussagen als alle Berichte und Analysen: und das könnte in diesem Fall das Bild der achtzehnjährigen Sirma Kuris beim Begräbnis ihrer Mutter sein. Obwohl man inzwischen in verschiedenen Schlupfwinkeln des Hizbullah gegen fünfzig verscharrte Leichen aufgefunden hat, stehen das kontroverse Leben und Sterben des bis anhin einzigen weiblichen Mordopfers nach wie vor im Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Konca Kuris war im Juli 1998 in ihrer am Mittelmeer gelegenen Heimatstadt Mersin entführt worden; anderthalb Jahre später nun wurden ihre sterblichen Überreste im zentralanatolischen Konya zusammen mit drei weiteren Leichnamen exhumiert. Die Tränen ihrer Tochter über dem Sarg der Ermordeten verdienten eher einen Aufschrei statt langer Reden; und in solchem Sinn mögen auch diese Zeilen gelesen werden - als Ausdruck der Teilnahme am Schmerz einer jungen Frau, deren Mutter nach fünfunddreissig Tagen Folter starb, die sich perverserweise auf einer Videokassette dokumentiert fanden, während ihr Leichnam nur mehr anhand von Röntgenaufnahmen ihres Zahnarztes identifiziert werden konnte. Für Sirma Kuris scheint sich nun auf erschreckende Weise das Schicksal ihrer Mutter zu wiederholen. Konca Kuris' Schritt in die Öffentlichkeit hatte darin bestanden, dass sie sich mit dem Imam einer Moschee anlegte, weil es Frauen untersagt war, beim Abschied von einem Toten vorn zusammen mit den Männern zu beten. Infolge dieses Protestes erschien sie dann öfters in Fernsehsendungen, wo sie eine Neuinterpretation des Islam forderte, die Frauen zumindest in gewissen Hinsichten gleiche Rechte wie den Männern zugestand. - In eben jener Moschee versammelten sich dieser Tage die Trauernden um Konca Kuris' Sarg; und wie ihre Mutter forderte Sirma das Recht, am namaz-Gebet in der vordersten Reihe teilnehmen zu dürfen. Dreimal wurde sie zusammen mit den anderen Frauen zurückgetrieben: zuerst durch Konca Kuris' Schwiegervater, dann durch den Imam und am Ende mit Polizeigewalt. Warum - das konnte Sirma ebensowenig verstehen wie zuvor ihre Mutter. Schuldzuweisungen Die kürzlich eingeleitete Operation gegen den Hizbullah wurde in der Türkei wie auch im Ausland heftig diskutiert. Zeitungskommentatoren ganz unterschiedlicher politischer Herkunft behaupteten, dass der Hizbullah über lange Zeit vom Staat unterstützt und gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) eingesetzt worden sei, dass man ihn nun aber - nachdem mit der Verhaftung Öcalans das Gefahrenpotential der PKK weitgehend gebrochen worden ist - eliminieren wolle. Präsident Demirel wies diese These von sich, obwohl er zugestand, dass möglicherweise gewisse Vertreter des Staats- oder Sicherheitsapparats illegal mit dem Hizbullah kooperiert hätten. Der Führer der islamistischen Tugendpartei und der Generalstab schoben sich gegenseitig die Verantwortung für die Greueltaten der Untergrundorganisation zu; während die Vertreter des Militärs die Tugendpartei daran erinnerten, dass sie im nahe bei Ankara gelegenen Sincan gemeinsam mit dem Hizbullah demonstriert hatte, beteuerte diese, sie habe von nichts gewusst, und beschuldigte den Staat und insbesondere die Armee, das Monster des Hizbullah gezeugt zu haben. Aber all diese Schuldzuweisungen gehen über den Kopf der jungen Frau weg, der nicht gestattet war, ihrer Mutter nach deren eigenem Wunsch die letzte Ehre zu erweisen; und die daran vom Oberhaupt eben der Familie gehindert wurde, um derentwillen Konca Kuris zur Islamistin geworden war. Im Jahr 1978 war Konca Kuris siebzehnjährig, und ihr Leben veränderte sich von Grund auf, als sie den älteren Bruder eines ihrer Klassenkameraden heiratete. Sie kam aus einer nichtreligiösen Familie, sie besuchte die Mittelschule und ging unverschleiert. Die Familie des Mannes, den das junge Mädchen heiratete, war ganz anders: dort vertrat man eine äusserst konservative Auffassung der Religion, und die Frauen verhüllten sich schon zu einer Zeit, da der schwarze Schleier in türkischen Strassen noch ein äusserst seltener Anblick waren. Auch Konca Kuris beugte sich, äusserlich und innerlich, dieser Glaubensform und begann sich mit islamistischem Gedankengut zu befassen. Während der einundzwanzig Ehejahre, in deren Verlauf sie fünf Kinder aufzog, entwickelte sich ihr Interesse am Islam von einem rein persönlichen Bekenntnis zum - freilich nie bedingungslosen - politischen Engagement. Eine Zeitlang war sie Mitglied der religiösen Menzil-Sekte, trat aber wieder aus; sie reiste sogar im Rahmen einer Delegation des Hizbullah nach Iran, äusserte sich anschliessend jedoch kritisch über das dortige Regime. Kontraproduktive Toleranz? Verschiedentlich hiess es in den Berichten der letzten Tage, Konca Kuris habe mehrere Bücher verfasst; doch Refik Durbas von der grossen türkischen Tageszeitung «Milliyet» ist trotz Recherchen in Konca Kuris' Heimatstadt Mersin bis anhin auf keine Schriften von ihrer Hand gestossen. Weder die Tochter Sirma noch Necla Kuris, die ältere Schwester der Ermordeten, wissen etwas von Buchpublikationen; es heisst, vor einigen Jahren sei eine Broschüre erschienen, doch auch davon ist kein Exemplar mehr aufzutreiben. Ihre Freundinnen bei der lokalen Frauenorganisation sind freilich rasch mit Konca Kuris' drei Hauptanliegen bei der Hand: dass die Gebete auf türkisch und nicht auf arabisch abgehalten werden sollten; dass Frauen zusammen mit den Männern beten dürften; und dass das Tragen des schwarzen Schleiers im Koran nicht vorgeschrieben sei. Es ist tragisch, dass diese bescheidenen Postulate so unendlich grausam geahndet wurden - in einer seit 75 Jahren bestehenden säkularen Republik zudem, die Frauen im öffentlichen Bereich ein beträchtliches Mass an Gleichberechtigung zugesteht. So wurde ihnen das Wahlrecht schon 1934 erteilt: früher als in vielen europäischen Ländern, zehn Jahre früher sogar als in Frankreich, der «Wiege der Demokratie». Es ist gleichermassen tragisch, dass dieser Fall auch als Warnung vor einer Art unheiliger Allianz zwischen fortschrittlichen Überzeugungen und den verhärteteren Schichten islamischer Tradition gelesen werden muss. Die Gleichheit von Mann und Frau ist im traditionellen islamischen Recht nicht gegeben: das Zeugnis zweier Frauen gilt gleich dem eines Mannes, im Erbrecht sind die Frauen zwar berücksichtigt, doch gleichzeitig beschränkt es ihre Ansprüche, und ähnliches gilt für andere Bereiche der Rechtsprechung. So ist der Schleier nicht ein harmloses Kleidungsstück, sondern ein ideologisches Symbol; und im öffentlichen Bereich trennt er die Geschlechter nicht nur äusserlich, sondern auch hinsichtlich ihres rechtlichen Status. Wenn man heute im Ausland gelegentlich die teilweise massive Unterdrückung islamistischer oder auch nur islamischer Tendenzen in der Türkei zu kritisieren geneigt ist, wird dabei häufig die Ambivalenz einer solchen Haltung übersehen. Im Geiste moderner multikultureller Toleranz will man den Frauen das Recht auf Verschleierung zugestanden wissen, als wäre dies ein progressives Anliegen: eines, das - oberflächlich betrachtet - um so mehr gerechtfertigt scheint, als ihm der türkische Staat zurzeit mit offener Repression begegnet. Doch dieser von einem modernen Verständnis der Menschenrechte geprägte Standpunkt, der - durchaus plausiblerweise - in erster Linie die religiösen Traditionen und Bedürfnisse der Bevölkerung und individuelle Persönlichkeitsrechte gegen die Übergriffe der Staatsmacht zu schützen sucht, kann angesichts des Schicksals von Konca Kuris und ihrer Tochter wohl nicht mehr ohne weiteres gehalten werden. Es ist tröstlich, aber auch allzu einfach, darauf zu beharren, dass sich die extremistischen und terroristischen Potentiale der Religion mit wachsendem Bruttosozialprodukt nach und nach schon abbauen werden. Denn inzwischen wird Sirma Kuris' Schrei nicht verstummen. Und wer kann die Augen verschliessen vor dem, was er einklagt? Feride Çiçekoglu Feride Çiçekoglu war in den achtziger Jahren vier Jahre als politische Gefangene in der Türkei in Haft. Sie ist als Schriftstellerin und Drehbuchautorin tätig und lehrt Visuelle Kommunikation an der Universität von Istanbul.
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