Der Bund (CH), 10.2.2000

Vater- und Völkermord in Anatolien

LITERATUR / In «Salman» schildert Yasar Kemal ein traumatisches Geschehen , das er zum Teil selbst erlebt hat.

FRIDOLIN FURGER

Die Anerkennung Yasar Kemals setzte im deutschen Sprachraum sehr spät ein, erreichte aber 1997 mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels einen umso bemerkenswerteren Höhepunkt. Die Ehrung galt vorab einem begnadeten Erzähler, der in seinem Werk wie kein anderer die Realität der Türkei des 20. Jahrhunderts spiegelt. Nicht zuletzt galt der Preis aber auch einem Autor, der sich mutig und unermüdlich für die Freiheit und das friedliche Zusammenleben der Völker einsetzt.

Bereits als Siebzehnjähriger wurde der 1923 in der Cukurova (Südanatolien) geborene Autor wegen seiner sozialistischen Gesinnung inhaftiert und gefoltert. Später war er berühmt genug, um, wie z. B. 1971, auf internationalen Druck hin freizukommen. Dennoch musste er um sein Leben fürchten und ging er Ende der Siebzigerjahre für drei Jahre nach Schweden ins Exil. Seit 1995 sieht er sich erneut im Clinch mit dem Staat. Wegen seiner Kritik am Krieg gegen die Kurden und an den Menschenrechtsverletzungen wurde er vor das Staatssicherheitsgericht gebracht, aber freigesprochen. Für einen Beitrag im Buch «Die Meinungsfreiheit in der Türkei» erhielt er dann aber eine zwanzigmonatige Gefängnisstrafe auf Bewährung. Yasar Kemal hat zwar auch Erzählungen und kürzere Romane geschrieben wie «Töte die Schlange» oder «Auch die Vögel sind fort». Seine Vorliebe gilt aber dem episch breiten Gesellschaftsroman, der häufig in Zyklen angelegt ist. Schon sein Erstling, «Memed mein Falke» (1955), bildet den Auftakt einer vierbändigen Folge. Unter den heute rund ein Dutzend im Unionsverlag greifbaren Titeln des Autors befindet sich eine weitere Romanserie, die «Anatolische Trilogie». Auch der neu vorliegende Roman «Salman» aus dem Jahre 1980 ist der erste Band einer Trilogie.

Anatolien 1914-1918 Während des Ersten Weltkrieges fliehen die Bewohner Ostanatoliens zu Tausenden vor den Russen und den plündernden Soldaten des besiegten Osmanenheeres. Dieses Schicksal teilt auch Isamail Aga. Nach einer eineinhalbjährigen Odyssee erreicht er mit seinen Angehörigen die Cukurova, wo sie sich als einzige Kurden in einem turkmenischen Dorf niederlassen. Unterwegs lesen sie einen halbtoten Jungen auf, den sie Salman nennen und den Ismail Aga als Sohn adoptiert. Nach anfänglichen Entbehrungen bringt es der tüchtige und grossherzige Ismail Aga zu beachtlichem Wohlstand. Für den verwöhnten Salman nimmt das Schicksal aber plötzlich eine jähe Wende, als sein Bruder Mustafa geboren wird, dem nun die Zuwendung des stolzen Vaters gilt. Von Bitterkeit und Hass umgetrieben, wird Salman immer mehr zum Aussenseiter.

Eigene Erlebnisse Yasar Kemal hat in diesem Roman die schmerzhafteste Erfahrung seiner Kindheit verarbeitet, allerdings ohne einen eigentlich autobiografischen Roman zu schreiben. Auch seine Eltern waren Kurden, die 1915 aus der Gegend des Van-Sees flohen und in die Cukurova zogen. Und wie Ismail Aga adoptierte der Vater auf dem Weg ein im Niemandsland gestrandetes Kind. Im Alter von viereinhalb Jahren wurde Yasar Kemal Zeuge, wie dieser Adoptivsohn seinen Vater in der Moschee erdolchte. Dieses traumatische Ereignis, das er nie wirklich begreifen konnte und das er lange Zeit in seinem Werk nicht thematisierte, machte ihn bis zum zwölften Lebensjahr zum Stotterer. Angst ist das zentrale Thema des Romans, Angst, die ihre Wurzeln in der individuellen existenziellen Bedrohung hat, aber auch Angst, die in einer grausamen gesellschaftlichen Gewalt begründet ist. Auf den ersten Seiten wird Salman als Wächter des väterlichen Anwesens eingeführt, der einen weiten Schatten in die Gegend wirft. Allein schon der Anblick des schwer bewaffneten, von Patronengurten fast ganz eingehüllten Mannes versetzt die spielenden Kinder, allen voran den kleinen Mustafa, in Angst und Schrecken. Bald erweist sich, dass Salman seinerseits von einer abgrundtiefen Angst gequält wird, dass sein Gehabe als furchtloser Scharfschütze nichts als Fassade ist. Wie es in Salman wirklich aussieht, wird in der Folge eindringlich und auf spannende Weise ergründet. Salmans Verstossung aus dem Mittelpunkt der Familie und seine Befürchtungen, den Vater, sein ein und alles, sogar völlig zu verlieren, bilden den unmittelbaren Hintergrund für seinen Zustand. Durch die oft verwendete Technik der Rückblende wird aber eine noch tiefere Dimension von Salmans Innenwelt erschlossen. Auf der Flucht vom Osten wurde Salmans Gruppe, Anhänger der unter den Kurden verbreiteten Religionsgemeinschaft der Jesiden, von Reitern eingekreist und niedergemetzelt. Der Junge fand zuerst Aufnahme in einer der vielen Kinderhorden, die sich plündernd über die Dörfer hermachten, und schloss sich später einem Rudel verwilderter Hunde an. Aus dieser zweifachen Erfahrung von Gewalt und Angst erklärt sich die unberechenbare Gefühlswelt, die Salman in einem geradezu wahnhaften Zustand zu seiner blutigen und absurden Tat treibt. Prägend für Salman sind auch Gerüchte und Legenden, die im Dorf die Runde machen. In märchenhaften Berichten wird dargeboten, wie der Kurde Ismail Aga zu Reichtum gekommen sei. Immer wieder ist da auch die Rede davon, dass Salman eines Tages den Vater töten wird. Die Art, wie Kemal diese Erzählebene einbringt, verleiht dem Buch eine originelle und reizvolle Note. Hier zeigt sich auch der Einfluss von Kemals Kindheitswelt mit ihren Barden und Epenerzählern.

Historischer Hintergrund Als historischen Hintergrund dieser individuellen Tragödie bringt Kemal das Thema der ethnisch oder religiös motivierten Diskriminierung zur Sprache. Unaufdringlich zeigt der Roman auf, dass in Anatolien über Jahrhunderte eine Vielzahl von Völkern und Kulturen neben- und miteinander lebten. Un der Autor greift nun genau den Zeitpunkt auf, an dem diese multikulturelle Realität den grössten, noch weit blutigeren Schlag versetzt erhielt als durch die Kurdenpolitik der jüngeren Zeit. Je nach Quelle wurden in diesem ersten grossen Genozid des 20. Jahrhunderts zwecks «Osmanisierung des Landes» zwischen 600 000 und über einer Million Armenier massakriert und Hunderttausende vertrieben. Yasar Kemal macht in «Salman» allerdings auch nicht nur annähernd das Ausmass dieses Verbrechens deutlich. Dies ist zumindest literarisch plausibel und entspricht der Wahrnehmung der Figuren. Insgesamt erscheint die Ausrottung der Armenier nur als Teil eines grossen Exodus aus dem Osten, wo osmanische Soldaten Jagd auf kurdische Jesiden, Armenier und Aleviten machen. Direkt mit dem Schicksal der Armenier wird Ismail Aga noch einmal in der Cukurova konfrontiert, wo ihm Höfe von vertriebenen Armeniern angeboten werden.

Faszinierende Landschaft Wie in früheren Büchern entwirft Kemal auch in seiner Zeichnung der Cukorova das Bild einer von Grossgrundbesitzern beherrschten Welt mit all ihren Ungerechtigkeiten. Und einmal mehr ist die breite Ebene zwischen dem Taurusgebirge und dem Mittelmeer die heimliche Hauptfigur. Mit poetischer Eindringlichkeit lässt Kemal die Landschaft seiner Kindheit aufleben, die Weizen- und Baumwollfelder, den Fluss Ceyhan, das von einer Burg überragte Dorf und die unverwechselbare Pflanzen- und Tierwelt.

Das Buch: Yasar Kemal: «Salman». Roman. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff. Unionsverlag, Zürich. 494 Seiten. Fr. 49.-.