Süddeutsche Zeitung, 12.2.2000 Rat von den neuen Brüdern Kandidat Ankara fühlt sich schon als Teil der EU-Familie Von Wolfgang Koydl Istanbul - Jahrelang gab es nichts als Krisen, Krach, Konflikte. Doch seitdem Ankara auf dem letzten EU-Gipfel im Dezember in Helsinki der Status eines Beitrittskandidaten verliehen wurde, scheinen über Nacht alle Probleme zwischen der Europäischen Union und der Türkei verflogen zu sein. Derart entspannt jedenfalls ist das Verhältnis, dass es sich die diplomatische Vertretung der EU in der türkischen Hauptstadt leisten kann, in Urlaub zu gehen: Nur ein Rumpfstab beantwortet das Telefon. Vielleicht wollen die Diplomaten auch nur Kräfte schöpfen. Denn in den kommenden Wochen und Monaten sollen die blumigen Absichtserklärungen und euphorischen Hoffnungsschwüre, die in den vergangenen Wochen allenthalben zu hören waren, allmählich in die Tat umgesetzt werden. Wie alle anderen Kandidaten muss auch die Türkei Schritt für Schritt Recht, Verwaltung, Politik und Wirtschaft auf ihre Kompatibilität mit Europa überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Schon Anfang März steht EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen in Ankara ins Haus. Selbst im türkischen Außenministerium gesteht man ein, dass angesichts der Größe der Probleme eine schier übermenschliche Aufgabe bevorsteht. In weiser Voraussicht hat Außenminister Ismail Cem deshalb schon die Weichen für die personelle Aufstockung seiner Europaabteilung Haus gestellt. Insgesamt umfassen die einzelnen europäischen Rechtsvorschriften und Bestimmungen 31 Sektionen - von der Telekommunikation über die Landwirtschaft bis hin zu demokratischen Grundnormen. Mit anderen Worten: Ein Papierberg Tausender von Seiten muss von der Türkei und der EU-Kommission durchgeackert werden - getrennt und gemeinsam. Die Türken weisen stolz darauf hin, dass sie bereits einen Teil ihrer Hausaufgaben gemacht haben: 18 dieser Sektionen seien schon endgültig überprüft worden, bei weiteren elf habe man mit dem sogenannten Screening-Prozess begonnen. Dabei vergisst man allerdings hinzuzufügen, dass man die komplizierteren Punkte bislang ausgespart hat: die politischen Konditionen, also die Fragen der Menschenrechte, der Behandlung von Minderheiten, der Beziehungen zu den Nachbarn, und die Rolle des Militärs. Aber selbst in diesen Punkten gibt es Fortschritte: Erstmals erhält etwa der Verteidigungsminister das Recht, über Offiziere Disziplinarstrafen zu verhängen - allerdings nur bis zum Rang eines Obersten. Generäle sind weiterhin tabu. Neu ist zudem die türkische Bereitschaft, sich dem Spruch europäischer Institutionen unterzuordnen. Die Aussetzung der Vollstreckung des Todesurteils gegen den kurdischen Parteiführer Abdullah Öcalan war ein Beispiel dafür. Inzwischen hat sogar eine Parlamentskommission ihre Arbeit aufgenommen, die Absatz für Absatz die 1982 von den Putschgenerälen erstellte Verfassung auf ihre Europa-Tauglichkeit überprüfen soll. Als problematisch dürften sich eine überfällige Reform der großzügig subventionierten Landwirtschaft und eine Regelung für die eigentlich jedem EU-Staat garantierte Freizügigkeit von Arbeitskräften geben. Vor allem Berlin möchte um fast jeden Preis verhindern, dass Türken ungehindert auf den deutschen Arbeitsmarkt strömen. Auf alle Fälle hat der Kandidatenstatus, darin ist man sich in Ankara einig, viel erleichtert. "Wir sind nun Teil der europäischen Familie", erklärte ein türkischer Diplomat, "In der Familie lässt man sich vom älteren Bruder Dinge sagen, die einem Fremden nie erlaubt wären." |