junge Welt, 12.2.2000 »Gehört dem Staat im Staat« Dialogkreis Türkei: Hisbollah ist Teil der von Ankara gebildeten Konterguerilla Nachdem in den letzten Wochen in der Türkei eine Reihe von »Folterkammern« der Hisbollah entdeckt wurden und die Sicherheitskräfte gegen Aktivisten der Organisation vorgehen, ist deren Rolle das zur Zeit meist diskutierte Thema im Land. Inzwischen ist selbst in einigen türkische Zeitungen nachzulesen, was offiziellerseits jahrelang als »Propaganda und Lüge der PKK« bezeichnet wurde: Die in den achtziger Jahren gegründete Hisbollah war Teil der türkischen Konterguerilla, mit der die kurdischen Rebellen, aber auch Oppositionelle, Menschenrechtler, Gewerkschafter und Intellektuelle terrorisiert wurden. Zwar gibt es neben der Ansicht, daß die Hisbollah ein zur Bekämpfung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingesetztes Instrument des Staates war, immer noch die in der Türkei weit verbreitete Vorstellung, sie sei eine in erster Linie proiranische islamistisch-fundamentalistische Organisation, die das Land und die türkische Nation zu spalten versucht. Doch im Lauf der letzten Wochen wurde die Vorstellung einer vom Iran gesteuerten Organisation erheblich erschüttert: Selbst in konservativen und nationalistischen Zeitungen wird offen spekuliert, daß die Vielzahl der nun »entdeckten« Folterkammern, natürlich auch die große Zahl der verschleppten, gefolterten und ermordeten Menschen, nur deshalb so lange unaufgeklärt bleiben konnte, weil es mindestens ein Wegsehen, oder sogar eine Beteiligung von Angehörigen des Sicherheitsapparats gab. Für Mehmet Sahin, Sprecher des »Dialogkreises: Krieg in der Türkei - Die Zeit ist reif für eine politische Lösung« ist es kein Zufall, daß gegenwärtig in der Türkei gegen die Hisbollah vorgegangen wird. Das Signal an die kurdische Seite laute: »Seid still und mischt euch nicht ein in die Angelegenheiten des Staates. Ihr wolltet Gegenschritte zum Friedensprozeß, also bitte: wir rechnen mit der Hisbollah ab.« Dabei sei es natürlich möglich gewesen, auch schon in der Vergangenheit mit dieser »Mörderbande« abzurechnen, so Sahin, wenn es nur politisch gewünscht gewesen wäre. Aber tatsächlich habe die Organisation in den letzten 15 Jahren eine, aus Sicht des türkischen Staates, wichtige Rolle gespielt: Die Beantwortung der Frage »Hat der türkische Staat eine solche mörderische Bande aufgezogen, um sie gegen Oppositionelle und den kurdischen Widerstand einzusetzen, oder haben »ausländische Mächte« eine solche Organisation gegründet und in der Türkei etabliert, um diese zu schwächen«, sei durch einen kurzen Rückblick möglich: »Der Name Hisbollah«, so Sahin, »fiel erstmals in den 80er Jahren. Bekannt wurde sie in den 90er Jahren, als täglich auf den Straßen von Diyarbakir, Batman und Silvan Dutzende Menschen am hellichten Tag vor aller Augen bestialisch getötet wurden - durch Axthiebe auf den Kopf oder mit einem Schuß in den Hinterkopf.« Diese Vorkommnisse gab es vor allem in den von insgesamt über 300 000 Sicherheitskräften - Armee-, Gendarmerie- und Polizeiangehörigen - belagerten Städten Kurdistans. »Der Staat, der zehn- bis 15jährige Zeitungsverkäufer, Menschenrechtler und Gewerkschafter verfolgte und 85 Prozent der Bevölkerung registriert hatte, der also über alles Bescheid wußte«, gebe zwar vor, über Täter und Hintermänner nichts gewußt zu haben, aber das sei einfach absurd. Denn die Rede sei nicht »von Dutzenden oder Hunderten von Opfern, sondern von Tausenden. Einige sagen, daß die Zahl der Opfer bei über 2 000 liege, andere hingegen sprechen von noch mehr Opfern. Bedenkt man, daß es über 10 000 politisch motivierte und unaufgeklärte Morde im Ausnahmezustandsgebiet gegeben hat, wird das Ausmaß dieser Grausamkeiten deutlich. Zielobjekte dieser Bande waren fast ausschließlich Kurden und ihre Operationsgebiete waren bis vor wenigen Monaten die kurdischen Städte.« Die Frage, wer hinter der Hisbollah steckt, könne nun wenigstens in Ansätzen beantwortet werden. Auch für den Dialogkreis sind es dieselben, die auch hinter dem NATO- Geheimbund Gladio und den türkischen Paramilitärs der JITEM als Bestandteile der Konterguerilla und dem Susurluk- Skandal stehen. Die Hisbollah sei, so Sahin abschließend, so etwas wie ein »uneheliches Kind« des türkischen Staates, der sie im Sumpf des Krieges in Kurdistan gezeugt hat. Die Hisbollah sei also die kleine Schwester der paramilitärischen Organisationen. »Ihre Väter sitzen im innersten Zentrum des Staates, oder anders gesagt im >Staat im Staate<, dem Nationalen Sicherheitsrat«. Werde nicht auch gegen diesen Apparat vorgegangen, könne man die Verbrechen der Hisbollah nicht aufklären. Thomas Klein |