Neue Züricher Zeitung, 15. Februar 2000 Aufarbeitung des türkischen Kurdenkonflikts Positive Wirkung der mässigenden Aufrufe Öcalans Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) hat bei ihrem letzten Kongress im Nordirak eine radikale Wende vollzogen und den bewaffneten Kampf für beendet erklärt. Gleichzeitig häufen sich in der Türkei die Meldungen über die düsteren Machenschaften des Staates im schmutzigen Krieg gegen die Kurden. Bahnt sich ein Jahr nach der Festnahme Öcalans in beiden Lagern eine Aufarbeitung der jüngsten blutigen Vergangenheit an? it. Istanbul, 14. Februar Der Kurswandel der Kurdischen Arbeiterpartei, der an einem ausserordentlichen Parteitag beschlossen wurde, hat wegen seiner Radikalität viele Kurden in der Türkei verwirrt. In einer Höhle in den Bergen des Nordiraks haben, wie bereits kurz gemeldet, 286 Delegierte der PKK und 600 Parteikader zwischen dem 2. und dem 23. Januar beschlossen, den bewaffneten Kampf gegen die Türkei einzustellen und die PKK in eine politische Partei umzuwandeln. Aus den Parteistatuten wurde das Wort Kurdistan gestrichen. Damit sollte deutlich werden, dass die Kurden nicht länger einen kurdischen Staat auf dem Territorium der Türkei fordern. Ferner wurden aus der Parteiflagge Hammer und Sichel entfernt. Der Dirigent von Imrali Die Modernisierung der Partei wurde auch mit der Wahl von zwei Frauen in den neunköpfigen Parteivorsitz unterstrichen. Auf der PKK-Flagge erinnert lediglich noch die Sonne an alte Zeiten. Laut einer mesopotamischen Legende sind die Kurden Söhne der Sonne. Damit wird signalisiert, dass die PKK vor allem eine Partei der Kurden ist. Abdullah Öcalan wurde am Kongress in seiner Funktion als Parteivorsitzender bestätigt. Der PKK nahestehende Medien sprachen von einer Wiedergeburt der Partei. Am 15. Februar des vergangenen Jahres ist Öcalan unter nach wie vor unklaren Umständen aus der griechischen Botschaft in Nairobi abgereist und auf dem Weg zum Flughafen entführt und danach in die Türkei verschleppt worden. Zuvor hatte er aus seinem Hauptquartier in Damaskus während 15 Jahren den kostspieligsten kurdischen Aufstand in der Geschichte der Türkei dirigiert. Seit seiner Überführung in die Türkei sitzt Öcalan als einziger Gefangener auf der kleinen Insel Imrali im Marmarameer in Isolationshaft. In seiner Zelle ist dem wegen Hochverrats zum Tode verurteilten Kurdenführer ein kleines Radio gestattet. Er erhält auch täglich türkische Zeitungen, aus denen allerdings Berichte über die Kurdenfrage zuvor entfernt werden. Trotz dieser Abschottung dirigiert Öcalan die Entwicklung seiner Partei. Imrali habe die Funktion von Damaskus übernommen, wettern bereits zahlreiche türkische Nationalisten und fordern eine stärkere Isolierung des Gefangenen. Die Anwälte als Briefträger Öcalans Kontakte zur Aussenwelt wurden durch seine Anwälte hergestellt. Bis vor einem Monat hatten sie die Erlaubnis, den Kurdenführer zweimal pro Woche zu besuchen. Öcalan nutzte diese Gelegenheiten, um ihnen schriftliche Erklärungen zu politischen Fragen zu überreichen, welche die Anwälte ihrerseits an die Öffentlichkeit weiterleiteten. Am 12. Januar hatte die türkische Regierung beschlossen, im Fall Öcalan auf die Urteilssprechung des Europäischen Gerichtshofs zu warten. Der Beschluss war der Regierungskoalition äusserst schwer gefallen, da besonders die Nationalisten den Rebellenführer am liebsten sofort hingerichtet hätten. Der mitteilungsfreudige Öcalan glaubte jedoch auch diesen Beschluss aus seiner Zelle heraus kommentieren zu müssen und sprach via seine Anwälte von einem richtigen Schritt zur weiteren Harmonisierung der türkischen und der europäischen Gesetzgebung. Damit überschritt er die Toleranzgrenze der Regierung, und sie verhängte am 14. Januar ein Äusserungsverbot gegen ihn. Er werde es niemals zulassen, dass Imrali zu einem politischen Podium für den Terroristenführer werde, erklärte der Regierungschef Ecevit. Das Justizministerium drohte Öcalans Anwälten mit Disziplinarmassnahmen, wenn sie weiterhin als Sprecher Öcalans fungierten. Auch der Presse wurden Konsequenzen im Falle der Publikation von Äusserungen Öcalans angedroht. Die Anwaltsbesuche wurden auf einen Wochenrhythmus reduziert. Ungebrochene Moral Die Moral des Kurdenführers sei trotz den jüngsten Restriktionen seiner Redefreiheit gut, sagt sein Anwalt Irfan Dündar im Gespräch. Sein Mandat sei davon überzeugt, dass die türkische Kurdenfrage einzig im Rahmen einer demokratischen Republik gelöst werden könne; der einsetzende Demokratisierungsprozess sei ihm nicht entgangen. Seinen Optimismus führe Öcalan darauf zurück, dass er überhaupt noch am Leben sei. In den vergangenen zwei Jahrhunderten hätten in Anatolien 28 kurdische Aufstände stattgefunden. Alle hätten mit einer blutigen Niederlage der Aufständischen und dem Tod der jeweiligen Anführer geendet. Die PKK sei zwar militärisch geschwächt, aber keineswegs geschlagen. Diese Meinung teilen auch Öcalans Feldkommandanten. Die PKK habe die türkische Regierung mehrmals aufgefordert, eine Generalamnestie zu erlassen, um die Rückkehr der Kämpfer in die Heimat zu ermöglichen, erklärte Abdullah Öcalans Bruder Osman nach dem Parteitag gegenüber dem kurdischen Fernsehsender Medya-TV. Doch Ankara erwarte offensichtlich von den Kämpfern ein entwürdigendes Reuebekenntnis und habe die offiziell in die Türkei zurückgekehrten PKK-Delegationen sofort inhaftieren lassen. Die Partei habe ferner europäische Regierungen bisher erfolglos darum gebeten, den Kämpfern politisches Asyl zu gewähren, um damit eine Entwaffnung der Truppen zu ermöglichen. Seine rund 10 000 Kämpfer, neuerdings als Volksverteidigungsmacht bezeichnet, hätten demnach keine andere Wahl, als weiterhin in der nordirakischen Grenzregion auszuharren. Von seiten der türkischen Armee wird die Anzahl der Bewaffneten halb so hoch eingeschätzt. Verbreite Kriegsmüdigkeit Öcalans Festnahme vor einem Jahr hatte unter den türkischen Nationalisten zunächst einen Freudentaumel ausgelöst und sie in ihrer Ansicht bestärkt, die kurdischen Separatisten endgültig besiegt zu haben. Viele türkische Kurden glaubten hingegen, erneut eine bittere Niederlage eingesteckt zu haben. Die Bilder Öcalans, in Ketten gelegt und die Augen verbunden, vor einer riesigen türkischen Flagge, hatten auch bei gemässigten Kurden ein Gefühl der Entwürdigung hinterlassen. Nur ein Jahr später haben sich die Umstände grundlegend verändert. Die türkische Regierung steht unter starkem aussenpolitischem Druck, die Todesstrafe gegen den Staatsfeind Nummer eins nicht zu vollstrecken. Eine Hinrichtung würde die Beziehungen zur Europäischen Union ernsthaft gefährden und gleichzeitig den Guerillakrieg vermutlich neu entfachen. Die türkische Gesellschaft aber, Türken und Kurden gleichermassen, haben den Krieg in Südostanatolien satt. In diesem aussichtslosen Kampf kamen unzählige junge Kurden und Türken ums Leben, Tausende von Dörfern und Siedlungen wurden zerstört, und die Wirtschaft im Südosten ist ruiniert. Viele Kurden scheinen daher Öcalans Kurswechsel zu befürworten, weil für sie damit die Hoffnung auf ein ganz normales, bürgerliches Leben nähergerückt ist. Zerbröckelnde Staatsdoktrin Nach 15 Jahren des Kriegs ist auch in der türkischen Öffentlichkeit die kemalistische Staatsräson, wonach es in der Türkei nur eine Nation - die türkische - gebe, langsam zerbröckelt. Diese Erkenntnis wächst auch darum, weil seit Wochen fast täglich neue, grauenerregende Einzelheiten bekanntwerden, mit welch düsteren Machenschaften staatsnahe Kräfte am schmutzigen Krieg beteiligt waren. Nach dem Skandal des türkischen Hizbullah, der im Auftrag staatlicher Stellen im kurdischen Südosten jahrelang mordete, lässt ein neuer Fall die Öffentlichkeit aufhorchen. In der vergangenen Woche hat der ehemalige Gouverneur der kurdischen Provinz Batman zugegeben, dass er 1994 eine 1000 Mann umfassende Miliz gegründet und mit Waffen des Staates ausgerüstet hatte, um «Staatsfeinde» auszuschalten. Der Prozess der Vergangenheitsbewältigung ist in vollem Gang. Türken und Kurden hegen die gemeinsame Hoffnung, dass die Annäherung der Türkei an die EU die friedliche Lösung der Kurdenfrage herbeiführen könnte und ein jahrelanger Albtraum endlich zu Ende geht. |