Süddeutsche Zeitung, 21.2.2000 Teheran: Das Volk stimmt für die Gemäßigten Ein Parlament als Reformhaus Warum die Iraner mit der Abwahl der alten Mächte viele neue Fragen aufgeworfen haben Von Rudolph Chimelli Teheran, 20. Februar - "Es ist genug Reform für alle da", ruft lachend der junge Mann am Ende der langen Warteschlange. Jeder unter den Vorübergehenden versteht die Anspielung, denn normalerweise bilden sich Schlangen nur vor jenen Geschäften, in denen billige staatlich subventionierte Lebensmittel verkauft werden. Diesmal jedoch geht es um eine andere Mangelware in der gerade 21 Jahre alten Islamischen Republik Iran: politische Veränderung. Es ist schon fast acht Uhr abends, und noch immer stellen sich auf dem Trottoir vor der Amir-Moschee Menschen an, die bei der Wahl des neuen Parlaments mitbestimmen wollen, Männer links, Frauen rechts. An der Fassade vor dem Eingang sind Ketten von roten, gelben, blauen und weißen Glühbirnen aufgezogen. Wegen des Andrangs musste die Öffnung der Wahllokale um zwei Stunden verlängert werden. In der Amir-Moschee wurden genau vor einem Jahr Trauerfeiern für jene dissidenten Intellektuellen gehalten, die von Geheimdienstagenten ermordet worden waren, um die Reformbewegung einzuschüchtern. Nur wenige hundert Meter entfernt liegt das Schariati-Krankenhaus. Dort sind nach den Unruhen des vergangenen Sommers viele Studenten behandelt worden, die eifrig schlagende Polizisten im Auftrag der konservativen Fraktion des Regimes übel zugerichtet hatten. Hätten sich die Anhänger des Reformpräsidenten Mohamed Chatami damals provozieren lassen, die jetzige Wahl zur Madschlis hätte kaum so frei, so friedlich und mit einer Rekordbeteiligung von rund 80 Prozent stattfinden können. Fast 48 Stunden nach Schließung der Wahllokale wird weiter gezählt. Bis das offizielle Ergebnis vorliegt, könnten noch Tage vergehen. Man kennt hier bisher nicht im Einzelnen die Namen aller Sieger und Verlierer. Aber man weiß, welche Seite gewonnen hat: die Koalition von 18 politischen Gruppen, die den Präsidenten unterstützt. Sie hat sich nach dem 23. Mai des Jahres 1997 benannt, dem Tag, an dem Chatami zur Verblüffung der Konservativen mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen zum Staatschef gewählt wurde. Nach dem iranischen Kalender beruft sich das Bündnis auf den "Dowom Chordad". Über die Hälfte der Stimmen war am Sonntag ausgewertet. Für 176 der 290 Parlamentssitze ist die Entscheidung nach inoffiziellen Zwischenergebnissen im ersten Wahlgang gefallen. Die Indizien scheinen eindeutig. Die Dowom Chordadi bewegen sich auf eine absolute Mehrheit der Sitze zu. Sogar die Zwei-Drittel-Mehrheit könnte für sie erreichbar sein. Lektion für Rafsandschani In der Hauptstadt Teheran, die 30 Abgeordnete entsendet, hat der 40-jährige Arzt und Bruder des Präsidenten, Mohamed Resa Chatami, bei weitem die meisten Stimmen erhalten. Er ist der Führer der "Islamischen Beteiligungsfront", einer der wichtigsten Formationen des Bündnisses. Sein Erfolg, der freilich keine Überraschung mehr ist, wurde iranischen Journalisten durch ihre Antennen im Innenministerium bestätigt. Der Minister selber, Abdolwahed Mussawi-Lari, will auf seiner Pressekonferenz den offiziellen Ergebnissen nicht vorgreifen. Auch die folgenden Plätze an der Spitze haben die Teheraner Wähler führenden Reformkandidaten zugewiesen. Der bis vor kurzem völlig unbekannte Ali Resa Nuri gelangte an die zweite Stelle - nur weil er der Bruder des dissidenten Klerikers und ehemaligen Innenministers Abdallah Nuri ist, der wegen seiner Kritik am Regime zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Dritte Favoritin der Teheraner Wähler ist Dschamileh Kadiwar. Sie ist eine der führenden Feministinnen des Landes und die Frau des liberalen Kulturministers Ataollah Mohadscherani. Auch ihr Bruder, ein bekannter Reformtheologe, ist derzeit im Gefängnis. Der dissidente Bruder des geistlichen Führers, Hadi Chamenei, steht laut Auszählung auf Platz vier. Eine hohe Stimmenzahl erreichte auch Ahmed Bukani, der sich als ehemaliger Vize-Kulturminister einen guten Namen bei der Befreiung der Presse machte. Sogar in der Theologenstadt Ghom siegte ein Reformer. Für Ali Akbar Haschemi-Rafsandschani, zweimal Staatspräsident und zweimal Parlamentsvorsitzender, ist das Wahlergebnis hingegen bittere Medizin. Als Symbolfigur der beiden ersten Jahrzehnte des Systems haben ihn die Teheraner auf die 21. Stelle der 30 Mandate verwiesen. Dabei hatte Rafsandschani, der als Mann des Ausgleichs Stimmen rechts und links einfangen wollte, seine Kampagne nicht immer mit sanften Tönen geführt. So beschuldigte er "einige dieser Herren, die sich als Reformer und Liberale tarnen", sie hätten durch ihren Extremismus früher große Probleme geschaffen. "Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich gelitten habe, als ich versuchte, in den frühen Jahren der Revolution ihre Exzesse zu beschneiden - Hinrichtungen, Prozesse, Beschlagnahme von Vermögen", sagte er in einem Interview. Umgekehrt warf der Reform-Journalist Akbar Gandschi dem ehemaligen Präsidenten vor, er sei für den Tod von vielen tausend Soldaten verantwortlich. Als die Iraner 1982 ihre vorübergehend von den Irakern besetzten Gebiete befreit hatten und über diplomatische Kanäle Frieden angeboten wurde, habe Rafsandschani den Revolutionsführer Chomeini überredet, den Krieg fortzusetzen. Annäherung an die USA? Zur Unperson ist Rafsandschani durch die Niederlage noch nicht geworden. Die Konservativen hatten ihn zu ihrem Spitzenkandidaten gemacht. Viele halten auch jetzt zu ihm. Der rechte Abgeordnete Hassan Ghafurifard erinnert daran, dass Rafsandschani, auch als er zum ersten Mal Sprecher der Madschlis wurde, nicht unter den ersten zehn Gewählten war. "Die Madschlis braucht einen Mann mit Erfahrung und Rückhalt beim Volk als Vorsitzenden. Rafsandschani sollte wieder auf diesen Posten kommen." Doch selbst wenn sie das Parlament verlieren, behalten die Konservativen viele Machtpositionen, darunter die Streitkräfte, die Polizei und einen Teil des Staatsapparates. Eine Art geistliches Verfassungsgericht wacht weiter darüber, dass alle Gesetze, die das Parlament verabschiedet, mit den Grundsätzen des Islam übereinstimmen. Der geistliche Führer der Nation, Ayatollah Ali Chamenei, ist der Schutzherr der Konservativen und praktisch unabsetzbar. Die Dowom Chordadi haben durch die Wahl bewiesen, dass sie viele Millionen Anhänger mobilisieren können. Ihr harter Kern besteht indes aus einer Gruppe von intellektuellen Politikern, Klerikern, Journalisten, Professoren und Künstlern, die zusammen nicht mehr als einige hundert sein dürften. Gestalten wie der Kulturminister, der Verleger Saied Hadscharian, als Organisator der Beteiligungsfront, oder Dschamileh Kadiwar sind die perfekte Ausprägung dieser Gesinnungsgemeinschaft. Dschamileh Kadiwar erregte in ihren Kreisen erstmals Aufsehen, als sie in ihrer Heimatstadt Schiras als eine der besten höheren Schülerinnen des ganzen Landes ausgezeichnet wurde. Sie konnte den Preis nicht annehmen, denn sie hätte für die Zeremonie ihr Kopftuch ablegen müssen: Es war zur Zeit des Schahs. Sogleich nach der Wahl beglückwünscht Chamenei die Iraner dazu, dass sie durch ihre Wahlbeteiligung das bestehende System bestätigt hätten. "Schreiben Sie, dass das nicht stimmt", sagt energisch ein junges Mädchen inmitten einer Gruppe zustimmender Studentinnen. "Wir sind zur Wahl gegangen, weil wir sagen wollten, dass wir das System ablehnen." An den Zeitungskiosken drängen sich die Menschen noch mehr als sonst. Seit Chatami die Zügel gelockert hat, erscheinen tausend Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 2,75 Millionen. Ein Kunde kauft acht verschiedene Blätter, der nächste streckt eine Münze vor, er will bloß eine Zigarette. Im staatlichen Rundfunk leitet Madschid Daneschwar eine Riege, die unter Nutzung ausländischer Medien täglich ein Informationsbulletin für die Großen des Regimes anfertigt. Immer galt er als Rechter. Als der Teheraner Reform-Bürgermeister Karbastschi eingesperrt wurde, trat Daneschwar gegen ihn als scharfer Kommentator hervor. Nun erkennt er die Zeichen der neuen Zeit. "Alle Hochstehenden glauben, dass der Wunsch des Volkes respektiert werden muss. Chomeini hat es geglaubt, Chamenei glaubt es", doziert er. Der geistliche Führer sei vom Wahlergebnis begeistert, "unabhängig von dessen Ergebnis". Vor allem aber sieht der elegante Meinungsmacher eine Chance, dass die Reformer bald das Verhältnis zu den USA reparieren werden. "Schon zehn Abgeordnete können in einem Gesetzesantrag fordern, die Beziehungen wieder aufzunehmen." Weil sie genau das befürchteten, hätten viele Rechte der Wahl mit Sorge entgegengesehen. Außenpolitik spielte während der Kampagne kaum eine Rolle. Plötzlich reden alle davon. "Ja, ich glaube, dass wir in Zukunft normale Beziehungen zu den USA haben werden", sagt der jüngere Chatami. Über den Zeitpunkt will er sich nicht äußern. Der jüngere Nuri will ein Referendum über die Herstellung der Beziehungen zu den USA. Denn: "Die vorige Generation hatte das Recht, diese Beziehungen abzubrechen. Unsere Generation hat auch ein Recht auf ihre Ideen." Und Burkani ist der Ansicht, dass die Zeiten sich geändert hätten und mit ihnen die Iraner. Eslahat (Reformen) ist das Zauberwort, das für den Augenblick die Anhänger des Präsidenten eint. Doch es beschreibt mehr einen Seelenzustand als ein politisches Aktionsprogramm. Denn was Reform ist, davon bestehen ganz unterschiedliche Vorstellungen. Nur in beschwörenden Formeln wird von der galoppierenden Arbeitslosigkeit gesprochen. Von Inflation und Drogen fast nie. Ein Wirtschaftsprogramm haben die Dowom Chordadi nicht parat. In ihrer Koalition gibt es die "Organisation der islamischen Mudschahedin", die unter Führung vormals mächtiger Industrieminister staatliche Eingriffe in die Wirtschaft sowie Entwicklungsplanung fordern. Es gibt unter den 18 Gruppen die "Islamische Arbeiterpartei", die vor allem die Rechte der Werktätigen schützen möchte. Und die Beteiligungsfront hat gleichfalls ihre Sozialdemokraten und Sozialisten. Wie sollte die künftige Madschlis die Privatisierung der Staatswirtschaft oder die dringend notwendige Entflechtung des Wirtschaftsimperiums der religiösen Stiftungen anfassen? Laut wird beklagt, dass viele Reformprojekte der Regierung in der Vergangenheit am Widerstand der Konservativen scheiterten. Nur unter vorgehaltener Hand wird dagegen eingestanden, dass sich andere Pläne Chatamis bereits an Differenzen innerhalb des Kabinetts totliefen. Tote bei Krawallen Der Wahlkampf war kurz und bisweilen heftig. Zwischenfälle gab es nach der Auszählung in Schusch und Schadgan, zwei Städten der Erdölprovinz Chusistan. In beiden Fällen protestierten Wähler dagegen, dass ein Kandidat sich durch Stimmenkauf durchgesetzt hatte, in einem Fall ein Konservativer, im anderen ein Reformer. Acht Menschen kamen bei Krawallen ums Leben. Originalität leistete sich nur der Abgeordnete Ismail Tatari, einst Gefolgsmann Rafsandschanis, heute Reformer. "Hier darf man nicht mit dem Auto durchfahren", konstatierte er angesichts seines Wahlkreises Kermanschah im Westen des Landes. Tatari legte ein Kurdengewand an, bestieg ein Pferd und ritt mit wallendem Bart winkend durch die Stadt. Unter Ovationen hielt er im Tal seine einzige Rede. Die begeisterten Kurden wählten Tatari mit großer Mehrheit am ersten Abstimmungsfreitag. |