Süddeutsche Zeitung, 22.2.2000 Meinungsseite Eine Frage der Perspektive Man stelle sich vor, Bundespräsident Johannes Rau machte sich Gedanken über die gut drei Millionen Türken in Deutschland und würde empfehlen, erst einmal zu versuchen, diese "Andersrassigen" zu assimilieren, bevor man ihnen ermöglicht, die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Zunächst einmal würde es der deutschen Öffentlichkeit den Atem verschlagen. Aber nur kurz. Dann würde ein Sturm der Entrüstung aufbrausen, in Deutschland und noch mehr in der Türkei, wo man sich stets rührend um das Schicksal der ansonsten herzlich verachteten Landsleute in Almanya sorgt. In der Türkei gab es jedoch keinen Aufschrei, als Präsident Süleyman Demirel soeben über die Assimilierung der kurdischen Rasse sprach - wobei er aber das vermutlich als schmutzig empfundene Wort "Kurde" nicht in den Mund nahm. Wenn allerdings die Assimilierung fehlschlage, sagte er dem Chefredakteur des Massenblattes Hürriyet, dürfe man diese Rasse aber dennoch nicht länger von der Staatsbürgerschaft ausschließen. Demirel erläuterte seine eigenwilligen Rassetheorien im Zusammenhang mit Fragen nach der willkürlichen Verhaftung dreier demokratisch legitimierter kurdischer Bürgermeister aus dem Südosten der Türkei. Damit aber schlug sich der Staatschef auf die Seite jener dunklen Mächte im Lande, welche die Uhr zurückdrehen wollen und es der Türkei nicht gönnen, ihren Platz als selbstbewusster, moderner Staat in der Völkerfamilie einzunehmen. Demirel braucht die Unterstützung dieser Mächte, wenn er im Mai für eine zweite Amtszeit wiedergewählt werden will. Vorher besucht noch Johannes Rau die Türkei. Er könnte Demirel fragen, was er sich unter einer erfolgreichen Assimilierung vorstellt. ky.
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