Frankfurter Rundschau, 22.2.2000

Leitartikel

Volkswille ohne Macht

Die religiösen, reaktionären Strukturen in Iran sind noch nicht überwunden

Von Karl Grobe

Die iranische Parlamentswahl ist zu einem Plebiszit für die Veränderung geworden. Die Wahlbeteiligung war höher als erwartet. Die konservativ-schiitische Orthodoxie ist geradezu abgeschmettert worden. Die vereinfachend "Reformer" genannten Kandidaten haben sich durchgesetzt; was wichtig ist: auch fern der Metropole Teheran und in manchen Hochburgen der Konservativen. Die Kräfte, die sich in Erinnerung an den Wahlsieg von Präsident Mohammed Khatami am 23. Mai 1997 "Bewegung des 2. Chordad" nennen - nach dem iranischen Kalender -, können nach den Stichwahlen auf eine Zweidrittel-Mehrheit kommen. Wäre Iran eine parlamentarische Demokratie, so wäre die Erdrutsch-Metapher angebracht. Angesichts der politischen Struktur des Landes ist das Wahlergebnis noch nicht viel mehr als eine Abbildung der Volksmeinung, die sich vom Bisherigen abgewandt hat.

Diesen Volkswillen soll, entsprechend der Verfassung, die Madschlis widerspiegeln, aber sie kann ihn durchaus nicht in Veränderungen umsetzen, die an die Grundsätze der Islamischen Republik rühren. Keiner konnte Kandidat werden, dessen Verfassungstreue nicht von übergeordneten geistlichen Instanzen gründlich überprüft worden war; keiner kann das "Regime des Gesetzesgelehrten" in Frage stellen, die beherrschende Position des Khomeiny-Erben Ayatollah Sayed Ali Khamenei ist durch keine Wahl zu erschüttern. Dass sie auf das Schiedsrichteramt in religiös zu entscheidenden Fragen reduziert würde, könnte allenfalls das Ergebnis von Machtkämpfen innerhalb der "Strukturen" sein, die weit über Wahlprozeduren hinausgehen.

Der politische Islam hat in den vergangenen 22 Jahren in unterschiedlicher Weise gewirkt. Er hat befeuert, organisiert und mobilisiert, als das Volk sich gegen die entfremdende Diktatur des Pahlevi-Schahs auflehnte; er hat Träume zu Massenwirkung gebracht, die kein Demagoge und kein sachlich überzeugender Politiker außerhalb der Grenzen religiösen Denkens und Fühlens hätte auch nur ahnen können. Die Macht des Klerus über die Verelendeten in den Teheraner Slums, über die Mehrheit des Volkes hat unendlich viel mit dieser religiösen Bindung zu tun; sie hat, bis in die Gegenwart hinein, wie eine Droge gewirkt.

Der schiitische Klerus hat die revolutionäre Bewegung rasch usurpiert, danach institutionell gezähmt. Die religiöse Verbrämung und Vermarktung der konkreten Politik wirkte nunmehr sedierend: Der Befreiungstraum verflog, für zwei Jahrzehnte beinahe, sozialer Tiefschlaf folgte, aus dem das Volk nun erwacht.

Es sind unter der Diktatur und ihr zum Trotz soziale Veränderungen geschehen, die sich am 2. Chordad und nun am 18. Februar in Wählervoten niederschlugen. Dabei hat der Studentenprotest des Jahres 1999 eine ganz wichtige Rolle gespielt. Nicht nur die Entfernung eines Teils der Intelligenzschicht von den konservativen Mächtigen hat er angezeigt, sondern auch das Aufkommen von Elementen der Zivilgesellschaft. Er hat vor allem das Drängen auf Gedankenfreiheit jener neuen Schichten ausgedrückt - und verstärkt -, die nicht mehr zwischen der von oben aufgezwungenen "westlichen" Modernisierung der Pahlevi-Diktatur und der "nationalen" Machtausübung reaktionärer Kleriker zerrissen waren, sondern sich von beiden schon deshalb emanzipierten, weil das erste für sie allmählich zur fernen Geschichte, das andere zur bedrückenden Gegenwart geworden war.

Die iranische Gesellschaft ist beinahe um Jahrhunderte moderner als die Denkwelt der Reaktionäre. Sie ist darum noch längst nicht "westlich" oder gar "amerikanisch"; und die demagogische Behauptung der Reaktionäre, der Große Satan aus Washington habe überall seine Finger im Teig, ist zur Lachnummer geworden.

Die soziale Basis dieser geistigen und seit dem Wahlakt politischen Veränderung lässt sich mit dem Instrumentarium politisch-gesellschaftlicher Begriffe aus der Zeit des bürgerlich-demokratischen Aufstieges in Europa nicht hinreichend genau beschreiben. Weder eine Bourgeoisie im europäischen Sinne noch eine organisierte, sie vorantreibende und in Frage stellende organisierte Arbeiterklasse dieser Art gibt es. Analogieschlüsse gehen deshalb ebenso fehl wie der frühe Jubel derjenigen, die nun in Iran die Demokratie siegen sehen. Was das Wahlresultat zeigt, ist vielmehr der harte Widerspruch zwischen dem Wollen und Fühlen, den Wünschen und Träumen der iranischen Volksmehrheit und den iranisch-religiösen, reaktionären Strukturen.

Und die sind noch mächtig. An ihnen kann zerschellen, was sich als Wunsch nach Veränderung manifestiert; denn der ist noch aus dem Negativen verstanden, aus der Ablehnung, und entbehrt auch infolge der Vor-Auswahlprozesse einer positiven Programmatik. Es ist noch eine Veränderung innerhalb des Systems. Dennoch können die Inhaber der transzendental abgeleiteten Macht nicht mehr weitermachen wie bisher. Versuchen sie es aber, so ist freilich der Umschlag in eine radikale, grundsätzliche Bewegung, die alles stürzen will und wird, nur noch eine Zeitfrage.